Bundesgerichtshof hebt Urteil zur Vorratsspeicherung von IP-Adressen auf [ergänzt am 19.01.2011]

Im vergangenen Jahr sorgte ein Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt (Az. 13 U 105/07) für Aufruhr, demzufolge die Deutsche Telekom berechtigt sei, eine Woche lang auf Vorrat zu speichern, unter welcher IP-Adresse Internetnutzer surfen. Diese Vorratsspeicherungspraxis der Telekom ermöglicht in vielen Fällen die Rückverfolgung der Internetnutzung und führt immer wieder zu unberechtigten Ermittlungen und Abmahnungen. Mithilfe der Daten identifiziert die Telekom jeden Tag tausende von Internetnutzern gegenüber Abmahnanwälten und Strafverfolgern.

Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt nun aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG Frankfurt zurückzuverwiesen (Az. III ZR 146/10). Endgültig geklärt hat der Bundesgerichtshof die (Un-)Zulässigkeit der Vorratsspeicherung von IP-Adressen nicht, weil der Sachverhalt noch näherer Aufklärung bedürfe. Die Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofs liegt noch nicht vor.

Erste Schlüsse

Aus der Aufhebung und Zurückverweisung dürfte sich auch ohne Kenntnis der Begründung ergeben, dass der Bundesgerichtshof die „freiwillige Vorratsdatenspeicherung“ der Telekom unter bestimmten Voraussetzungen für unzulässig hält. Das erste Argument des aufgehobenen Urteils des OLG Frankfurt lautete, die Telekom benötige Internetadressen zur Abrechnung. Da die Rechnungssumme aber in keinem Tarif von der zugewiesenen IP-Adresse abhängt, wird dieses Argument nicht haltbar sein. Das zweite Argument des aufgehobenen Urteils lautete, die Telekom benötige Internetadressen, um Störungen und Fehler an ihren Telekommunikationsanlagen zu erkennen, einzugrenzen und zu beseitigen. Dies hatte der Kläger durch Sachverständigengutachten widerlegen lassen wollen. Das Oberlandesgericht hatte sich aber geweigert, ein Gutachten einzuholen. Möglicherweise verlangt der Bundesgerichtshof von dem Oberlandesgericht nun, dies nachzuholen.

Meiner Überzeugung nach würde ein Sachverständigengutachten ergeben, dass eine permanente und flächendeckende Vorratsdatenspeicherung zur Störungserkennung nicht erforderlich, jedenfalls aber ganz unverhältnismäßig ist. Andere Internet-Zugangsanbieter wie Arcor oder Vodafone belegen, dass sich Internetzugänge problemlos auch ohne Vorratsdatenspeicherung anbieten lassen.

Dementsprechend haben die 25. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt (Az. 25 S 118/2005) und das Oberlandesgericht Karlsruhe (Az. 4 U 86/07) bereits rechtskräftig entschieden, dass Internet-Zugangsanbietern eine Vorratsprotokollierung der von ihren Kunden temporär genutzten Internetadressen untersagt ist. Es ist zu erwarten, dass das vom Bundesgerichtshof und OLG Frankfurt nun behandelte Verfahren letztlich zum selben Ergebnis führen wird.

Vorratsdatenspeicherung

Gleichzeitig besteht das Risiko, dass das Urteil in der aktuellen politischen Diskussion um Forderungen nach Wiedereinführung einer Vorratsdatenspeicherung missbraucht werden wird für die Behauptung, ohne wenigstens 7-tägige Vorratsspeicherung von IP-Adressen werde das Internet zu einem „rechtsfreien Raum“. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall:

