EU-Innenkommissarin Malmström mauert bei Vorratsdatenspeicherung

Es gibt eine neue Stellungnahme der EU-Innenkommissarin Malmström zur Überarbeitung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. Sie antwortete diese Wochen auf fünf Fragen der grünen Europaabgeordneten Rebecca Harms:

1. Ist der Kommission bekannt, dass Bürgerrechts-, Datenschutz- und Menschenrechtsorganisationen ebenso wie Telefonseelsorge- und Notrufvereine, Berufsverbände etwa von Journalisten, Juristen und Ärzten, Gewerkschaften, Verbraucherzentralen und auch Wirtschaftsverbände die Vorratsdatenspeicherung ablehnen?

Der Kommission ist bekannt, welchen Standpunkt die Zivilgesellschaft und die Datenschutzbehörden vertreten, die neben anderen Beteiligten im Zuge der Bewertung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung konsultiert wurden. Die entsprechenden Antworten auf den Fragebogen sind zusammen mit den übrigen Antworten veröffentlicht worden(1).

Gebührende Berücksichtigung fand auch der Bericht der Artikel-29-Datenschutzgruppe, der in der Sitzung vom 13. Juli 2010 angenommen wurde und in dem untersucht wird, inwieweit die Telekommunikations- und Internetunternehmen die Verpflichtungen einhalten, die ihnen aus den einzelstaatlichen Umsetzungsvorschriften zur Richtlinie 2002/58/EG über Datenschutz in der elektronischen Kommunikation und zur Richtlinie über Vorratsdatenspeicherung erwachsen.

2. Liegen der Kommission Erkenntnisse vor, inwiefern sich die Kriminalitäts- oder Aufklärungsrate in Staaten ohne Vorratsdatenspeicherung statistisch signifikant von der Kriminalitäts- oder Aufklärungsrate in Staaten unterscheidet, welche die Richtlinie 2006/24/EG umgesetzt haben?

Die Kommission teilt die Auffassung, dass umfassend zu bewerten ist, welchen Beitrag die Richtlinie über Vorratsdatenspeicherung zur Strafverfolgung leisten kann und ob sich eine Verbindung zwischen den anhand der Richtlinie erlangten Daten und den Erfolgen bei der Strafverfolgung herstellen lässt. Am 27. Juli 2010 wandte sich die Kommission schriftlich an alle Mitgliedstaaten mit der Bitte um Angaben zur Zahl der Verurteilungen, Freisprüche, eingestellten oder ausgesetzten Verfahren, bei denen auf Vorrat gespeicherte Daten abgerufen wurden, sowie zur Zahl der Straftaten, die in den vergangenen sechs Monaten durch einen derartigen Abruf verhindert werden konnten.

Anmerkung: Offensichtlich liegen der Kommission weder Zahlen zu Kriminalitäts- und Aufklärungsrate vor, noch fordert sie solche Zahlen von den EU-Staaten an. Mit anderen Worten ist es der EU-Kommission egal, ob eine Vorratsdatenspeicherung irgend eine Auswirkung auf unsere Sicherheit oder die Aufklärungsrate hat, und ob Staaten Straftaten ohne Vorratsdatenspeicherung sogar wirksamer verfolgen, wie aufgrund der kontraproduktiven Wirkungen nahe liegt.

3. Ist die Kommission der Auffassung, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung mit dem Marper-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 4.12.2008 vereinbar ist?

In dem Urteil in der Rechtssache Marper kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Schluss, dass die unbefristete Speicherung bestimmter sensibler personenbezogener Daten „einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens, der nicht als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig angesehen werden kann“ begründe.

Die Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung verlangt allerdings, dass Daten nur für einen bestimmten Zeitraum (6 bis 24 Monate) gespeichert und danach vernichtet werden; auch dürfen die Daten nicht den Inhalt von Kommunikationen umfassen.

Anmerkung: In dem Urteil heißt es wörtlich: „Zusammenfassend stellt der Gerichtshof fest, dass die generelle und undifferenzierte Befugnis, Fingerabdrücke, Zellproben und DNA-Profile von Personen auf Vorrat zu speichern, die – wie die Beschwerdeführer – einer Straftat verdächtigt, aber nicht verurteilt wurden, keinen fairen Ausgleich zwischen den widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen herstellt und das Vereinigte Königreich jeden Ermessensspielraum in dieser Hinsicht überschritten hat. Folglich ist die Speicherung im Fall der Beschwerdeführer ein unverhältnismäßiger Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens und kann nicht als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden. Angesichts dieses Ergebnisses erübrigt es sich, auf die Kritik der Beschwerdeführer an bestimmten Schutzvorschriften für die Datenspeicherung einzugehen, wie den Zugang zu den fraglichen Daten, der nach ihrer Auffassung zu weit gefasst ist, und den aus ihrer Sicht unzureichenden Schutz gegen Missbrauch oder falschen Gebrauch.“

Es ist hier keine Rede davon, dass der Gerichtshof nur die Speicherdauer als zu lang angesehen hätte, wie es die EU-Kommission annimmt.

4. Der rumänische Verfassungsgerichtshof entschied 2009, dass eine allgemeine Vorratsdatenspeicherung verfassungswidrig ist. Welche Schlüsse zieht die Kommission aus diesem Urteil?

In Erwägungsgrund 22 der Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung heißt es, dass die Grundrechte geachtet und vor allem die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundsätze eingehalten werden, indem insbesondere die volle Wahrung der Grundrechte der Bürger auf Achtung des Privatlebens und ihrer Kommunikation sowie auf Schutz personenbezogener Daten gemäß Artikel 7 und 8 der Charta gewährleistet wird.

