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Die Europäische Überwachungsunion

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Apr 16th, 2012
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  1. Thema des Tages
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  3. Die Europäische Überwachungsunion
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  5. Trotz großer Proteste und rechtlicher Zweifel beharrt die EU auf der Vorratsdatenspeicherung
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  8. Es gab selten einen Rechtsakt, der so umstritten war und ist, auf so wackeligem europarechtlichen Boden steht und so hastig das Gesetzgebungsverfahren durchlief wie die EU-Richtlinie zur anlasslosen Speicherung aller Kommunikationsdaten von 500 Millionen Europäern.
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  10. Ein erster erfolgloser Anlauf zur Speicherung von Kommunikationsdaten startete nur neun Tage nach dem 11. September 2001. Im Jahr 2004 fand der von vier Staaten eingebrachte Entwurf eines Rahmenbeschlusses zur Vorratsdatenspeicherung im Rat nicht die dafür notwendige einstimmige Zustimmung. Erst als die EU-Kommission das Vorhaben an sich zog, in dem sie die Rechtsgrundlage der Richtlinie wechselte und behauptete, die Vorratsdatenspeicherung diene nicht in erster Linie der Terrorbekämpfung, sondern der Harmonisierung des Binnenmarktes, war das Hindernis der Einstimmigkeit vom Tisch. Die Richtlinie wurde mit Mehrheit und mit Zustimmung der damaligen Bundesjustizministerin Brigitte Zypries angenommen.
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  12. Damit fiel die Bundesregierung dem eigenen Parlament in den Rücken. Der Bundestag hatte sich immer wieder über die Fraktionsgrenzen hinweg - auch mit Stimmen von Union und SPD - gegen eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen. Den bis dato umfassendsten Eingriff in die Rechte der Bürger brachte die Kommission in der Rekordzeit von nur drei Monaten mit vielen handwerklichen Fehlern behaftet durch das Gesetzgebungsverfahren. Mit der Begründung 'weil sie schlecht vorbereitet war und sowohl ihre Zweckbestimmung wie ihr Ausmaß unklar waren' stimmte die heutige EU-Kommissarin Cecilia Malmström als Mitglied des Europäischen Parlaments 2006 gegen die Richtlinie. Heute betreibt sie mit Härte mehrere Vertragsverletzungsverfahren, um sie durchzusetzen, unter anderem gegen Deutschland.
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  14. Als die große Koalition dem Richtlinienvorschlag 2006 folgte, formierte sich eine starke gesellschaftliche Bewegung, die in die größte Massenbeschwerde in der Geschichte der Bundesrepublik mündete, unter den Beschwerdeführern waren Burkhard Hirsch, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und ich. In diesem Klima gründeten sich die Piraten als neue politische Kraft. Seitdem reißt die Kritik nicht ab. Einer von der Union in Auftrag gegebenen Umfrage des Allensbach-Instituts zufolge lehnten Ende 2011 zwei Drittel der Bundesbürger die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ab. Im selben Jahr wendeten sich 65000 Bürger in einer Petition an den Bundestag. In der EU und in Deutschland haben sich Anwalts-, Ärzte- und Journalistenverbände genauso wie Datenschützer und Wirtschaftsvertreter gegen die bestehende EU-Richtlinie ausgesprochen.
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  16. Immer wieder wurden Umsetzungsgesetze durch nationale Verfassungsgerichte verworfen. Das rumänische Verfassungsgericht erklärte die Richtlinie sogar für unvereinbar mit nationalem Recht. In Österreich wird gerade eine zweite Klage vor dem Verfassungsgericht vorbereitet. Die EU selbst reagierte auf die massive Kritik und Umsetzungsprobleme mit der Ankündigung, die Richtlinie grundrechtsfreundlich zu überarbeiten. Diese 2010 angekündigte Überarbeitung wird bis heute auf die lange Bank geschoben. Ein im April 2011 vorgelegter Evaluierungsbericht der EU listet selbst Mängel und Probleme bei der Umsetzung auf. Leider wird ein Rechtsgutachten der Kommission zur Änderungsrichtlinie unter Verschluss gehalten. Immerhin beauftragte die Kommission im Dezember 2011 ein Londoner Institut, das 'Quick-Freeze'-Verfahren in enger Zusammenarbeit mit dem Europarat zu begutachten. Ergebnisse sollen Anfang Mai 2012 veröffentlicht werden.
