Joachim Gauck sieht Internet als Bedrohung der Meinungs- und Pressefreiheit

DIVSI-Direktor Matthias Kammer und Silke Borgstedt vom Sinus-Institut bei der Vorstellung der Studie. Bild: DIVSI

40 Prozent der Deutschen sind Digital Outsiders - das DIVSI-Institut unter der Schirmherrschaft des künftigen Bundespräsidenten stellt eine Studie zu Vertrauen und Sicherheit im Internet vor

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Mit dem Deutschen Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI) hat die Deutsche Post im Jahr 2011 eine Gesellschaft ins Leben gerufen, die es sich zum Ziel gemacht hat, "vertrauliche und sichere Kommunikation im Internet zu fördern". Als Schirmherr des DIVSI konnte ausgerechnet der künftige Bundespräsident Joachim Gauck gewonnen werden. Nun hat das Institut eine Studie zu Vertrauen und Sicherheit im Internet vorgestellt - und gibt damit nicht nur tiefe Einblicke in den Umgang verschiedener Nutzergruppen mit dem Internet, sondern vor allem auch in die Einstellung Gaucks gegenüber dem Internet.

Die Arbeitsgrundlage des DIVSI sind sieben Thesen zu "Vertrauen und Sicherheit im Internet", die der Bürgerrechtler und selbsternannte Demokratielehrer Gauck für das Institut aufgestellt hat. In diesen Thesen erklärt Gauck das Internet zwar zu einer "Kulturleistung der Menschheit von historischer Bedeutung", betont dabei aber vor allem die Gefahren, die die Technik mit sich bringt.

So behauptet Gauck beispielsweise, dass die Anonymität des Netzes die Arbeit der Justiz erschwere. Die Anonymität werde "zunehmend für kriminelle Zwecke missbraucht". Gauck selbst nennt als Grund für seine Tätigkeit als Schirmherr, die er aufgrund seiner Kandidatur für das Bundespräsidentenamt derzeit ruhen lässt und nach seiner Wahl niederlegen wird, er wolle sich für "gesicherte Identitäten auch im Web - dass ich weiß, wer mein Gegenüber ist" einsetzen, gleichzeitig aber auch für gesicherte Anonymität "wo ich es will" - wie das funktionieren soll, konnte er zur Vorstellung der Studie jedoch nicht verraten. Joachim Gauck war nicht da. Als Kandidat für das Schloss Bellevue hat er derzeit wohl andere Termine.

Dabei wäre einiges erklärungsbedürftig, was die Position Gaucks zur Freiheit im Internet angeht, immerhin könnte er als künftiger Bundespräsident hier wichtige Impulse geben. Doch schon das Vorwort zur Studie, welches Gauck noch vor seiner Nominierung schrieb, dürfte bei vielen netzaffinen Bürgern nicht gut ankommen, zu steil sind Gaucks Thesen: "Das weltweite Internet bietet alle Voraussetzungen, um die in den ersten zehn Artikeln unserer Verfassung verankerten Grundrechte aller Bürger in diesem Land auszuhöhlen." Aber warum sollte das Internet die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz (Artikel 3) oder die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Artikel 4), den Schutz von Ehe und Familie (Artikel 6) oder die Versammlungsfreiheit (Artikel 8) gefährden?

In seinem knappen Einleitungstext bleibt Gauck dafür jeden Ansatz einer Erklärung schuldig - eine miserable Leistung für einen Demokratielehrer. Eine besondere Bedrohung stellt das Internet laut Gauck für den Artikel 5 des Grundgesetzes dar, die Meinungs- und Pressefreiheit. Das scheint absurd, denn noch nie hatte eine derart große Zahl von Menschen die Möglichkeit, mit relativ kleinen Mitteln ein großes, sogar internationales Publikum zu erreichen und somit auch auf Missstände aufmerksam zu machen.

Dies erwähnt Gauck jedoch nicht einmal ansatzweise, weshalb er sich fragen lassen muss, wie er zu kritischen Veröffentlichungen jenseits der etablierten Presse steht. Gaucks Anklage gegen das Internet gipfelt schließlich in der ebenfalls völlig unbegründeten Behauptung, auch Artikel 1, die Würde des Menschen, sei durch das Netz bedroht. Wer Gaucks Vorwort gelesen hat, stellt sich unweigerlich die Frage, warum er in dieser Notlage noch nicht das Bundesverfassungsgericht um Hilfe angerufen hat.

40 Prozent der Deutschen sind Digital Outsiders

Für Gauck ist es vielmehr wichtig, "dem Internet und seinen Nutzern mehr Sensibilität, mehr Aufmerksamkeit und Forschung" zu widmen, "um solche Gefahren für unser aller Freiheit künftig richtig einschätzen und Vertrauen in das Medium fördern zu können". Dieser Denkansatz Gaucks ist auch wichtig, um zu verstehen, für welche politischen Ziele die Studie des DIVSI genutzt werden kann.

