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Bild: F.A.S., AFP (4), dpa, EPA (3)

Woran ist Jamaika wirklich gescheitert?

Von PETER CARSTENS, THOMAS GUTSCHKER, FRIEDERIKE HAUPT, LYDIA ROSENFELDER und VOLKER ZASTROW

27.11.2017 · Die Jamaika-Verhandlungen sind vorbei. Aber was wurde da eigentlich gespielt? Haben die Grünen Punkte gesammelt und die CSU ihr Blatt ausgereizt? Spielte die FDP mit gezinkten Karten, oder hat Angela Merkel zu hoch gepokert? Waren die Verhandlungen vor dem Ziel oder längst auf dem falschen Weg? Innenansichten eines gescheiterten Experiments.

A m Mittwoch, einen Tag bevor die Sondierungen eigentlich enden sollten, saßen Angela Merkel, Peter Altmaier und Armin Laschet zusammen. Es war schon spät, alle anderen waren längst weg. Die drei CDU-Politiker tranken Wein und redeten. Es ging um ein zentrales Thema der Sondierungen. Die Grünen verlangten den Kohleausstieg, nicht komplett, aber doch so weit, dass Deutschland seine Klimaschutzziele für das Jahr 2030 einhalten kann. Um wie viel müsste man die Kraftwerksleistung dafür vermindern? Nach Ansicht von Union und FDP würden drei bis fünf Gigawatt reichen. Die Grünen nannten viel höhere Werte: acht bis zehn.

Die Bundeskanzlerin mahnte: „Wir können Jamaika nicht an ein paar Gigawatt scheitern lassen.“ Sie hatte sich einen Kompromiss überlegt: sieben Gigawatt. Laschet schluckte. Zwei Herzen schlagen in seiner Brust. Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen musste an die heimische Schwerindustrie denken. Die Strompreise könnten steigen, Arbeitsplätze wegfallen. Doch gleichzeitig wollte der liberale Christdemokrat Jamaika. Schon lange träumte er davon, einmal mit den Grünen zu regieren.

Merkel erinnerte an die Geschichte: daran, wie 1930 die große Koalition der Weimarer Republik zerbrach, weil sich die SPD sträubte, die Arbeitslosenversicherung um einen Viertelprozentpunkt zu kürzen. Es war das Aus für den letzten sozialdemokratischen Reichskanzler, Hermann Müller, drei Jahre später kam Hitler an die Macht. Helmut Schmidt erzählte oft davon, von ihm hat Merkel die Episode. Laschet gab sich einen Ruck: Okay, dann bieten wir eben sieben an.

Sieben Gigawatt also. So trug es Merkel am nächsten Tag vor, Donnerstag, in der Runde der Verhandlungsführer. Christian Lindner, der FDP-Chef, wurde nervös. Er hatte fest auf Laschet gesetzt: Beide regieren ja zusammen in Nordrhein-Westfalen, sind sogar befreundet. Lindner schickte eine Kurznachricht an Laschet: Du akzeptierst das? Laschet bejahte und begründete es, er schickte fast dieselbe Nachricht auch an Merkel. Die las sie dann sofort in der Runde vor: „Die Zahl würde ich trotz aller Bedenken akzeptieren, mit Sozialbedingungen. Zahl im Text reicht, Weg müssen wir nicht vorschreiben.“ Da musste Lindner klar sein: Er hatte Laschet verloren, seinen wichtigsten Verbündeten in der CDU. Merkel hatte sich durchgesetzt. Mal wieder.

Christian Lindner begrüßt Armin Laschet vor den Sondierungsgesprächen. Bild: AFP

In der FDP weckte das düstere Erinnerungen. Ein FDP-Mann sagt, es gehöre zur DNA seiner Partei, in Verhandlungen mit Merkel misstrauisch zu sein – seit die FDP nach vier Jahren schwarz-gelber Regierung aus dem Bundestag geflogen war. Die Vorstellung, man habe ein gemeinsames Projekt mit der Union, habe sich damals als Illusion erwiesen. Nun sei „Vorsicht an der Bahnsteigkante“ angesagt.

Und nach einigen Wochen des Sondierens waren die FDP-Leute nicht mehr nur vorsichtig, sondern alarmiert. Manche von ihnen hatten den Eindruck, Merkel wolle ihre Vorstöße „abmoderieren“. Sie sahen die Grünen bevorzugt, sich selbst benachteiligt. Und ein Bekenntnis zu einer gemeinsamen Idee, einem gemeinsamen Ziel hatten sie auch noch nicht vernommen.

