Vorratsdatenspeicherung: Wir sind alle verdächtig

Nr. 12 –

Noch mehr Kontrolle? Justizministerin Simonetta Sommaruga will den Strafverfolgungsbehörden mit dem neuen Bundesgesetz zur Überwachung von Post- und Fernmeldeverkehr (Büpf) mehr Überwachung ermöglichen – mit falschen Argumenten und gefährlichen Konsequenzen, wie eine Auswertung der heutigen Praxis zeigt.

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Jedes Telefonat, jede Internetverbindung wird in der Schweiz für sechs Monate gespeichert. Nicht der Inhalt der Gespräche, aber fast alles andere: Wer ruft an? Wer kommuniziert mit wem? Wann? Wie lange? Und von wo aus? Diese Informationen werden von Schweizer Fernmeldedienstanbietern aufgezeichnet, also Telefonanbietern auf dem festen wie dem mobilen Netz sowie Access Providern, die einen Zugang zum Internet anbieten. Sie müssen diese «Randdaten» der Kommunikation von Gesetzes wegen auf Vorrat speichern, aufbewahren und an die Strafverfolgungsbehörden herausgeben, wenn diese ein Strafverfahren eröffnen.

Geregelt wird die Überwachung von Telefon, Handy und Internet im «Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs» (Büpf). Ende Februar hat Justizministerin Simonetta Sommaruga die Totalrevision des Büpf vorgestellt. Demnach sollen Vorratsdaten künftig nicht nur sechs, sondern zwölf Monate lang aufbewahrt werden. Auch sollen in Zukunft reine E-Mail- oder Hosting-Provider verpflichtet werden, Vorratsdaten zu speichern. Das Gesetz wird vermutlich in der zweiten Jahreshälfte dem Parlament vorgelegt.

In Europa stark umstritten

Die Idee dahinter ist so einfach wie gefährlich: Die Provider werden angehalten, möglichst viele Informationen über die BürgerInnen zu sammeln und zu speichern – für den Fall, dass diese später unter Verdacht geraten, an einem Strafdelikt beteiligt gewesen zu sein. Die Strafverfolgungsbehörden hoffen, dass ihnen die Vorratsdaten nachträglich nützlich sind, um Delikte aufzuklären.

Was in der Schweiz seit 2002 praktiziert und nun verschärft werden soll, ist in anderen europäischen Staaten stark umstritten. Der Bundesrat betont in seiner Botschaft, dass man sich an einer EU-Richtlinie orientiert habe. Diese Richtlinie aus dem Jahr 2006 verpflichtet alle EU-Mitgliedsländer zur Speicherung von Vorratsdaten. Allerdings ist sowohl das irische wie auch das österreichische Verfassungsgericht an den Europäischen Gerichtshof gelangt, um die Frage klären zu lassen, ob die Vorratsdatenspeicherung mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar sei. In Deutschland wurde 2010 nach heftigen Protesten ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig erklärt.

Und doch will der Bundesrat den Staatsanwaltschaften und Polizeien mehr Kompetenzen geben. In der Gesetzesbotschaft bezeichnet er die Vorratsdatenspeicherung als «zur Bekämpfung der Kriminalität absolut unabdingbar» – Zahlen, die einen Zusammenhang zwischen Speicherung und Aufklärungsrate belegen, ist er bisher aber schuldig geblieben. Anfang 2012 machte der deutsche Chaos Computer Club gar eine Studie des renommierten Max-Planck-Instituts für das deutsche Bundesjustizministerium publik, nach der die Vorratsdatenspeicherung für die Verbrechensbekämpfung nicht notwendig sei.

Der Dienst Üpf, der bei den Fernmeldedienstanbietern die verlangten Daten einholt und sie an Strafverfolgungsbehörden weitergibt, veröffentlicht jährlich eine Statistik über sämtliche Überwachungen, die angeordnet wurden – sowohl über die Echtzeitüberwachungen, bei denen Gespräche mitgehört und Nachrichten mitgelesen werden, als auch über die «rückwirkenden Überwachungen», wie der Abruf von Vorratsdaten bezeichnet wird. Zudem werden auch sogenannte Auskünfte gesammelt, von einfachen Abfragen von Telefonnummern bis hin zur Identifikation einer IP-Adresse.