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  18. Es sei, so lobte EU-Kommissarin Viviane Reding das deutsche Quick-Freeze- Modell vergangenes Jahr, ein 'vielversprechender Lösungsansatz, um das richtige Gleichgewicht zwischen der Sicherheit unserer Bürger vor Terror und der Achtung ihrer Privatsphäre zu schaffen'. Wer, wie der Attentäter von Toulouse, ins Visier der Sicherheitsbehörden gerät, dessen Daten können nach diesem Ansatz gespeichert werden. Eine Herausgabe bedarf richterlicher Genehmigung. Die Daten unverdächtiger Bürger blieben hingegen unangetastet. Vorratsdatenspeicherung dagegen bedeutet: Das Mailen, Surfen, Telefonieren, Empfangen und Versenden von Kurznachrichten, jede Bewegung mit dem Handy, auf Vorrat und ohne Anlass von jedem Bürger für sechs Monate zu speichern.
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  20. Eine Überwachung der Telekommunikationsbeziehungen lässt Rückschlüsse auf die Inhalte zu. Die gespeicherten Datenverbindungen können zu einem ermittlungstechnischen Profil verbunden werden. Dann bedarf es nur einer falschen Ermittlung - und der unbescholtene Bürger hat sehr wohl etwas zu befürchten. Die Verletzung des Grundrechts, unbeobachtet zu bleiben, wird nicht dadurch gemindert, dass die Speicherung nur sechs Monate erfolgen soll.
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  22. Die Grundrechte werden ad absurdum geführt, wenn jeder Einzelne mit Hilfe der Telekommunikationsbeziehungen überwacht werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in seinem kritischen Urteil die EU-Richtlinie zur Grundlage gemacht, aber es ist erkennbar, dass das Gericht einem möglichen Konflikt mit europäischem Recht ausweichen wollte. In Kürze wird sich der Europäische Gerichtshof mit der Frage des Irischen High Court befassen müssen, ob die Richtlinie mit den europäischen Verträgen vereinbar ist. In einem kürzlich ergangenen Urteil hat das Gericht kritisch zur anlasslosen Überwachung Stellung genommen. Die Befürworter der Vorratsdatenspeicherung sollten dieses Urteil genau studieren.
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  24. Bislang verzichtet die schwarz-gelbe Bundesregierung auf jede europapolitische Gestaltung bei der Vorratsdatenspeicherung, etwa durch Einflussnahme auf die immer wieder verschobene Änderungsrichtlinie und auf die Festlegung eines verbindlichen Zeitplanes. Die EU-Kommission muss die Richtlinie grundlegend überarbeiten, in Richtung auf mehr Flexibilität für die Mitgliedsstaaten und einer strikten Orientierung an den europäischen Grundrechten. Quick-Freeze als Option muss in der neuen Richtlinie berücksichtigt werden. In der Euro-Krisenbewältigung prägt die schwarz-gelbe Koalition europaweite Lösungen. In der europäisierten Innenpolitik - wo es sich um massive Grundrechtseingriffe handelt - bleiben die Union und Angela Merkel untätig.
  25. Gerhart Baum, 79, war von 1978 bis 1982 Bundes-innenminister. Der FDP-Politiker gehörte zu den Initiatoren einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Vorratsdatenspeicherung. Foto: ddp
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  28. Quelle
  29. Verlag Süddeutsche Zeitung
  30. Datum Montag, den 16. April 2012
  31. Seite 2
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