Nach Sondierungsmarathon: Wolfgang Kubicki schimpft über fehlendes Vertrauen. Video: Reuters

Aber nicht nur die FDP misstraute Merkel. Auch andere Sondierer belauerten einander. In den vergangenen Wochen hatten immer wieder Tweets und Interviews für Unfrieden gesorgt. Oft diskutierten die Politiker darüber, wer nun schon wieder etwas ausgeplaudert habe. Und warum. So hatten etwa Lindner, Andreas Scheuer und Cem Özdemir Papiere aus den Sondierungen fotografiert und getwittert. Eine Grünen-Politikerin hatte irgendwann das Gefühl, es wäre besser, wenn nun mal alle ihre Telefone wegschmissen und nur noch miteinander redeten. Nichts sollte mehr nach außen dringen. Es wurde aber nie ernsthaft über eine PR-Pause gesprochen.

Christian Lindner während einer Pause der Sondierungen auf dem Balkon der Parlamentarischen Gesellschaft Bild: dpa

Merkel selbst gab nichts preis. Einmal kam Lindner in eine Verhandlungsrunde und sagte, er habe gesammelte Pressestimmen mitgebracht und wolle darüber reden. Teilnehmer erinnern sich, wie Merkel daraufhin sagte: Am besten schalten Sie Ihre Handys aus und lesen nicht alles, was in der Presse steht.

A m Donnerstag hatte Lindner keine Pressestimmen dabei; aber ein Handout. Das verteilte er in der Runde zur Europapolitik. Es waren Auszüge aus dem Koalitionsvertrag in den Niederlanden. Die anderen wunderten sich: Was soll das denn werden?! Lindner las ein paar Stellen vor: Die Regierung lehnt die gemeinsame Finanzierung von Schulden in der Europäischen Union ab; sie will keinen Mechanismus, um wirtschaftliche Erschütterungen in einem Eurostaat abzufedern. Der Regierungschef in den Niederlanden ist ein Rechtsliberaler, Mark Rutte. Seine christlich-linksliberalen Koalitionspartner haben sich seinen Wünschen gefügt. Lindner schlug vor, die Formulierungen zu übernehmen, in einem Punkt sogar noch weiter zu gehen.

Reinhard Bütikofer von den Grünen winkte ab: Es habe doch keinen Sinn, jetzt ideologische Debatten auszutragen. Auch die Unionspolitiker fanden, bei aller Sympathie für eine klare Haltung, dass Deutschland nicht mit den Niederlanden vergleichbar sei.

Aber die FDP war mit anderen Plänen in den Wahlkampf gezogen. In ihrem Wahlprogramm stand sogar, dass der in der Euro-Krise geschaffene Stabilitätsmechanismus ESM „kontinuierlich wieder zurückgefahren wird und dieser langfristig ausläuft“. Die Union sieht das anders, sie will den Rettungsschirm zu einem Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln, damit Europa unabhängig wird vom Internationalen Währungsfonds in Washington. Diese Pläne stoßen in Brüssel auf großen Widerhall, neuerdings auch in Paris.

Zwei Europapolitiker der FDP, Alexander Graf Lambsdorff und Michael Theurer, hatten heftig protestiert, als der Passus zum ESM plötzlich im Parteiprogramm stand. Theurer soll gar damit gedroht haben, aus der Partei auszutreten. Er blieb dann doch. Der Passus aber auch. Daraus ergab sich für Theurer, Lambsdorff und auch Volker Wissing aus Rheinland-Pfalz in den Sondierungen eine nahezu absurde Situation: Sie sollten einen Standpunkt vertreten, den sie selbst aus innerster Überzeugung ablehnten. Nach der ersten Besprechung in der Arbeitsgruppe war das Ende des ESM vom Tisch – aber schon in der zweiten wieder Thema. Lindner hatte darauf bestanden. Unionsleute berichten: Es seien Sätze gefallen wie „Das können wir so nicht machen, sonst macht Lindner gar nicht mehr mit“ oder scherzhaft: „Ihr kommt dann aber zu unserer Beerdigung.“ Mehrmals ging das so. Die Fachpolitiker waren gedemütigt. Erst als der FDP-Chef es wollte, wurde die ESM-Position geräumt.

Alexander Graf Lambsdorff und Michael Theurer unterhalten sich am 17.05.2015 beim Bundesparteitag der Freien Demokraten (FDP) in Berlin. Bild: dpa

Wie war der Punkt ins Wahlprogramm der FDP gekommen? Ein Flügel der FDP hatte ihn hineingeschrieben, der in den letzten Jahren öffentlich kaum noch Beachtung fand: die Eurokritiker rund um Frank Schäffler und Hermann Otto Solms. Sie hatten 2011, als die FDP noch in der Regierung war, einen Mitgliederentscheid gegen den ESM angestrengt und verloren. In den vergangenen Jahren gehörte Solms zu den entscheidenden Leuten beim Wiederaufbau der FDP. Er hatte die Aufgabe, der Partei frisches Geld zu beschaffen, den eisernen Sparkurs in der Parteizentrale durchzusetzen. Das hat er geschafft. Zugleich war Solms schon 2009 der Verlierer: Seine Steuerreform zerfiel zu Asche, den Posten als Finanzminister verpasste er. Kaum jemand in der FDP-Delegation stand Merkel so skeptisch gegenüber wie er.

Möglicherweise hatten Union und Grüne den Einfluss und auch die Skepsis von Solms unterschätzt. Mit Grünen-Begriffen wie „faire Wärme“ oder „atmender Rahmen“ kann er wenig anfangen. Umgekehrt ist Solms mit 77 Jahren in einem Alter, wo man sich nicht dauernd mit detaillierten Klimaprognosen befassen möchte. In der entsprechenden Arbeitsgruppe saß ihm der Klima-Nerd Anton Hofreiter gegenüber. Das konnte nicht passen. Solms bestimmte aber vor allem in der Finanz- und Europapolitik den Kurs.

Otto Solms, Nicola Beer, Christian Lindner und Wolfgang Kubicki (v. l.) von den Freien Demokraten (FDP) Bild: dpa

Lambsdorff machte aber nicht nur der Kollege Solms zu schaffen. Er litt unter dem Verfahren der Verhandlungen. Er hätte es bevorzugt, dass die Chefs erst mal verabreden, was in den Arbeitsgruppen ausgearbeitet wird. Die FDP wäre dazu bereit gewesen, sie ist ohnehin voll auf Lindner ausgerichtet. Aber die Grünen hätten das Verfahren niemals akzeptiert. Ihre Gruppe aus 14 Sondierern, die sich selbst die „Wilde 14“ nannte, repräsentierte alle Strömungen und Regionen der Partei in einem ausgewogenen Verhältnis. Alle sollten zum Zuge kommen, alle ihre Punkte machen. Und es klappte ja auch, sogar mit Jürgen Trittin. Nur so wäre der Grünen-Parteitag Ende November zu bestehen gewesen.

E s war jetzt schon Donnerstag Abend; die Nacht brach herein. Eigentlich hatte man fertig sein wollen mit den Sondierungen. Aber ein Ende war noch nicht in Sicht. Gegen halb zwei zogen die acht Verhandlungsführer – Merkel, Kauder, Seehofer, Dobrindt, Lindner, Kubicki, Özdemir und Göring-Eckardt – sich gemeinsam in einen Salon zurück. Das Rauchverbot wurde aufgehoben, Wein geordert. Man wollte Bilanz ziehen. Jede Partei sollte sagen, wo die Gespräche aus ihrer Sicht stehen und wo noch verhandelt werden muss. Lindner zählte auf, was er bisher alles nicht bekommen hatte: flexiblere Arbeitszeitregelung, Aufhebung des Kooperationsverbots, Einschränkung der Vorratsdatenspeicherung. Einer entgegnete: Du hast den Soli, das nehmt ihr mit nach Hause! Mehreren Teilnehmern war aber klar, dass das zu dünn war. Merkel holte Thomas de Maizière in die Runde, den Innenminister, und gab ihm den Auftrag, bei der Vorratsdatenspeicherung etwas auszuarbeiten, sie sollte nicht mehr anlasslos möglich sein. De Maizière verzog das Gesicht, er hält diese Form der Überwachung für dringend notwendig. Aber er fügte sich.

4.34 Uhr: Die Sondierungsgespräche gehen in die Verlängerung – und viele am frühen Morgen erst einmal schlafen. Die Grüne Katrin Göring-Eckardt stellt den Stand der Dinge trotz der Uhrzeit ihrer Basis vor.

Etwas später in dieser Nacht setzte Seehofer an, vorsichtig, denn es ging um ein heikles Thema: den Familiennachzug. Ja, man wisse, dass der nur mit den Stimmen der Grünen im Bundestag weiter ausgesetzt werden könne. Und man schätze es hoch, dass die Grünen sich beim Thema Migration bewegen würden. Also werde sich auch die CSU beim Familiennachzug bewegen. Seehofer fragte sodann die Grünen, ob sie einen Vorschlag machen wollten. Göring-Eckardt und Özdemir kamen gar nicht dazu, eine Antwort zu formulieren. Lindner grätschte dazwischen: Wenn die CSU bei diesem Thema umfalle, werde die FDP stehen. Sie übernehme dann die CSU-Position. Zu hundert Prozent.

Özdemir und Göring-Eckardt waren baff: Was ist das jetzt hier? Warum gab Lindner ausgerechnet bei diesem Thema den Hardliner? Im FDP-Wahlprogramm stand kein Wort zum Familiennachzug. Oder war Lindner einfach klargeworden: Jamaika wird nicht mehr an der CSU scheitern, so dass er das Projekt selbst an die Wand fahren musste?


Nächstes Kapitel:

Familiennachzug



Die Spitze der CDU empfand Lindners Vorstoß als „sehr krass“ und „sehr überraschend“. Alexander Dobrindt, Chef der CSU-Landesgruppe, wandte sich an Seehofer und sagte: Schau, das passiert, wenn wir uns bewegen. Die FDP holt uns rechts ein. Dobrindt war in den drei Wochen zuvor vor allem als Skeptiker, Bremser und gelegentlich derber Diskutant aufgefallen. Seehofers Entgegenkommen schien ihm nicht sonderlich zu gefallen.

Von Lindners Vorstoß überrascht: Andreas Scheuer, Horst Seehofer und Alexander Dobrindt (v. l.) Bild: EPA

In dieser Donnerstagnacht in der Parlamentarischen Gesellschaft war die Stimmung nach Lindners Ansage wie vereist. Was dann folgte, wird als „sehr harte halbe Stunde“ beschrieben. Man machte Lindner klar: Mit dieser Haltung kann nie etwas werden aus Jamaika. Göring-Eckardt trug noch einmal die grüne Sicht vor: Wir können einer Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs nicht zustimmen. Lindner, unter Druck, beschwichtigte schließlich. Man möge bitte diesen Teil des Gespräches streichen, vergessen. Sonst hätte man wohl abbrechen müssen. Die Runde vertagte sich auf Freitag, die Sondierungen gingen in die Verlängerung. Doch die Szene, Lindners Szene, konnte keiner vergessen.

Bevor in dieser Nacht alle die Parlamentarische Gesellschaft verließen, ging Özdemir noch einmal zu Lindner. Özdemir ist Pragmatiker. Er bewundert es, wie Lindner die FDP aus der Versenkung geholt hat. Die beiden duzen sich. Wer allerdings behauptet, Lindner und Özdemir seien Duzfreunde, bekommt zur Antwort, das Duzen komme bloß daher, dass beide in Aachen den „Orden wider den tierischen Ernst“ bekommen hätten. Das verpflichtet quasi zum du. „Christian, was brauchst du von uns? Was können wir für Dich tun?“, fragte Özdemir. Lindner schüttelte den Kopf, er sah dem Grünen nicht in die Augen.

Duzen sich, aber sind nicht per du: Cem Özdemir und Christian Lindner, hier mit Horst Seehofer und Angela Merkel Bild: AFP

Während der vergangenen Stunden hatten die anderen Sondierer der Dinge geharrt. Jeder Partei war ein Raum zugeteilt, in den sie sich zurückziehen konnte. Im FDP-Raum wurde Lindner sehnlich erwartet; man hielt sich mit Kaffee wach, las, redete mit den Leuten von CDU und CSU, die auch warteten. Die Stimmung war im Keller. Aber immerhin, dachten die FDP-Leute, würde Lindner nun mit den anderen Chefs die „Dissenssammlung“, eine lange Liste mit den Streitpunkten, durchsprechen. Als Lindner endlich zurückkam, erzählte er, es sei gar nicht um das Papier gegangen, man habe nur über den Familiennachzug gestritten. Die FDP-Sondierer fühlten sich und ihre Partei nicht ernst genommen: Man schreibt wochenlang Papiere, und dann geht es gar nicht um die.