Wie stark haben die Überwachungen mit Vorratsdaten zugenommen? In welchen Kantonen wurden 2012 am meisten Überwachungen angeordnet? Welche Geräte wurden am häufigsten überwacht? Wegen welcher Delikte? Und wie viele Rasterfahndungen gab es? Die WOZ hat die Daten ausgewertet.

•  Insgesamt haben die Überwachungen mit Vorratsdaten überproportional zugenommen und machten letztes Jahr 6960 von insgesamt 10 193 Überwachungen aus, also 68 Prozent. 1998, als die Statistik erstmals veröffentlicht wurde, wurden nur 1951 rückwirkende Überwachungen angeordnet, letztes Jahr waren es 6960 – ein Anstieg um über 250 Prozent. Der weitaus überwiegende Teil bezieht sich auf die Mobiltelefonie; 2012 wurde dabei 73-mal die Rasterfahndung eingesetzt.

•  Wenn der Überwachungsapparat ausgebaut werden soll, wird dies fast immer mit denselben drei oder vier Verbrechensbereichen begründet, die man entschieden bekämpfen möchte: Terrorismus, Kinderpornografie und kriminelle Organisationen. Diese Delikte waren allerdings nur für einen Bruchteil der Überwachungen ursächlich: 2,3 Prozent der Überwachungen erfolgten wegen Verdachts auf Terrorismus (239 Fälle), 0,4 Prozent wegen Kinderpornografie (41 Fälle) und 0,8 Prozent wegen krimineller Organisationen (79 Fälle nach Strafgesetzbuch Artikel 260ter).

•  Allerdings wurde in 42 Prozent aller Überwachungen (4280 Fälle) wegen Drogenhandels ermittelt, von denen ein grosser Teil der organisierten Kriminalität zugerechnet werden könnte. Fast ein Drittel aller Überwachungen (3282 Fälle) erfolgte wegen Finanzdelikten, vornehmlich Raub, Diebstahl und Betrug.

•  Mit Abstand am meisten Überwachungen wurden im Kanton Genf veranlasst, sowohl in absoluten Zahlen wie auch im Verhältnis zur Bevölkerungsgrösse. Der Kanton Genf überwachte beinahe dreimal so häufig wie in den nachfolgenden Kantonen. In drei Vierteln der Fälle stützten sich die Behörden auf Vorratsdaten – nur bei einem Viertel wurde eine Echtzeitüberwachung beantragt. Dabei ging es in 41 Prozent aller Fälle um Drogenhandel.

•  Die Bundesanwaltschaft hingegen ermittelte in erster Linie wegen Verbrechen gegen den öffentlichen Frieden, dabei ging es in 78 Fällen um Ermittlungen gegen eine kriminelle Organisation.

Wozu das Ganze?

Gegenwärtig gibt es in der Schweiz 4,6 Millionen Telefonhauptleitungen, über 10 Millionen Mobiltelefone sind registriert, 80 Prozent der Bevölkerung nutzen das Internet. Die Vorratsdatenspeicherung stellt sie alle unter Generalverdacht – ungeachtet der Frage, ob die Strafverfolgungsbehörden die Daten am Ende überhaupt zur Aufklärung von Verbrechen benötigen. Als Justizministerin Simonetta Sommaruga Ende Februar das neue Gesetz vorstellte, sagte sie, es sei ihr klar, dass «Schlagwörter wie ‹Fichenskandal› oder ‹Big Brother› – oder in meinem Fall jetzt ‹Big Sister›» schnell fallen würden. Sie wolle deshalb klarstellen, dass das Büpf «nichts mit präventiver Überwachung» zu tun habe. In der Botschaft zum neuen Gesetz heisst es zur Vorratsdatenspeicherung: «Diese Daten werden auf ‹Vorrat› für allfällige künftige Strafuntersuchungen aufbewahrt und sind zur Bekämpfung der Kriminalität unerlässlich.» Gäbe es eine bessere Beschreibung für «präventive Überwachung»?

Die den abgebildeten Grafiken zugrunde liegenden Daten sind hier abrufbar: