Das Papier des Bundeskriminalamts (BKA) umfasst 16 Seiten und trägt den Stempel „VS – nur für den Dienstgebrauch“. Weil das Dokument unter keinen Umständen öffentlich werden soll, möchte es das BKA selbst für die interne Internetplattform „Extrapol.de“ der Polizei sperren. Angesichts der Brisanz ist die Geheimniskrämerei verständlich. Denn in dem Papier, das WELT ONLINE vorliegt, beklagt das BKA die eigene Ohnmacht.
Es listet zahlreiche ungelöste Kriminalfälle auf: Morde an einem Polizisten und einem Mitglied der Mafia, angedrohte Sprengstoffanschläge, die Mitgliedschaft in Terrorgruppen und Kinderpornografie im Internet. Der Grund ist jedes Mal der gleiche: Die Ermittler bekamen keinen Zugriff auf Telefon- und Internetverbindungsdaten der Täter. Schuld daran ist die Politik, die in dem Bericht allerdings mit keiner Silbe erwähnt wird.
Vordergründig ist das am 2. März ergangene Vorratsdaten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts verantwortlich für die Misere. Die Karlsruher Richter verboten die „anlasslose“ Speicherung der Daten sämtlicher Nutzer elektronischer Telekommunikationsdienste. Die Branche war daraufhin verpflichtet worden, die bislang gesammelten Daten sofort zu löschen. Liberale Medien feierten dies als eine Bestätigung des Grundrechtes auf Datenschutz.
Das Gericht untersagte die sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung aber nicht grundsätzlich; also hätte die Bundesregierung längst eine verfassungskonforme Lösung finden können. Doch seit einem Dreivierteljahr passiert nichts, weil ein Streit zwischen dem Justiz- und Innenministerium eine Neuregelung blockiert.
Bei einem Treffen der Minister Thomas de Maizière und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, der Staatssekretäre sowie der Innen- und Rechtsexperten am vergangenen Montag im Berliner Reichstag gab man sich gegenseitig die Schuld am Stillstand auf dem Feld der inneren Sicherheit. „Wenn später ein Buch darüber geschrieben wird, warum die schwarz-gelbe Koalition geplatzt ist, dann wird diesem Abend ein wichtiges Kapitel gewidmet sein“, sagte ein Teilnehmer der CDU.
Das BKA-Geheimpapier dürfte jetzt für weitere heftige Debatten innerhalb der Regierungskoalition sorgen. Die Ermittler wollten Daten bei deutschen und internationalen Telekommunikationsfirmen abfragen. Doch die Unternehmen verwehrten ihnen die Auskunft mit der Folge, dass laut der BKA-Expertise Straftaten bei 49 Anschlüssen „nicht“, bei 133 Anschlüssen „unvollständig“ und bei 211 Anschlüssen „wesentlich erschwert oder erst zu einem späteren Zeitpunkt“ aufgeklärt werden konnten.
Kritik an den beiden zuständigen Ministern, de Maizière und Leutheusser-Schnarrenberger, wird in dem Bericht nicht geübt. Die Justizministerin hat es überhaupt nicht eilig mit einer gesetzlichen Neuregelung. Schließlich hatte die FDP-Politikerin, damals noch Oppositionelle, 2007 selbst in Karlsruhe gegen das entsprechende Gesetz geklagt. Jetzt würde sie es am liebsten sieben EU-Staaten gleichtun. Länder wie Bulgarien, Luxemburg und Rumänien setzen die Brüsseler Vorgaben für eine rechtskonforme Datenspeicherung schlicht nicht um.
Dennoch bietet sie de Maizière eine Mini-Lösung an, beispielsweise das "Quick-Freeze"-Verfahren. Die Telekommunikationsfirmen müssten dann lediglich bestimmte Daten auf behördliche Anordnung für kurze Zeit vorhalten. Doch das BKA spricht sich gegen eine Speicherung von drei bis sieben Tagen aus, weil dies „nicht annähernd“ den Bedarf der Polizei decken würde. „Selbst in einem noch so engen Zeitfenster von Ereigniszeitpunkt, polizeilicher Kenntnislegung, Prüfung und Auskunftsersuchen sind wenige Tage in der Regel nicht ausreichend“, heißt es in dem Papier.
