Keine EU-Kompetenz für Vorratsdatenspeicherung zur Strafverfolgung

Im Jahr 2006 beschloss die EU mehrheitlich eine Richtlinie, derzufolge alle EU-Staaten Telekommunikationsanbieter zur verdachtslosen Vorratsspeicherung sämtlicher Verbindungsdaten verpflichten sollen (Richtlinie 2006/46/EG zur Vorratsdatenspeicherung). Zur Begründung ihrer Zuständigkeit berief sich die EU auf den heutigen Art. 114 AEUV, demzufolge die EU „Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben“, beschließen darf.

EU-Zuständigkeit für Marktharmonisierung

Die EU nimmt an, dass grundsätzlich jedes Gesetz, welches den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den EU-Mitgliedstaaten einschränkt, „die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand“ habe. Der Europäische Gerichtshof rechtfertigte den Erlass der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung dementsprechend damit, diese nähere einzelstaatliche Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung einander an und erleichtere Telekommunikationsanbietern dadurch das grenzüberschreitende Angebot von Telekommunikationsdiensten.

Begründet die EU die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung allerdings mit der Erleichterung des grenzüberschreitenden Angebots von Telekommunikationsdiensten, so muss sie sich daran auch festhalten lassen, wenn es um die Frage der Verhältnismäßigkeit geht: Ist es verhältnismäßig, alle EU-Staaten zur verdachtslosen Vorratsspeicherung sämtlicher Verbindungsdaten ihrer Bürger zu zwingen, nur um die grenzüberschreitende wirtschaftliche Tätigkeit der Anbieter zu erleichtern?

Es liegt auf der Hand, dass diese Frage zu verneinen ist. Das Gewicht des Interesses an einer Vereinheitlichung von Wettbewerbsbedingungen steht offensichtlich außer Verhältnis zu dem Eingriff in die Grundrechte aller 500 Mio. EU-Bürger durch verdachtslose Protokollierung ihrer täglichen Kommunikation. Eine Vereinheitlichung der Wettbewerbsbedingungen könnte durch ein EU-weites Verbot anlassloser Vorratsdatenspeicherung viel besser erreicht werden.

Keine EU-Zuständigkeit für Strafverfolgung

Die EU-Kommission hält dem entgegen, eine Vorratsdatenspeicherung sei für Zwecke der Strafverfolgung erforderlich. Mit diesem Argument kann die EU ihre Richtlinie aber nur rechtfertigen, wenn sie für Maßnahmen zur Erleichterung der Strafverfolgung zuständig ist.

Die Zuständigkeit der EU im Bereich des Straf- und Strafprozessrechts regeln nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon die Art. 67 ff. AEUV. Nach Art. 87 AEUV kann die EU Maßnahmen der Datenverarbeitung ausschließlich zum Zweck der „polizeiliche[n] Zusammenarbeit zwischen […] Mitgliedsstaaten“ beschließen. Art. 87 AEUV erlaubt es der EU also ausschließlich, die Verarbeitung von Personendaten für Zwecke der grenzüberschreitenden Strafverfolgung zu regeln. Die Verträge erlauben es der EU demgegenüber nicht, ihren Mitgliedsstaaten vorzuschreiben, welche Informationen sie ihren eigenen Strafverfolgungsbehörden in Ermittlungsverfahren ohne grenzüberschreitenden Bezug bereitzustellen haben. Dementsprechend haben schon der Europäische Gerichtshof, der juristische Dienst des Rates und der juristische Dienst der Kommission die Bestimmungen zur polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit nicht für einschlägig erachtet.

Es liegt nun auf der Hand, dass es völlig unverhältnismäßig wäre, eine EU-weite Vorratsdatenspeicherung für die wenigen Fälle grenzüberschreitender Verkehrsdatenabfragen vorzuschreiben. Laut Evaluierungsbericht der EU-Kommission erfolgen nicht einmal 1% der Zugriffe auf Vorratsdaten grenzüberschreitend.

Die EU kann die Verarbeitung von Telekommunikationsdaten deshalb auch unter dem Vertrag von Lissabon nur zur Marktharmonisierung, nicht aber zur Erleichterung der Strafverfolgung regeln. Das Ziel der Marktharmonisierung rechtfertigt den mit einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung verbundenen Grundrechtseingriff offensichtlich nicht. Zum Abbau von Wettbewerbsunterschieden infolge unterschiedlicher nationaler Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung gibt es vielfältige mildere Mittel gegenüber einem EU-weiten Zwang zur Vorratsdatenspeicherung (z.B. EU-weites Verbot der Vorratsdatenspeicherung oder verpflichtende Kostenerstattung).