Als Lindner kurz vor fünf am Freitagmorgen die Parlamentarische Gesellschaft verließ, nahm er große Worte in den Mund. „Wir sind heute ganz viele Schritte weitergekommen“, sagte Lindner den wartenden Journalisten. Ein solches „historisches Projekt“ dürfe nicht an ein paar fehlenden Stunden scheitern. Von einem Projekt hatte er bis dahin nie gesprochen.

Bei den FDP-Unterhändlern herrschte ein anderer Eindruck: Die Sache ist gescheitert. Ein FDP-Mann sagt, dass er am Freitagmorgen ins Bett gegangen ist in der festen Überzeugung, in den nächsten Stunden würde das Ende der Sondierungen auch öffentlich verkündet. Er legte sich kurz schlafen.

Nach dem Aufwachen, es war nun Freitagvormittag, schaute der FDP-Mann auf sein Handy. Journalisten hatten ihm SMS geschrieben: Woran hängt es? Was sind die Themen, über die ihr streitet? Der Politiker wunderte sich, dass draußen der Eindruck entstanden war, es hänge nur noch an einzelnen Themen. Er rief die Journalisten an und sagte: Es hängt an allem: Wenn ich nicht ganz falsch liege, „ist es das gewesen“. Er schätzte zu diesem Zeitpunkt die Wahrscheinlichkeit, dass die Sondierungen doch noch erfolgreich verlaufen würden, „bei unter zwei Prozent, eher unter einem Prozent“ ein.

F reitag Mittag traf sich Lindner zu einem Gespräch mit Merkel und Seehofer im Konrad-Adenauer-Haus. Er sagte, dass er wenig Sinn in einer Fortsetzung der Gespräche sehe. Merkel fragte ihn, ob er noch wolle. Er antwortete, er wisse nicht, „ob wir das je wollten“. Die FDP halte einen erfolgreichen Ausgang der Sondierung für „wenig wahrscheinlich“. Lindner forderte, dass Union und FDP in dieser Frage eng beieinanderblieben. Sein Ziel: die Gespräche gemeinsam abbrechen. Merkel lehnte das ab. Seehofer wollte ebenfalls weitermachen. Aber anders als Merkel, die der FDP und ihrem Vorsitzenden in den Verhandlungen meistens kühl begegnete, zeigte Seehofer Verständnis für Lindners Haltung.

FDP-Leute bekamen Kurznachrichten aus ihrer Parteispitze: Ob sie heute Abend zu diesen und jenen Themen verhandeln könnten? Einer erzählt, er sei erleichtert gewesen, dass es anscheinend doch noch eine Chance auf Einigung gab. Seine Heimreise, die er schon geplant hatte, stornierte er.

Die Verhandlungen waren für alle nicht einfach; aber für Politiker der FDP manchmal noch schwieriger. Sie litten darunter, dass sie in den letzten vier Jahren keine Basis im Bundestag gehabt hatten. Achtzig Abgeordnete, drei Viertel davon Neulinge. Das ist ein Nachteil, der sich bemerkbar machte.

Auch in der Union gab es diese Einschätzung. Die FDP sei schockiert gewesen, wie tief die Fachpolitiker in die Themen eingestiegen seien, sagt ein CSU-Abgeordneter. Aus der CDU hört man, einige FDP-Mitarbeiter hätten überfordert gewirkt und nicht auf der Höhe der Zeit, was die Gesetzeslage angeht. Schon zu Beginn der Sondierungen hatte der amtierende Finanzminister Altmaier der FDP darum angeboten, auf Mitarbeiter des Ministeriums zuzugreifen, vor allem auf welche mit FDP-Parteibuch, um von ihnen Unterstützung zu bekommen, falls sie Fragen hätten oder andere Zuarbeit brauchten. Von diesem Angebot machten sie Gebrauch, die Versorgung mit Zahlenwerk lief ordentlich.