Für die Studie hat das SINUS-Institut 2.000 Menschen ab 14 Jahren in einer repräsentativen Umfrage face-to-face persönlich befragt, zudem fanden 60 Interviews bei den Menschen zu Hause statt. Dabei wurde auch untersucht, wie sehr das Internet in der häuslichen Umgebung der Befragten integriert ist. DIVSI-Direkor Matthias Kammer ist überzeugt, dass die Studie den Zustand der Internetgesellschaft präziser beschreibt, als das jemals zuvor geschehen sei.

Zu den wichtigsten Erkenntnissen gehört, dass die Zahl der Internetnutzer weitaus geringer ist, als es die bisherigen Untersuchungen nahe legen. So war bislang vor allem bekannt, dass 80 Prozent der Haushalte einen Internetanschluss besitzen.

Über das tatsächliche Nutzungsverhalten sagt dies jedoch noch nichts aus. Doch genau dies hat das Sinus Institut untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass 40 Prozent der Deutschen "Digital Outsiders" seien. Diese leben komplett oder nahezu komplett ohne Internet. In diese Gruppe fallen auch jene, die das Internet nur sehr selten und ausschließlich mit fremder Hilfe benutzen, sei es aus Angst oder fehlender Kompetenz bei der Bedienung der Geräte.

Silke Borgstedt vom Sinus-Institut erläuterte, dass die "Digital Outsiders" entweder vollkommen offline oder vom Umgang mit dem Internet stark verunsichert seien. Viele Mitglieder dieser Gruppe, die das Internet trotzdem ab und an nutzen, täten dies nicht freiwillig. Der Internetzugang werde ihnen von außen aufgedrängt. Da sie sich selbst vom Internet keinen Mehrwert versprächen, wollen sie das Internet auch gar nicht verstehen, so Borgstedt. Für sie sei das Netz vor allem gefährlich.

Die "ordnungsfordernden Internet-Laien"

Die "Digital Outsiders" unterteilt die Studie nochmals in zwei Gruppen. Die "ordnungsfordernden Internet-Laien" nutzen des Netz demnach zurückhaltend und äußerst vorsichtig. Allerdings gleicht die Internetnutzung aus Angst davor, Fehler zu machen, eher einer Vermeidungsstrategie - gemacht wird nur, was gefahrlos erscheint. Mit Themen wie Datenschutz und Sicherheit kommen sie im Netz mangels intensiver Nutzung eher wenig in Berührung, Schlagzeilen über Datenskandale in den Medien schrecken sie jedoch um so mehr auf.

Um diese Gefahren einzudämmen, fordern sie einen starken Staat, der im Internet für Ordnung sorgt und die überkomplex erscheinende virtuelle Welt zügelt. Die Möglichkeiten des Einzelnen, sich vor Gefahren im Netz zu schützen, erscheint dieser Gruppe gering - digitale Enthaltsamkeit scheint dafür die einzige Möglichkeit zu sein.

Bild: DIVSI

"Internetferne Verunsicherte"

Auch die "internetfernen Verunsicherten", die zu zwei Dritteln komplett offline sind und die älteste Gruppe darstellen, fordern einen starken Staat. Obgleich sie selbst mit dem Internet gar nicht in Berührung kommen, wirkt es auf sie verunsichernd und auf eine diffuse Weise bedrohlich. Ihre Ängste betreffen dabei weniger sie selbst, da sie das Netz ja nicht nutzen, dafür sorgen sie sich allerdings um ihre Kinder und Enkel. Anonymität im Internet sollte es ihrer Meinung nach schlicht nicht geben. Zu ihren Forderungen gehören einfache und sichere Dienstleistungsangebote mit Garantie-Verpflichtungen, die von vertrauensvollen Institutionen bereitgestellt werden sollen.

Beide Untergruppen neigten nach den Beobachtungen der Forscher zudem dazu, eventuell vorhandene Computer in unwohnlichen, schlecht beheizten Wirtschaftsräumen aufzustellen oder aber hinter Schranktüren zu verstecken.

Digital Natives: "Unbekümmerte Hedonisten", "effizienzorientierte Performer" und "digital Souveräne"

Bei der mit 41 Prozent etwas größeren Gruppe der "Digital Natives" hingegen sind internetfähige Geräte ein integraler Teil der Wohnumgebung. Diese Gruppe, die die Studie nochmals in "unbekümmerte Hedonisten", "effizienzorientierte Performer" und "digital Souveräne" untergliedert, sehen das Netz als natürlichen Bestandteil ihrer Lebenswelt und können sich laut Studie nicht einmal vorstellen, dass es Menschen gibt, die im Internet nicht zu Hause sind. Alle drei Untergruppen neigen dazu, die Eigenverantwortung des Nutzers auch im Umgang mit den Gefahren im Netz zu betonen und staatliche Eingriffe überwiegend abzulehnen. Die Studie kommt daher zu dem Schluss, dass bei den Digital Natives eine Sensibilität gegenüber Menschen mit geringerer Internet-Kompetenz, die Risiken und Gefahren in höherem Maße ausgesetzt seien, erzeugt werden müsse.