  1. Internetdelikte sind auch ohne Vorratsdatenspeicherung eher leichter nachverfolgbar als vergleichbare Delikte außerhalb des Internet. Ohne Internet-Vorratsdatenspeicherung wurden 2008 fast 80% aller bekannt gewordenen Internetdelikte aufgeklärt, von den sonstigen Straftaten nur 55%. Übrigens werden nur 3% aller bekannt gewordenen Straftaten im Internet begangen.
  2. Auch ohne Vorratsspeicherung von Internetadressen bleiben gezielte Ermittlungen in den weitaus meisten Fällen möglich, etwa die Identifizierung von Tatverdächtigen noch während der bestehenden Internetverbindung („Quick Freeze“, von der Unterhaltungsindustrie gegen Tauschbörsennutzer erfolgreich angewandt), Fangschaltungen für den Fall, dass sich der Tatverdächtige erneut anmeldet (vom BKA bereits erfolgreich angewandt) oder die Verfolgung von Spuren unbarer Geldtransaktionen.
  3. In befreundeten Staaten wie Österreich, Schweden, Norwegen oder Kanada gilt schon lange ein striktes Verbot der Vorratsspeicherung von IP-Adressen über das Verbindungsende hinaus (siehe Urteil des österreichischen Obersten Gerichtshofs vom 14.7.2009, Az. 4 Ob 41/09x), ohne dass das Internet dort deswegen ein „rechtsfreier Raum“ wäre.
  4. Schon der Blick auf unser tägliches Leben zeigt, dass die meisten (ca. 55%) dem Staat bekannt gewordenen Straftaten aufgeklärt werden können, obwohl niemand mitschreibt, mit wem wir geredet, wo wir uns aufgehalten oder worüber wir informiert haben.
  5. Eine Internet-Vorratsdatenspeicherung lässt sich ohnehin auf vielfältige Weise umgehen (z.B. WLAN, Internetcafe, Anonymisierungsdienst), wovon gerade professionelle Straftäter routinemäßig Gebrauch machen.

Wer sich wirklich wirksam gegen Internetdelikte einsetzen wollte, müsste sich um die echten Probleme in diesem Bereich kümmern: Ausbildung, Ausstattung, Prävention. Dies würde allerdings mehr Nachdenken und Einsatz erfordern als plakativ auf einer für den Staat kosten- und mühelosen Totalprotokollierung zu insistieren.

Aus vier Gründen ist das geltende Protokollierungsverbot für unsere freiheitliche Gesellschaft äußerst wichtig:

  1. Zum Schutz vor der gesteigerten Gefahr, unschuldig einer Straftat verdächtigt zu werden oder Abmahnungen zu erhalten.
  2. Zum Schutz vor dem gesteigerten Risiko von Datenpannen und Missbrauch der angehäuften Daten.
  3. Zur Gewährleistung der unbefangenen Inanspruchnahme des Internet in Notlagen und sensiblen Situationen ohne Furcht vor Bekanntwerden privater und intimer Probleme.
  4. Aufgrund der hohen Bedeutung von Anonymität für unsere Gesellschaft insgesamt.

An anderer Stelle habe ich diese Punkte ausführlich erläutert.

Solange sich diverse Internet-Zugangsanbieter noch nicht an das geltende Protokollierungsverbot (§ 96 TKG) halten, kann man nur empfehlen, die Speicherpraxis des eigenen Internet-Zugangsanbieters in Erfahrung zu bringen und gegebenenfalls den Anbieter zu wechseln und/oder einen Anonymisierungsdienst nutzen – und natürlich bei dem Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung mitzumachen.

Weitere Informationen:

Ergänzung vom 19.01.2011:

Das Urteil des Bundesgerichtshofs ist am 13.01.2011 verkündet worden.

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10 Kommentare »


  1. Abmahnwahn 2.0 - allumfassend - Seite 303 - netzwelt.de Forum — 14. Januar 2011 @ 21.04 Uhr

    [...] [...]


  2. Bundesgerichtshof hebt Urteil zur Vorratsspeicherung von IP … | My Wikileaks — 15. Januar 2011 @ 6.03 Uhr

    [...] den Originalbeitrag weiterlesen: 15 – Bundesgerichtshof hebt Urteil zur Vorratsspeicherung von IP …   Ende Zitat/ Auszug Dieser Beitrag wurde unter Leaks abgelegt und mit [...]


  3. Warum so lange warten? — 15. Januar 2011 @ 22.24 Uhr

    Mich verwundert immer wieder, dass der Bundesgerichtshof solange nach dem Urteil braucht, um die Begründung zu veröffentlichen.