Im Auftrag des Innenministeriums untersuchte das BKA, wie sich das Vorratsdaten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Praxis auswirkt. Die Ermittler baten im Zeitraum vom 2. März bis zum 16. Juni Telekommunikationsanbieter bei insgesamt 701 Anschlüssen um Auskunft. Davon betrafen 385 den Deliktsbereich Kinderpornografie sowie Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. „Von den insgesamt 701 Anschlüssen sind 147 auf ein Ermittlungsverfahren zurückzuführen, bei welchem die fehlende Vorratsdatenspeicherung ein erhebliches Ermittlungsdefizit darstellte“, heißt es in dem Bericht.
Die 147 Anschlüsse wurden wegen der Ermittlungen für die Expertise nicht berücksichtigt. Das BKA wollte für die restlichen 554 Anschlüsse eine Auskunft erhalten, doch die Telekommunikationsfirmen erteilten diese für 422 Anschlüsse (rund 76 Prozent) nicht. Die Absagen kamen für 374 Internet-Anschlüsse sowie für 48 Telefonfestnetz- und Mobilfunkanschlüsse.
Nach Kenntnis dieser Zahlen verwundert es nicht, dass das BKA in dem Papier für eine Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung plädiert. Dem Bericht zufolge stellt sie in einer Vielzahl der Fälle sowohl bei der Gefahrenabwehr als auch bei der Strafverfolgung „den ersten, sichersten und zugleich effizentesten Ermittlungsansatz“ dar. De Maizière sieht das zwar genauso, wirkt in diesem Konflikt aber machtlos. Der CDU-Politiker dringt auf eine rasche Lösung des Konflikts, kann sich jedoch bisher nicht gegen Leutheusser-Schnarrenberger durchsetzen. Die Union erhöht nun den Druck. „Die derzeitige Schutzlücke muss dringend geschlossen und eine neue Regelung gefunden werden.
Es geht hier schließlich um die Verfolgung von Straftaten und den Schutz der Bürger. Darüber muss sich auch die FDP im Klaren sein“, sagte Innen-Staatssekretär Ole Schröder (CDU) WELTOnline. Der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl wirft Leutheusser-Schnarrenberger Verzögerungstaktik und „schuldhaftes Unterlassen“ vor. Der Bundestagsabgeordnete fordert: „Sie muss unverzüglich ihrer europarechtlichen Verpflichtung zu einer Neuregelung nachkommen.“ Sonst sei die Ministerin persönlich für die „eklatanten Sicherheitslücken“ beim Schutz vor schwerster Kriminalität verantwortlich.
Einige Abgeordnete der Unions-Bundestagsfraktion halten de Maizière allerdings intern vor, dass solche Schutzlücken unter seinem Vorgänger Wolfgang Schäuble (CDU) nicht so lange bestanden hätten. Der Innenminister will vielleicht auch deshalb in dieser Woche zum Angriff blasen. Das BKA-Geheimpapier, das mitten in heftige Auseinandersetzungen innerhalb der schwarz-gelben Regierungskoalition platzt, liefert dafür Munition. Die Gegenspielerin Leutheusser-Schnarrenberger heißt im Haus von de Maizière in Anspielung an einen Bondfilm nur noch „Frau Dr. No“. Denn seit Monaten sagt sie zu den Gesetzesvorhaben ihres Kabinettskollegen meistens Nein.
Teils müsste sie die Vorlagen juristisch ausfertigen, teils lediglich mitzeichnen. Erst jüngst lehnte sie schärfere Sicherheitsgesetze zur Terrorabwehr ab, die de Maiziere „fachlich“ für geboten hielt. Und bei ihr hängt noch viel mehr in der Warteschleife: Geplante gesetzliche Verschärfungen zur Gewalt gegen Polizeibeamte, der Bekämpfung der Kinderpornografie oder die Einführung einer Warndatei gegen den Visums-Missbrauch.
Das Gesprächsklima zwischen den Regierungspartnern soll Innenexperten zufolge mittlerweile „vergiftet“ sein. Viel Zeit für eine Einigung über die Vorratsdatenspeicherung bleibt den Koalitionspartnern nicht. Schon die Wahl in Nordrhein-Westfalen war für die Regierung Anlass genug, in Lethargie zu verfallen. Nun steht der Koalition ein Superwahljahr mit gleich sechs Wahlen bevor. Bereits im März werden die Bürger in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz an die Urne gerufen. Dort wird voraussichtlich auch über die Regierungsfähigkeit der schwarz-gelben Koalition im Bund abgestimmt.