Allerdings ist der Studie zufolge auch ein guter Teil der Digital Natives nicht in der Lage, sich sicher im Netz zu bewegen. So stimmen die "unbekümmerten Hedonisten", die die Studie als "fun-orientiert" und "nicht risikosensibilisiert" einstuft, typischerweise Aussagen zu wie: "Ich mache mir um die Sicherheit im Internet keine Gedanken, was soll mir schon passieren?" oder "Wenn mir Daten im Internet verloren gehen, bin ich zuversichtlich, sie irgendwann wieder zu bekommen". Eigenverantwortung scheitere an Bequemlichkeit und Desinteresse, zugleich bestehe aber ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Institutionen, weshalb die Gruppe für ein freies Internet plädiere.

"Ich-zentrierte Perspektive"

Den "digital Souveränen" wirft die Studie in Fragen der Sicherheit eine "ich-zentrierte Perspektive" vor, weil sie aus dem Glauben heraus, selbst souverän im Internet navigieren zu können und somit auch vor Gefahren gefeit zu sein, die Forderung der unsicheren Internetnutzer nach mehr staatlicher Kontrolle und Überwachung ablehnen. Mit dieser Haltung, so suggeriert das DIVSI, bringen sich die "digital Souveränen" jedoch selbst in Gefahr:

"Auch die Digital Souveränen selbst unterschätzen ihre Schutzbedürftigkeit", so das Fazit über diese Gruppe - eine unverholene Forderung, auch dieser Gruppe die Vorzüge eines strenger regulierten Internets nahe zu bringen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Studie den "Souveränen" zwar Selbstüberschätzung attestiert, jedoch gleichzeitig diese Gruppe zusammen mit den "Performern" als geeignete Multiplikatoren sieht, um andere Nutzergruppen für Sicherheitsrisiken zu sensibilisieren. Die "effizienzorientierten Performer" entspringen laut Studie einem gehobenen sozialen Milieu, weisen das höchste Einkommensniveau auf, sind erfolgs- und leistungsorientiert und nutzen das Internet vorwiegend zur Arbeitserleichterung. Sie wollen ein freiheitliches Internet, nehmen aber auch den Staat und vor allem große Markenunternehmen in die Pflicht, für Sicherheit im Netz zu sorgen.

"Digital Immigrants"

Die mit 20 Prozent kleinste Gruppe, die "Digital Immigrants", sehen Technik eher als Mittel zum Zweck und nutzen das Internet sehr gezielt. Die Gruppe zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich erst informiert, bevor sie einen Dienst nutzt und sehr sensibilisiert für Sicherheits- und Datenschutzthemen ist. Sie sehen die Verantwortung für einen sicheren Umgang mit dem Internet beim Nutzer - aber nicht ausschließlich.

So vertraut die Untergruppe der "postmateriellen Skeptiker" in Sicherheitsfragen vor allem nichtstaatlichen Organisationen, die Missstände und Sicherheitslücken aufdecken können. Die "verantwortungsbewussten Etablierten" hingegen sehen besonders den Staat in der Pflicht, für Sicherheit im Internet zu sorgen und die Nutzer zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dem Medium zu bewegen.

Freiheit und Technikangst

Insgesamt kommt die Studie zu dem Schluss, dass die Hälfte der Bevölkerung nicht an absolute Sicherheit im Internet glaubt, ein Drittel hingegen schon - und zwar überwiegend ausgerechnet die "Digital Natives", die es eigentlich besser wissen müssten. Zugleich seien 39 Prozent der Bevölkerung mit Sicherheit und Datenschutz überfordert und entsprechend verunsichert. Ganze 74 Prozent fordern, dass der Staat und die Wirtschaft im Internet für ihre Sicherheit sorgen, 60 Prozent verorten die Verantwortung sogar primär dort, wollen sie also von sich wegschieben. Das Fazit der Studie: "Wer sich nicht auskennt, fordert Schutz, wer sich sicher fühlt, fordert Freiheit" - diesem Dilemma müsse sich die Politik stellen.

Auf Joachim Gaucks Antwort als Staatsoberhaupt auf dieses Dilemma darf man gespannt sein - es klingt eher nicht so, als würde sich Gauck auch im Internet im Zweifel für die Freiheit einsetzen. Der ehemalige FDP-General Christian Lindner mag sich freuen, dass Gauck gegen die "Technikangst" der Deutschen polemisiert. Lindners Behauptung, bei der IT gebe es solche Ängste nicht, scheint jedoch nicht haltbar. Joachim Gauck hat mit seinem Vorwort seinen ganz persönlichen Gegenbeweis angetreten.