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Inland
Ungewohnte Farbspiele in Sachen Datenschutz und Freiheitsrechte
"Stoppt den Überwachungswahn!"
Von Christine Nordmann

Dass die Bundesministerin für Justiz als Mitglied einer bürgerlichen Regierung in ihrem Ressort keine nennenswerten Neuerungen anzustoßen wagt und sich nur auf bewährten Bahnen bewegt, überrascht nicht wirklich. Bemerkenswert demgegenüber ist ihr konsequent-liberales Engagement gegen die als Allheilmittel gegen Terror propagierte Datensammlung durch Sicherheitsbehörden.
 

Bundesjustizministerin Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger
NRhZ-Archiv
Nicht nur, dass sie als Klägerin vor dem Bundesverfassungsgericht die nationalen Regelungen des Telekommunikationsgesetzes über die Vorratsdatenspeicherung mit zu Fall gebracht hat, verweigert sie sich jetzt auch den Forderungen konservativer Kreise nach der Neuregelung einer verdachtslosen und flächendeckenden Überwachung der Telekommunikation auf der Grundlage der umstrittenen EG-Richtlinie 2006/24/EG. Hier stellt sie sich auch gegen den eher traditionell- konservativen Deutschen Richterbund (der immer gern betont, „der mit Abstand größte Berufsverband der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in Deutschland“ zu sein). Dennoch muss sie auf eine Unterstützung aus der Justiz nicht verzichten.
 
Die 1987 gegründete Neue Richtervereinigung (NRV) ist nicht nur eine berufsständische Organisation, sondern setzt sich auch ein für die innere Demokratisierung von Gesellschaft und Justiz, für soziale Gerechtigkeit und Freiheitsrechte. Zu diesem Zweck ist sie mit den verschiedensten Organisationen aus dem Bereich Bürger- und Menschenrechte vernetzt, ist Mitherausgeberin des jährlich erscheinenden Grundrechtereports und Mitglied im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat). Seit mehreren Jahren ruft sie mit auf zur Demonstration "Freiheit statt Angst - Stoppt den Überwachungswahn!".
 
Hinter diesem Engagement steht die Überzeugung, dass Menschen, die sich ständig beobachtet und überwacht fühlen, sich nicht unbefangen und mutig für ihre Rechte und eine gerechte Gesellschaft einsetzen. Die fortschreitende Ausweitung der Kontroll- und Überwachungsbefugnisse staatlicher Behörden setzt die Basis einer demokratischen und offenen Gesellschaft aufs Spiel.
 
Ein seit 2001 zunehmend wichtiges Thema der NRV ist die vom Sicherheitsstaat betriebene Aushöhlung unserer Privatsphäre und unseres Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Symptomatisch für diese Entwicklung und deshalb Gegenstand justizpolitischer Stellungnahmen waren in letzter Zeit etwa der Beschäftigtendatenschutz, das sogenannte SWIFT-Abkommen zur Überlassung von Bankdaten europäischer BürgerInnen an amerikanische Behörden, die geplanten „Visa-Warndateien“ und - zuletzt - der anhaltende Ruf nach einer neuerlichen gesetzlichen Regelung einer Vorratsdatenspeicherung. Solche umfassenden und anlasslosen Speicherungen von personenbezogenen Daten rücken unsere Gesellschaft immer weiter Richtung des Orwell’schen Überwachungsstaates. Das muss auch JuristInnen beunruhigen.
 
So drängen CDU und CSU gegenwärtig auf die Einrichtung nationaler Visa-„Warndateien“ zum Zwecke der Terrorismusabwehr, obwohl es bereits ein entsprechendes europäisches Visa-Informationssystem gibt. Erfasst würden darin nicht nur einreisewillige Ausländer, sondern ebenso die im Bundesgebiet lebenden Einlader und Verpflichtungsgeber. Damit gerieten unbescholtene Bürgerinnen und Bürger nur deshalb in den Verdacht, im Wege des Visamissbrauchs unerlaubte Einreisen zu organisieren oder sich als Menschenhändler zu betätigen, weil sie schon mal eine Einladung in das Bundesgebiet ausgesprochen oder sich verpflichtet haben, die Kosten für den Lebensunterhalt eines visumpflichtigen Ausländers während seines Aufenthalts im Bundesgebiet zu tragen. Betroffen wären etwa Privatpersonen mit Verwandten im Ausland oder auch Betriebe und Vereine mit Auslandskontakten.
 
Ein in der vergangenen Legislatur nicht mehr verabschiedeter Gesetzentwurf sah vor, Informationen über die erfassten Personen aus verschiedensten Quellen zusammenzutragen und für die unterschiedlichsten „Interessenten“ vorzuhalten. Eine Vielzahl von Behörden sollte die Möglichkeit eines automatisierten Abrufs bekommen. Damit wäre für den einzelnen Betroffenen nicht mehr zu überblicken, in welchen Zusammenhängen die über ihn erhobenen und an das zentral zuständige Bundesverwaltungsamt übermittelten Daten benutzt würden. Eine entsprechende Information war nicht vorgesehen.
 
Noch umfassender und unausweichlicher ist die Erfassung sämtlicher Telekommunikationsverbindungsdaten „auf Vorrat“. Ebenso wie der Deutsche Anwaltsverein spricht sich die NRV vehement dagegen aus und unterstützt damit die Bundesjustizministerin in ihrem Widerstand gegen eine verdachtslose Totalerfassung unseres Kommunikationsverhaltens.
 
