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S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Die vorauseilende Volksüberwachung

Die Vorratsdatenspeicherung steht wieder auf der politischen Tagesordnung - und es gilt, sich ihr entschlossen zu widersetzen, findet Sascha Lobo. Schon der Name des Gesetzesvorhabens sei irreführend: Besser solle man von vorauseilender Volksüberwachung sprechen.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde die Kriminalitätsrate gravierend sinken, wenn erwachsene Männer ausnahmslos nach 18 Uhr an die Heizung gekettet würden. Mit dieser rein formal zutreffenden Aussage dürfte geklärt sein, dass zur Verbrechensbekämpfung nicht jede technisch mögliche Maßnahme ergriffen werden sollte - nun kann man sich der Vorratsdatenspeicherung zuwenden. Diese wurde 2010 in ihrer alten Form vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt und wird nun politisch neu diskutiert.

Natürlich ist berechtigt zu fragen, warum die Vorratsdatenspeicherung in jedweder Form überhaupt schlimm ist. Einen Teil der Antwort führt der IT-Experte und Anwalt Thomas Stadler  aus, der sie als "Dammbruch" bezeichnet: es handelt sich um eine automatisierte Kommunikationsüberwachung aller Bürger, zu jeder Zeit, ohne Anlass, ohne jede richterliche Verfügung. In der Tat gab es eine solche ständige Großüberwachung in der Bundesrepublik noch nie.

Es ist diese Pauschalisierung und Generalverdächtigung, die eines demokratischen Rechtsstaats nicht würdig ist. Dementsprechend hat die Vorratsdatenspeicherung einen wenig bekannten Schutzheiligen: den Abt Arnold Amalrich. Dieser war päpstlicher Gesandter im Kreuzzug gegen die Katharer, eine christliche Glaubensbewegung, von deren Name später der Begriff Ketzer abgeleitet wurde. Als Amalrich 1209 vor der Erstürmung der französischen Stadt Béziers gefragt wurde, wie man die Katholiken von den Ketzern unterscheiden solle, sagte er: "Tötet sie alle. Gott wird die seinen schon erkennen." Er dürfte damit einer der frühesten Verfechter verdachtsunabhängiger Maßnahmen sein.

Der Begriff "Vorratsdatenspeicherung" ist stark verharmlosend

Genau aus dieser Parallele ergibt sich die eigentliche Monstrosität der Vorratsdatenspeicherung: ein jeden Bürger betreffender Grundrechtseingriff ohne vorherigen Verdacht. Deshalb ist der Begriff "Vorratsdatenspeicherung" stark verharmlosend und mitschuldig daran, dass sich noch keine Facebook-Seiten mit sechsstelligen Fanzahlen dagegen gebildet haben. Ein treffenderer Begriff für die Vorratsdatenspeicherung wäre vorauseilende Volksüberwachung.

Es ist zwar historisch und bürgerrechtlich betrachtet traurig, dass man heute politisch eher begründen muss, weshalb man eine anlasslose Volksvollüberwachung ablehnt. Aber offenbar ist es notwendig, wenn man die Argumente der Befürworter betrachtet. Der kürzlich auf Facebook verbal auffällig gewordene Bundestagsabgeordnete Sebastian Edathy (SPD) erklärte im April 2010 die vorauseilende Volksüberwachung für legitim , weil er gern gewusst hätte, wer ihm durch einen Flensburger Erotikversand eine Plastikvagina zustellen ließ. Abgesehen davon, dass wohl kaum anonym bezahlt wurde und deshalb die Daten sicher auch ohne neue Gesetze beim Versandhaus zu ermitteln gewesen wären, zeigt das Beispiel: Es geht den Befürwortern weniger um den Sonderfall Terrorismus, sondern um die generelle Ausschöpfung eines technisch möglichen Weges der Verbrechensbekämpfung.

Immer ein Blick auf das Missbrauchspotential

Da liegt das Problem: Im Zeitalter der digitalen Vernetzung ist die Zahl der Instrumente und Möglichkeiten exponentiell gestiegen - weit über die digitale Heizungskette hinaus. Deshalb wird wichtiger als je zuvor, dass nicht alle theoretisch möglichen Mittel auch ausgeschöpft werden. Denn ein Rechtsstaat zeichnet sich vor allem durch das aus, was er unterlässt, zum Beispiel Willkür, Vorverurteilung und Überwachung. Selbst wenn im vorliegenden Fall die Aufgabe der anlasslosen Aufzeichnung aller Aktivitäten vom Staat an Unternehmen delegiert werden soll. Und besonders in Deutschland sollte zum rechtsstaatlichen Verständnis auch immer ein Blick auf das Missbrauchspotential gehören: Wenn erst die Daten vorhanden und zugriffsbereit sind, wer wann von wo mit wem wie lange interagiert hat, werden sie benutzt, vermutlich mit Rückendeckung von Siegfried Kauder (CDU), der das Pochen auf Freiheitsrechte für eine Modeerscheinung hält.

Dem häufig gehörten Argument, die vorauseilende Volksüberwachung sei zur Verbrechensbekämpfung unerlässlich, lassen sich zwei Fakten entgegenstellen:

Der Unterschied zwischen Quick Freeze und voreiliger Volksüberwachung besteht in der Erfassung der Daten aller Bürger gegenüber der Erfassung der Daten Verdächtiger. Das verhält sich wie eine Personalausweiskontrolle in der Fußgängerzone zu einer elektronischen Fußfesselpflicht für alle Bürger. Die Bundestags-Petition des AK Vorrat zur Wahrung der Freiheitsrechte gegen die Volksüberwachung lässt sich hier mitzeichnen .

Da die Liste der Mitzeichner einsehbar ist, lässt sich sagen, dass zwar viele erwachsene Männer ohne Heizungskettenwunsch mitgezeichnet haben, aber weder Sebastian Edathy noch Siegfried Kauder. Auch Arnold Amalrich nicht, ebenso wenig wie Günther Beckstein, der zwar der Anhängerschaft der Modeerscheinung Freiheitsrechte unverdächtig ist, aber 2007 sagte: " Ein anständiger Bürger kann darauf vertrauen, dass der Staat auf seine privaten Daten keinen Zugriff nimmt."  Außer um herauszufinden, ob er wirklich anständig war.

tl;dr

Die Vorratsdatenspeicherung sollte voreilige Volksüberwachung genannt werden und ist eines demokratischen Rechtsstaats nicht würdig.

Offenlegung: Der Autor ist mäßig aktives Mitglied im Gesprächskreis Netzpolitik der SPD, aber nicht Parteimitglied und hat niemals eine Plastikvagina bestellt.