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86 Cent für ein Jahr ohne Vorratsdatenspeicherung (18.07.2011) Drucken E-Mail

+++ Datenschützer fordern Rote Karte gegen Blauen Brief - Bundesregierung soll EU-Vertragsverletzungsverfahren zur Vorratsdatenspeicherung stoppen +++ 

 Die EU-Kommission hat auf Nachfrage bestätigt, im Juni ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen Nichtumsetzung der EU-Richtlinie zur verdachtslosen Vorratsspeicherung der Verbindungs-, Positions- und Internetdaten aller 500 Mio. Menschen in der EU eingeleitet zu haben. Die im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung zusammen geschlossenen Bürgerrechtler, Datenschützer und Internetnutzer warnen die Bundesregierung und insbesondere die FDP davor, nun mit kopflosem Gehorsam zu reagieren: Es ist widersinnig, dass die EU-Kommission einerseits die Notwendigkeit einer umfassenden Änderung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung betont, andererseits aber noch die Umsetzung der alten, als Fehlschlag erkannten Richtlinie fordert.

Die Bundesregierung muss dem Spuk des Vertragsverletzungsverfahrens jetzt ein Ende setzen, indem sie aus wichtigen Gründen des Grundrechtsschutzes eine Befreiung von der Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie beantragt und nötigenfalls einklagt. Diese von Artikel 114 des EU-Vertrags eröffnete Möglichkeit hat die Neue Richtervereinigung der Bundesregierung schon im Januar aufgezeigt[1] - bisher ohne Erfolg.

Da dem Europäischen Gerichtshof bereits jetzt ca. 20 Vertragsverletzungsklagen gegen Deutschland vorliegen,[2] ist es unglaubwürdig, wenn Politiker behaupten, ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren müsse unbedingt vermieden werden. Mit einer Umsetzung der verfehlten EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung würde Deutschland gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und die EU-Grundrechtecharta verstoßen, wie der Rumänische Verfassungsgerichtshof,[3] das Centrum für Europäische Politik[4] und der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags[5] festgestellt haben. Bei dieser Pflichtenkollision zwischen EU-Umsetzungspflicht und Menschenrechtskonvention müssen unsere Grund- und Freiheitsrechte Vorrang haben, bis die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung geändert oder vom Europäischen Gerichtshof gekippt wird.

 Die von Politikern als "Kompromiss" aktuell diskutierte Teilumsetzung der Richtlinie (z.B. Internet-Vorratsdatenspeicherung oder dreimonatige Vorratsdatenspeicherung) wäre die schlechteste aller Lösungen: Einerseits würden unsere Menschenrechte verletzt und die Vertraulichkeit unserer Telekommunikation aufs Spiel gesetzt. Eine deutsche Vorratsdatenspeicherung bliebe bestehen, selbst wenn die EU-Richtlinie gekippt wird. Zum anderen würde eine Teilumsetzung nichts an dem EU-Vertragsverletzungsverfahren ändern. Die Meldung einer Teilumsetzung könnte im Übrigen bereits bei Einführung eines reinen Quick-Freeze-Verfahrens erfolgen, wofür sich beispielsweise Kanada[6] und Australien[7] entschieden haben. Überdies ist eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über eine Klage wegen Vertragsverletzung nicht vor Ablauf eines Jahres zu erwarten. Wir gehen davon aus, dass der Europäische Gerichtshof auf Vorlage des irischen High Court[8] die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung zu diesem Zeitpunkt bereits für grundrechtswidrig und ungültig erklärt haben wird, so dass es zu keiner Strafzahlung kommen wird oder etwaige Zahlungen zurückerstattet werden.

Nach Berechnungen des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung würde eine etwaige Strafzahlung an die EU nicht mehr als 86 Cent pro Bürger und Jahr betragen. "Eine gute Investition, denn nur nicht gespeicherte Kontakte, Bewegungen und Interessen sind sicher vor Datenmissbrauch wie bei der Deutschen Telekom[9] und Generalverdacht wie bei der Dresdener Polizei[10]", erklärt Patrick Breyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. "Eine Umsetzung der teuren flächendeckenden Vorratsdatenspeicherung würde Wirtschaft und Bürger ein Vielfaches dieser Strafzahlung kosten."

 "Es wäre erbärmlich, wenn der Bundesregierung die unbefangene Telefon-, Handy-, E-Mail- und Internetnutzung keine 86 Cent pro Person wert wäre", erklärt Kai-Uwe Steffens vom Arbeitskreis. "Wer mit drohenden Geldstrafen für die Umsetzung einer Vorratsdatenspeicherung argumentiert, will, dass wir unser Recht auf Privatsphäre für Geld verkaufen. Menschen- und Bürgerrechte sind aber unveräußerlich, so steht es im ersten Artikel des Grundgesetzes."

Hintergrund: Vertragsverletzungsverfahren

Die EU-Kommission hat der Bundesregierung im Juni ein Mahnschreiben (sog. "Letter of formal notice") übersandt, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, innerhalb einer bestimmten Frist (normalerweise zwei Monate) der EU-Kommission mitzuteilen, wie die umstrittene EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung umgesetzt werden soll. Falls die Antwort der EU-Kommission nicht genügt, kann sie der Bundesregierung anschließend eine "begründete Stellungnahme" übersenden, weshalb eine Vertragsverletzung vorliege. Deutschland hat dann erneut zwei Monate Zeit. Anschließend kann die Kommission Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erheben. Die Entscheidung des Gerichtshofs nimmt gewöhnlich etwa ein Jahr in Anspruch. Stellt der Gerichtshof eine Vertragsverletzung fest, kann er eine Strafzahlung für die Zeit der Nichtumsetzung verhängen, deren Höhe in Anwendungshinweisen der EU-Kommission festgelegt ist.

 
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