  4. Lesezeichen vom 14.1.2011 bis 15.1.2011 | Florian Altherr — 15. Januar 2011 @ 22.42 Uhr

    [...] Daten-Speicherung.de » Bundesgerichtshof hebt Urteil zur Vorratsspeicherung von IP-Adressen au... [...]


  5. Arcor oder Vodafone — 16. Januar 2011 @ 15.20 Uhr

    Arcor wurde von Vodafone übernommen.


  6. [DE] Bundesgerichtshof hebt Urteil zur Vorratsspeicherung von IP-Adressen auf — 18. Januar 2011 @ 13.38 Uhr

    [...] [...]


  7. Abmahnung von Waldorf - nicht alleiniger Zugangsinhaber - Seite 1199 - netzwelt.de Forum — 18. Januar 2011 @ 15.27 Uhr

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  8. Urteilsbegründung scheint vorzuliegen — 8. Februar 2011 @ 20.38 Uhr

    http://www.internet-law.de/2011/02/bgh-zur-speicherung-dynamischer-ip-adressen.html


  9. ip speicherung — 23. März 2011 @ 23.07 Uhr

    heute auf anfrage bei der DTAG bekommen. wens interessiert.

    Sehr geehrter Herr xxx,

    vielen Dank für Ihre Anfrage.

    Die Deutsche Telekom AG speichert die dynamisch zugewiesenen IP-Adressen für die Dauer von sieben Tagen zur Missbrauchsbekämpfung. Diese Vorgehensweise ist mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit als zuständige Aufsichtsbehörde abgestimmt. Zudem wurde die kurzzeitige Speicherpraxis, welche in unseren Datenschutzhinweisen bei Vertragsabschluss beschrieben und auch Vertragsbestandteil zwischen unseren Kunden und der Deutschen Telekom ist, durch zahlreiche Gerichtsurteile bestätigt. Insofern erfolgt hier keine Speicherung von IP-Adressen für Abrechnungszwecke, sondern lediglich zur Missbrauchsbekämpfung.

    Zudem dürfen Auskünfte über personenbezogene Daten unserer Kunden ausschließlich an staatliche Bedarfsträger (z. B. Strafverfolgungsbehörden und Gerichte) zum Zwecke der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr erteilt werden. Eine Herausgabe der Daten an sonstige Dritte erfolgt grundsätzlich nicht.

    Weitere Informationen zum Thema Datenschutz erhalten Sie unter http://www.telekom.de/datenschutz.

    Mit freundlichen Grüßen

    Deutsche Telekom AG
    Konzerndatenschutz

    Deutsche Telekom AG
    Aufsichtsrat: Prof. Dr. Ulrich Lehner (Vorsitzender)
    Vorstand: René Obermann (Vorsitzender)
    Dr. Manfred Balz, Reinhard Clemens, Niek Jan van Damme, Timotheus Höttges, Guido Kerkhoff, Edward R. Kozel, Thomas Sattelberger

    Handelsregister: Amtsgericht Bonn HRB 6794
    Sitz der Gesellschaft: Bonn
    WEEE-Reg.-Nr.: DE50478376

    DIE INHALTE DIESER NACHRICHT SIND VERTRAULICH UND DÜRFEN NUR FÜR DIE ANGEGEBENEN ZWECKE VERWENDET WERDEN – THE CONTENT OF THIS MESSAGE IS CONFIDENTIAL AND MAY ONLY BE USED FOR THE PURPOSES NAMED

    Webmaster: Danke, wir sammeln dies auf http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/Speicherdauer


  10. Vorratsdatenspeicherung – Dichtung und Wahrheit | Freie Abgeordnete — 24. April 2012 @ 19.19 Uhr

    [...] Abmahnanwälte erhalten Tausende von realen Benutzeradressen auf Anfrage bei Internetanbietern mit dynamischen IP Adressen. Wahrheit: Internetanbieter (Telekom, Vodafone, 1&1 …) dürfen die mit dynamischen [...]

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