Der Europäische Gerichtshof wird auf Vorlage des obersten irischen Gerichtshofs hoffentlich bald über die Vereinbarkeit der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung mit den Grundrechten entscheiden und sie als unverhältnismäßig verwerfen.

Keine EU-Zuständigkeit für Zugriffe auf Vorratsdaten

Unzuständig ist die EU auch für das Vorhaben der EU-Kommission, künftig einheitlich zu regeln, unter welchen Voraussetzungen und zu welchen Zwecken Vorratsdaten durch nationale Strafverfolgungsbehörden abgerufen und verwendet werden dürfen (z.B. Straftatenkatalog). Der EU ist es nicht erlaubt, ihren Mitgliedsstaaten vorzuschreiben, unter welchen Voraussetzungen sie ihren Strafverfolgungsbehörden die Erhebung von Daten in ihrem eigenen Hoheitsgebiet erlauben.

Daran ändert auch die Bemerkung des Europäischen Gerichtshofs nichts, die Frage des Zugangs zu Vorratsdaten durch Strafverfolgungsbehörden, die Verwendung abgerufener Daten und deren Austausch zwischen Strafverfolgungsbehörden falle „grundsätzlich in den von Titel VI des EU-Vertrags erfassten Bereich“ (Az. C-301/06), also in den Anwendungsbereich des Titels über die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (jetzt Art. 67-89 AEUV). Von der Frage des Anwendungsbereichs dieses Titels zu unterscheiden ist nämlich die Frage, ob die Voraussetzungen einer seiner Bestimmungen vorliegen. Dies ist laut Art. 87 AEUV nur bei Vorschriften zur Erleichterung  grenzüberschreitender Ermittlungsverfahren der Fall. Nur die Voraussetzungen grenzüberschreitender Datenzugriffe könnte die EU regeln, nicht aber, unter welchen Voraussetzungen und zu welchen Zwecken Verkehrsdaten durch innerstaatliche Strafverfolgungsbehörden angefordert und verwendet werden dürfen.

Die gegenwärtige EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung „harmonisiert weder die Frage des Zugangs zu den Daten durch die zuständigen nationalen Strafverfolgungsbehörden noch die Frage der Verwendung […] dieser Daten“ (EuGH, Az. C-301/06). Deswegen lässt sich die Richtlinie bereits dadurch umsetzen, dass jede Nutzung von Vorratsdaten verboten wird (zur fehlenden Umsetzungspflicht siehe Keine EU-Pflicht zur Wiedereinführung einer Vorratsdatenspeicherung).

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2 Kommentare »


  1. Wo klagen? — 31. Dezember 2011 @ 19.21 Uhr

    Die EU ist ja nun unser aller höchste Instanz und hat scheinbar die Macht die Rechtssprechung unseres Verfassungsgericht außer Kraft zu setzen. Wenn ich als deutscher Bürger nun gegen die von den Euro-Politikern aufgezwungene Vorratsdatenspeicherung klagen will, wo soll ich das machen?

    Die EU Politiker nehmen einen Gott ähnlichen Zustand an. Wie kann ein einfacher Bürger diesem Einhalt gebieten?

    Bin ich der Einzige, der hier Angst vor der totalen Kontrolle hat?

    Webmaster: Leider hat das Bundesverfassungsgericht nur das damalige Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig erklärt, nicht das Prinzip einer verdachtslosen Datensammlung selbst. Gegen ein etwaiges neues Gesetz kann jeder Betroffene Verfassungsbeschwerde erheben und im Fall der Zurückweisung Beschwerde bei dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strasburg einlegen.


  2. EU-Gutachten zur Vorratsdatenspeicherung: Thema verfehlt | blog.vorratsdatenspeicherung.de — 25. Juni 2012 @ 2.55 Uhr

    [...] Anders als der Juristische Dienst andeutet ist es der EU übrigens nicht möglich, eine Vorratsdatenspeicherung auf der Grundlage von Art. 87 Abs. 2 Buchst. a AEUV zu erzwingen, weil Vorratsdatenspeicherung die nationale Strafverfolgung erleichtern soll und die internationale polizeiliche Zusammenarbeit nicht betrifft (Details hier). […]

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