Politikern von CDU und Grünen ist ein Auftritt von Nicola Beer besonders im Gedächtnis geblieben: Ganz zu Anfang der Sondierungen habe man in großer Runde zusammengesessen, es ging um zwölf Themen. Jede Partei durfte zu jedem Thema drei Minuten reden. CDU, CSU und Grüne ließen jeweils den reden, der fachlich zuständig war. Die FDP ließ zu allen Punkten nur Generalsekretärin Nicola Beer sprechen. Sie habe „das FDP-Wahlprogramm wie eine Audiokassette runtergespult“, während die anderen Sitzungsteilnehmer in Statements versucht hätten, aufeinander einzugehen. Ein Kabinettsmitglied berichtet, wie intensiv es sich auf seinen Vortrag vorbereitet habe. Und dann sei als Antwort eine kurze Beer-Vorlesung aus dem Parteiprogramm erfolgt.

Andreas Scheuer, Nicola Beer und Andreas Tauber verlassen die Parlamentarische Gesellschaft nach ersten Sondierungen im Oktober. Bild: EPA

Ein FDP-Bundestagsabgeordneter, der nicht mitsondiert hat, sagt, er sei „sehr froh“, dass die Sondierungen gescheitert seien. Dafür gebe es inhaltliche Gründe, aber auch organisatorische: Die Partei wäre in Schwierigkeiten geraten, wenn sie, gerade erst wieder im Parlament, gleich in der Regierung gelandet wäre. Man habe ja derzeit nur „Massenbüros ohne richtige Infrastruktur“. In der gesamten FDP-Delegation gab es keinen Bundeswehrexperten.

Es gab aber auch FDP-Leute, die ihren Mitsondierern positiv auffielen, wegen ihres guten Willens und ihrer Kompetenz: Lambsdorff, Theurer und Wissing bei Europa und Finanzen, Andreas Pinkwart aus Nordrhein-Westfalen bei Bildung und Klima/Energie. Einmal musste die Klima-Arbeitsgruppe ihre Sitzung unterbrechen, weil der Ex-Professor Pinkwart per Skype einen Examenskandidaten an seiner alten Uni prüfte. Dem drückten alle die Daumen. Sie baten Pinkwart, sich bei dem Studenten in aller Namen für die entstandenen Unannehmlichkeiten zu entschuldigen.

Am Freitagnachmittag kam Merkel zur Lindner-Delegation in den Raum Ludwig Erhardt und ermutigte alle zum Weiterreden. Die Grünen seien schwierig, Stichwort „Stuhlkreis“, und sie wisse, dass manchmal der Eindruck entstehe, sie und Katrin Göring-Eckardt seien einander besonders nahe wegen biographischer Ähnlichkeiten. Aber das sei oberflächlich.

Biographische Ähnlichkeiten: Katrin Göring-Eckardt und Angela Merkel Bild: SINGER/EPA-EFE/REX/EPA

Die Fachverhandlungen an diesem Freitag ergaben aus Sicht der FDP-Leute wenig bis gar nichts Neues. Sie registrierten zwar „das erkennbare Bemühen, die Probleme mit Geld zuzuschütten“, aber kein Entgegenkommen bei ihren eigentlichen Anliegen.

A m nächsten Tag, dem Samstag, stellte sich Lindner morgens vor die Journalisten, die auf die Sondierer warteten. Er verkündete ein Ultimatum: Morgen, Sonntag, 18 Uhr, müsse Schluss sein. An diesem Samstag trafen sich die zwölf Arbeitsgruppen ein letztes Mal. Abends waren sie durch mit dem, was sie besprechen wollten. Was jetzt noch offen war, konnten nur die Parteivorsitzenden entscheiden. Ein FDP-Politiker sagte zu seinem CDU-Kollegen: „Ich habe das ungute Gefühl, es wird viel Kraft aufgewendet, um die Grünen ins Boot zu holen. Und die CDU übersieht, dass sie bei dieser Gelegenheit die FDP wieder aus dem Boot herausdrängt.“ Hinzu kam der Eindruck, die Union biete nur an, was sie selbst im Wahlprogramm stehen habe. „Das zeigt mir, dass die Union das nicht ernsthaft wollte. Oder sie glaubte, sie bekäme die FDP billiger.“ Aber in den Beratungen hätte sie doch merken können, dass es der FDP um die Sache gehe, und nicht darum, auf irgendeinen Ministerposten zu kommen. Einer der jüngeren, aber wichtigen Leute aus der FDP sagt, die Union-Spitze habe sie immer nur wie „taktischen Beifang“ behandelt. Von Lindner wird berichtet, dass er gut nachmachen könne, wie Volker Kauder die Arme vor der mächtigen Brust verschränkt und gönnerhaft verkündet: „Für die FDP haben wir dann auch noch was Schönes.“