Die gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung, dass eine effektive Verhinderung und Verfolgung von Straftaten ohne die ständige Verfügbarkeit unserer Verbindungsdaten kaum mehr möglich sei, entbehrt bislang jeglicher Berechtigung. Schon im Jahre 2007 hatte die NRV in einer gemeinsamen Stellungnahme u.a. mit dem AK Vorrat prognostiziert, dass eine Vorratsdatenspeicherung weder Terrorismus oder Kriminalität verhindern noch die Verfolgung von Straftaten nennenswert verbessern wird. Dies hat sich bestätigt. Die Statistik zeigt, dass auch ohne pauschale und anlasslose Speicherung der Telefon-, E-Mail- und Internetnutzung offensichtlich genügend Verkehrsdaten und sonstige Ermittlungsansätze verfügbar sind, um Gefahren abzuwehren und Straftaten wirksam zu verfolgen. Während bis 2007 jährlich etwa 55% der polizeilich registrierten Straftaten aufgeklärt werden konnten, hat sich diese Aufklärungsquote mit der ab 2008 eingeführten und bis März 2010 durchgeführten Vorratsspeicherung aller Verbindungsdaten nicht erhöht; im Bereich der Internetkriminalität ist sie sogar gefallen. Dies dürfte nicht zuletzt damit zu erklären sein, dass nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung rund 46% der Bürgerinnen und Bürger angaben, bei der Internetnutzung einen Anonymisierungsdienst benutzen zu wollen. So allerdings verkehrt eine flächendeckende Vorratsdatenspeicherung den erhofften Nutzen in sein Gegenteil. Die durch sie ausgelösten Vermeidungsstrategien erschweren Gefahrenabwehr und Strafverfolgung im Ergebnis sogar, weil sie zugleich den Erfolg herkömmlicher verdachtsabhängiger Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen vereiteln.
 

Prof. Dr. Klaus Tolksdorf,
Präsident des Bundesgerichtshofs
"Der Wertung, dass ohne die Möglichkeit der Speicherung und Erhebung der genannten Daten die Nutzung des Internets zu einem 'rechtsfreien Raum' würde, könnte ich mich nicht anschließen." Mit diesen Worten zitiert der AK Vorrat auf seiner Homepage keinen geringeren als Prof. Dr. Klaus Tolksdorf, Präsident des Bundesgerichtshofs. Recht hat er: Abgesehen davon, dass speziell Internetdelikte auch ohne Vorratsdaten-speicherung überdurchschnittlich häufig aufgeklärt werden, dürften anlaßlos gespeicherte Verbindungsdaten nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von März 2010 zur Verfolgung der meisten Straftaten ohnehin nicht mehr abgerufen werden.
 
Der gesellschaftliche Schaden ist demgegenüber enorm. Vorratsdatenspeicherungen bergen Gefahren und Risiken für die Persönlichkeitsrechte jedes einzelnen betroffenen Bürgers. Es werden ohne jeden Anlass sensible Informationen über die sozialen und die geschäftlichen Beziehungen, über die Bewegungen und die individuelle Lebenssituation sämtlicher BundesbürgerInnen gesammelt. Mit ihrer Hilfe können grobe Bewegungsprofile erstellt, geschäftliche Kontakte rekonstruiert und Freundschaftsbeziehungen identifiziert werden. Das Wissen über die Person der Kommunikationspartner kann Rückschlüsse auf den Inhalt der Kommunikation, auf persönliche Interessen und die Lebenssituation der Kommunizierenden zulassen. So braucht es nicht viel Fantasie, um die Bedeutung einer E-Mail an eine AIDS-Beratungsstelle oder eines Anrufs bei einem auf Steuerstrafrecht spezialisierten Rechtsanwalt zu erkennen. Zugleich schafft eine Vorratsdatenspeicherung für jeden das permanente Risiko, unschuldig einer Straftat verdächtigt und entsprechenden Ermittlungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. Dies alles führt nicht nur zu Kommunikationsstörungen und Verhaltensanpassungen, sondern erschüttert das Vertrauen in die geschützte Wahrnehmung derjenigen Bürgerrechte, die unseren freiheitlichen Rechtsstaat ausmachen sollten.
 
Bemerkenswerterweise erhob der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages schon vor Einführung einer Vorratsdatenspeicherung Bedenken gegen die ihr zugrunde liegende EG-Richtlinie und ihre Vereinbarkeit mit den auch im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundrechten. Diese Bedenken bestehen auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fort und werden jedenfalls in sieben weiteren europäischen Staaten geteilt. Erst der Europäische Gerichtshof wird letztlich entscheiden, ob eine Speicherung von Telekommunikationsdaten auf Vorrat in Europa und damit auch in Deutschland zulässig ist.
 
Es darf ernsthaft bezweifelt werden. ob die beständige Aufrüstung der Sicherheitsbehörden der Gesellschaft wirklich nützlich wäre. Wenn wir unseren Kindern auch nur einen Teil des Menschenrechts auf Selbstbestimmung erhalten wollen, müssen Regierung, Parlament und Gerichte Grenzen setzen und rote Linien ziehen, die auch im Eifer der Sicherheitspolitik nicht überschritten werden dürfen. (PK)
 
Christine Nordmann ist Richterin am Verwaltungsgericht in Schleswig und Sprecherin des Bundesvorstands der Neuen Richtervereinigung e.V. (NRV), www.nrv-net.de


Online-Flyer Nr. 284  vom 12.01.2011

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