Anmerkung: Will uns die Kommission hier weismachen, dass der Gesetzgeber – und nicht die Gerichte – über die Vereinbarkeit seiner Gesetze mit den Menschenrechten entscheidet?

5. Wird die Kommission vorschlagen, die Richtlinie 2006/24/EG als freiwillige Maßnahme auszugestalten, so dass sich Mitgliedstaaten gegen eine Vorratsdatenspeicherung entscheiden („Opt-out-Recht“) und sie die Kommunikationsfreiheit ihrer Bürger wieder voll garantieren können? Wenn nein, warum nicht?

Nach Auffassung der Kommission sollte die Richtlinie von allen Mitgliedstaaten umgesetzt werden. Was die Frage einer fakultativen Anwendung der Richtlinie anbelangt, so ist sich die Kommission darüber im Klaren, dass einige Beteiligte dahin gehende Vorschläge unterbreitet haben.

Auf die Anfrage eines dänischen liberalen Europaabgeordneten antwortet Frau Malmström:

Da die Kommissionen in Kürze (am 15. September) ihre Bewertung der Richtlinie vorlegt, wird sie um Auskunft darüber gebeten, ob sie diese Bewertung dazu nutzen wird, eine Überarbeitung der Richtlinie vorzuschlagen, um die Probleme im Zusammenhang mit dem Datenschutz, dem Schutz der Privatsphäre sowie der Verhältnismäßigkeit zu lösen?

Nach Artikel 14 der Richtlinie 2006/24/EG wird die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Evaluierungsbericht über die Anwendung der Richtlinie und ihre Auswirkungen auf Anbieter und Verbraucher vorlegen, um zu untersuchen, ob es erforderlich ist, die Bestimmungen dieser Richtlinie zu ändern, besonders im Hinblick auf die Liste der Daten in Artikel 5 und die Dauer der Datenspeicherung in Artikel 6. […]

In diesem Zusammenhang wird auch auf die weitere Übereinstimmung mit Grundrechten eingegangen werden.

Anmerkung: Die Kommissarin nimmt hier schon vorweg, dass sie eine Vorratsdatenspeicherung für grundrechtskonform hält.

Was die deutschen und rumänischen Verfassungsgerichte angeht, muss betont werden, dass sie sich mit der Verfassungsmäßigkeit nationaler Umsetzungsgesetze befassten. Ihre Entscheidungen berühren nicht die Gültigkeit der Richtlinie. Die Mitgliedsstaaten brauchen nun verständlicherweise Zeit, um Gesetze zu entwerfen, die sowohl mit der Richtlinie wie auch mit den Vorgaben ihrer Gerichte vereinbar sind.

Kein Wort dazu, dass der Verfassungsgerichtshof Rumäniens jede Vorratsdatenspeicherung als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verworfen hat und sich das Urteil mit der EU-Richtlinie nicht in Einklang bringen lässt.

In einer weiteren Antwort schreibt die EU-Innenkommissarin:

Hinsichtlich der Urteile der Verfassungsgerichte Rumäniens und Deutschlands hat die Kommission die Regierungen dieser Mitgliedstaaten schriftlich um eine Erklärung darüber gebeten, wie sie ihren Verpflichtungen aus dem Vertrag, d. h. der Umsetzung der Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung, nachkommen werden. Die Antworten werden zurzeit von der Kommission geprüft.

Alle Argumente für eine Abschaffung der EU-weiten Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung finden sich auf englisch hier. Alle Informationen zur internationalen Kampagne gegen die Vorratsdatenspeicherung und wie man dabei helfen kann finden sich auf englisch hier.

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2 Kommentare »


  1. Ignoranz in Perfektion — 12. November 2010 @ 16.01 Uhr

    Entbehrt eigentlich jeden Kommentares, die Antworten sprechen für sich. Unfassbar, wie dreist man hier vorgeht und argumentiert.


  2. Unglaublich! — 5. Dezember 2010 @ 15.32 Uhr

    „Es bleibt bei der Vorratsdatenspeicherung“, habe Malmström am gestrigen Freitag in einer Rede zum Abschluss einer Konferenz in Brüssel zum laufenden Evaluierungsprozess der einschlägigen EU-Richtlinie ausgeführt (Quelle: heise-online).
    Damit ist der Skandal perfekt: Bürgerrechte sind bei der EU-Kommission offenbar so gut aufgehoben, wie ein paar rohe Eier auf einer Mountainbike-Bergtour.
    Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Gefahren einer Vorratsdatenspeicherung für eine offene, auf unbefangene Kommunikation angewiesene Gesellschaft findet nicht statt. Sie wird politisch nicht gewollt. Denn sobald man die Richtlinie einmal mit aller Ernsthaftigkeit und juristisch unbefangen auf ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten „abklopft“, tun sich Abgründe auf: Jemand, der weiß, dass die Verkehrsdaten seiner gesamten Kommunikation gespeichert werden, wird alles meiden, was ihm schaden könnte. Und in einer hochentwickelten, ausdifferenzierten Gesellschaft kann fast jede Information verheerende Schäden anrichten, egal ob eine Mitgliedschaft bei den Anonymen Alkoholikern, deren Interentauftritt man häufig besucht, oder die Mitgliedschaft in einer Partei, in deren Forum man chattet. Und nach den letzten Datenskandalen ist doch klar, dass niemand garantieren kann, dass die Daten wirklich sicher sind. Manche Internetprovider haben nicht einmal einen ansprechbaren Datenschutzbeauftragten…
    Ein weiterer Schlag die Demokratie, gegen eine bessere Zukunft und mehr Chancengerechtigkeit in Europa. Abtreten, Frau Malmström!

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