Angela Merkel und Volker Kauder bei Sondierungsgesprächen der Jamaika-Koalition Bild: AFP

Viele freuten sich am Samstagabend, dass die oft enervierenden Diskussionen in den Arbeitsgruppen endlich vorbei waren. Besonders den Frauen waren die lauten Töne und Empörungsrituale unangenehm gewesen. Eine junge Grünen-Abgeordnete sagt, Göring-Eckardt und Merkel hätten das Gekläffe am Tisch stoisch ertragen. In dieser Ausnahmesituation, unter Stress und Schlafmangel, zeigten die Leute, so empfand sie es, ihr wahres Gesicht. Eine andere Grünen-Abgeordnete mutmaßt: Hätten die ganze Zeit nur Frauen verhandelt, wäre die Kanzlerin jetzt schon gewählt. Und noch eine Abgeordnete erzählt von Sitzungen, in denen die Stimmung überraschend gut war. Zum Beispiel in der Runde über Familienpolitik, in der zwanzig Leute saßen. Dort sei intensiv zur Sache diskutiert worden. Von der FDP war Katja Suding mit dabei. Bei den Verteidigungspolitikern verstanden sich die konservative Ursula von der Leyen und die junge Grüne Agnieszka Brugger sehr gut.

Die Sondierungsvereinbarung, Stand Samstag, 19.15 Uhr, war 61 Seiten lang. Aus FDP-Sicht „das Dokument des Misstrauens“. Das Papier enthielt immer noch 237 eckige Klammern. Auf diese hohe Zahl wird Lindner sich nach dem Scheitern der Gespräche beziehen. Sie kam so zustande: Wenn alle vier Parteien zu einem Streitpunkt unterschiedliche Meinungen vertraten, wurde jede einzelne in Klammern notiert. Es gab also viel weniger Konflikte als Klammern. Außerdem waren die Klammern dazu da, eigene Positionen zu dokumentieren – selbst da, wo man sich inoffiziell schon geeinigt hatte. So stand der Abzug der in Deutschland lagernden amerikanischen Atombomben bis zum Schluss im Text. Die Grünen wollten das so, denn darauf würde ihre Basis achten. Aber intern hatten sie signalisiert, dass sie diese Geschichte in Koalitionsverhandlungen schnell abräumen würden. Und Koalitionsverhandlungen hatten noch nicht mal begonnen. Lindner ärgerte sich auch über Allgemeinplätze, die andere dann als Lösungen verkauften. Ein Beispiel: Die FDP wollte unbedingt das Rentenalter flexibler gestalten, früher raus oder länger in den Betrieben bleiben, das sollten Firmen und Arbeitnehmer selbständiger entscheiden können. In den Papieren heißt es dazu: „Wir wollen uns mit weiteren Möglichkeiten der Flexibilisierung der Rente beschäftigen.“ Die FDP fühlte sich abgespeist.

Jürgen Trittin telefoniert in einer Pause der Sondierungsgespräche auf dem Balkon. Bild: AFP

Als die Unterhändler sich am Samstagabend verabschiedeten, gab es plötzlich Aufregung. FDP-Leute rannten zu Unionskollegen: Jürgen Trittin habe der „Bild am Sonntag“ ein Interview gegeben, da seien mehrere „Bomben“ drin. Die Grünen-Spitze wusste schon davon.

A m Sonntagmorgen fuhr Christian Lindner vor der baden-württembergischen Landesvertretung vor. Unter dem Arm: die „Bild am Sonntag“. Trittin warf der FDP einen „immer euroskeptischeren Kurs“ vor. Er bezichtigte Union und FDP, „weiter Waffen in den Krieg im Jemen“ liefern zu wollen. Außerdem sei geplant, die Hand des französischen Präsidenten Macron auszuschlagen. Schließlich, so Trittin, sei beim Klimaschutz erst weniger als die Hälfte des Notwendigen erreicht. Lindner fand das Interview empörend.

Auch andere in der FDP waren wütend. