Recht auf anonyme Kommunikation: Patrick Breyer reicht Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein [ergänzt am 04.09.2017]

Patrick Breyer, Bürgerrechtler und Mitglied der Piratenfraktion in Schleswig-Holstein, hat zusammen mit Jonas Breyer Beschwerde[1] gegen das deutsche Verbot des Vertriebs anonymer Prepaid-Handykarten beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht. Das Gericht bestätigte inzwischen den Eingang der Beschwerde unter dem Aktenzeichen 50001/12. Nachdem das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 24. Januar 2012 das Recht auf anonyme Kommunikation und einen anonymen Internetzugang nicht anerkannt hat, soll diese Frage nun vor dem EGMR geklärt werden.

»Die von SPD und Grünen 2004 eingeführte Zwangsidentifizierung aller Nutzer von Prepaidkarten muss gestoppt werden. Sie gefährdet die freie und unbefangene Kommunikation und Internetnutzung, die in unserer Gesellschaft unverzichtbar ist«, begründet Patrick Breyer die Beschwerde. »Anonymität ist essenziell für Presseinformanten, für die anonyme Äußerung unliebsamer Meinungen im Internet, für den vertraulichen Austausch von Geschäftsgeheimnissen, für die vertrauliche Koordinierung politischer Proteste, für die psychologische, medizinische und juristische Beratung sowie für Selbsthilfegruppen.«

»Zwei Drittel der EU-Mitgliedsstaaten verfolgen Straftaten erfolgreich auch ohne ein Generalverbot anonymer Handykarten«, erklärt der Jurist Jonas Breyer. »Weil Prepaidkarten in Deutschland legal auf Fantasie-Namen registriert, weitergegeben oder aus dem Ausland eingeführt werden können, führen die Identifizierungsdaten nach Angaben von Strafverfolgern ohnehin ›in aller Regel nicht weiter‹. Das Anonymitätsverbot ist daher ebenso nutzlos wie schädlich. Wenn der Staat die Kommunikation unbescholtener Bürger für gefährlich hält, dann wird der Staat selbst gefährlich.«

Die Beschwerdeführer rechnen sich in Straßburg gute Chancen aus. Der Europarat hat in einem Bericht bereits vor einer Entwicklung gewarnt, welche die »Kommunikationsfreiheit behindern kann, weil sie das Maß an Anonymität mindert, der sich Teilnehmer und Nutzer unter Umständen bei der Benutzung des Telefons bedienen wollen, indem sie gezwungen werden, ihre Identitäten offenzulegen«. [2] [3] [4]

Weitere Quellen

[1] Die Beschwerdeschrift im Volltext
[2] Council of Europe. Committee of Ministers. Recommendation R (95) 4
[3] Europarat. Ministerkomitee: Empfehlung zum Schutz persönlicher Daten im Bereich der Telekommunikationsdienste
[4] Informationen des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung

Wer sind die Beschwerdeführer?

Der Beschwerdeführer Patrick Breyer ist Bürgerrechtler, Datenschützer und Landtagsabgeordneter der Piratenpartei in Schleswig-Holstein. Er ist bereits gegen das Gesetz zur Vorratsspeicherung aller Verbindungsdaten erfolgreich vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Im Januar 2012 hat er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde gegen das „Gesetz zur Stärkung der Sicherheit in der Informationstechnik“ erhoben.

http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/528/79/lang,de/

http://www.patrick-breyer.de

Der Beschwerdeführer Jonas Breyer ist Jurist in Frankfurt (Main), Datenschützer und Mitglied im Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung.

Was sind die wichtigsten Argumente der Beschwerdeführer?

  • Der Identifizierungszwang ist nutzlos, weil Straftäter ihn routinemäßig umgehen (z.B. Angabe falscher Daten, Weitergabe bereits registrierter Karten, Nutzung anonymer ausländischer Karten). In 18 der 27 EU-Mitgliedsstaaten besteht kein Identifizierungszwang. Die EU-Kommission hat es 2011 mit der folgenden Begründung abgelehnt, einen Identifizierungszwang einzuführen: „Bislang wurden keine Nachweise für die Wirksamkeit der einzelstaatlichen Maßnahmen vorgelegt.“
  • Der Identifizierungszwang erschwert es technisch unbedarften Bürgern unzumutbar, ohne Furcht vor Nachteilen telefonische Beratung oder Hilfe in Anspruch zu nehmen, Straftaten anzuzeigen oder die Presse von Missständen in Kenntnis zu setzen. Dies kann Menschenleben kosten, z.B. wenn sich Straftäter aus Furcht vor Verfolgung nicht mehr anonym an die Telefonseelsorge werden können.
  • Auf der Straße und per Post kann man kommunizieren, ohne Namen und Geburtsdatum nennen zu müssen. Per Telefon oder über das Internet darf dies nicht anders sein.

Wer ist für den Identifizierungszwang verantwortlich?

Die entsprechende Regelung des Telekommunikationsgesetzes wurde vom Ministerium des damaligen SPD-Bundeswirtschaftsministers Wolfgang Clement entworfen. Der damalige SPD-Bundesinnenminister Otto Schily nahm starken Einfluss darauf. Verabschiedet wurde das Gesetz vom Bundestag 2004 mit den Stimmen von SPD, Grünen und CDU. Nur die FDP stimmte dagegen.

Wo finde ich weitere Informationen?

Ergänzung vom 17.08.2012:

Datenschützer unterstützen Klagevorstoß der Piraten (16.08.2012)

Ergänzung vom 12.02.2016:

Wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mitteilt, steht unsere Beschwerde gegen den Identifizierungszwang für Handykarten „demnächst zur Prüfung durch den Gerichtshof an.“

Ergänzung vom 08.06.2016:

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nach Prüfung der Zulässigkeit entschieden, die Bundesregierung zu einer Stellungnahme aufzufordern:

Ergänzung vom 03.10.2016:

Privacy International und Article 19 unterstützen unsere Beschwerde mit einem amicus curiae-Schriftsatz und erklären warum (englisch).

Ergänzung vom 04.09.2017:

Inzwischen ist die Verteidigungsschrift des Bundesjustizministeriums eingegangen und haben wir darauf erwidert. Der Gerichtshof hat seither noch nicht bekannt gegeben, wann verhandelt oder entschieden werden soll.

Prozessdokumentation mit allen Schriftsätzen

1 Stern2 Sterne3 Sterne4 Sterne5 Sterne (3 Bewertungen, durchschnittlich: 4,67 von 5)
Loading...
23.907mal gelesen

Beitrag per E-Mail versenden Beitrag per E-Mail versenden Seite drucken Seite drucken

Verwandte Artikel

Weitere Artikel zum Thema Datenschutz im Staatssektor, Juristisches, Metaowl-Watchblog, TKG-Verfassungsbeschwerde

10 Kommentare »


  1. Patrick Breyer » Recht auf anonyme Kommunikation: Pirat Breyer reicht Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein (Piratenpartei) - Klarmachen zum Ändern! — 15. August 2012 @ 23.44 Uhr

    [...] auch die Hintergrundinformationen auf [...]


  2. Jorgo — 16. August 2012 @ 11.50 Uhr

    Kann ich nicht nachvollziehen. Die Vertraulichkeit des nicht-öffentlichen Worts in Schrift und Ton ist bereits schützenswert und erfüllt den mit der Klage angestrebten Zweck. Aus dem Schutz des privaten Wortes aber auch einen Schutz der Identität des Äußernden konstruieren wollen, geht zu weit.


  3. Anonym mobilt? Piratenpartei agerar! « ameliaandersdotter.eu — 16. August 2012 @ 21.35 Uhr

    [...] German version of this press release: http://www.daten-speicherung.de/?p=4427 ← Internet, frihet och politik – en temakväll i […]


  4. Anonymous — 16. August 2012 @ 22.24 Uhr

    Weiter so Breyer-Brothers!


  5. AK Vorrat: Justizminister fordern Ausweiszwang für Prepaidkarten und Rücksetzung von Passwörtern - Ostfalen-Spiegel — 29. November 2012 @ 17.42 Uhr

    [...] Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gegen das deutsche Verbot anonymer Handykarten geklagt wird,[6] wollen die Justizminister bei dem Verkauf solcher Karten nun sogar “regelmäßig eine […]


  6. blognetnews » Verbot anonymer Sim-Karten: Datenschützer unterstützen Klage gegen deutschen Registrierungszwang — 4. Oktober 2016 @ 13.22 Uhr

    […] Beschwerde vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gegen den deutschen Identifizierungszwang für […]


  7. Prepaidkarten: Menschenrechtsgerichtshof entscheidet über Recht auf anonyme Kommunikation – Piratenpartei Deutschland — 30. Dezember 2016 @ 21.17 Uhr

    […] Ausweises verpflichten. Doch gegen das schon länger bestehende Verbot anonymer Prepaidkarten hat Patrick Breyer von der Piratenpartei Beschwerde eingereicht. Und nun hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (PDF) nach Prüfung der […]


  8. Gewinnspiel: Letzte Chance auf anonyme SIM-Karten – Piratenpartei Baden-Württemberg — 22. Juni 2017 @ 15.06 Uhr

    […] wir uns auch auch jenseits davon für eure Bürgerrechte ein. Der Pirat Dr. Patrick Breyer, hat eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht, um die Verfügbarkeit anonymer SIM-Karten weiterhin zu ermöglichen, eine Entscheidung steht noch […]


  9. Anonym kommunizieren trotz Ausweispflicht: PIRATEN stellen vorregistrierte Prepaid-SIM-Karten zur Verfügung – Patrick Breyer — 30. Mai 2019 @ 11.35 Uhr

    […] freigeschaltet werden. Seit 2012 liegt dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof eine Beschwerde von Dr. Patrick Breyer, Bürgerrechtler und Spitzenkandidat der Piratenpartei zur Europawahl, zur Entscheidung vor. […]


  10. Prepaidkarten: Menschenrechtsgerichtshof entscheidet über Recht auf anonyme Kommunikation – Patrick Breyer — 28. Januar 2020 @ 11.26 Uhr

    […] Hintergrundinformationen zur Beschwerde […]

RSS-feed für Kommentare zu diesem Beitrag · TrackBack-URI

Kommentieren Sie diesen Artikel


 
Stoppt die Vorratsdatenspeicherung! Jetzt klicken & handeln!Willst du auch bei der Aktion teilnehmen? Hier findest du alle relevanten Infos und Materialien: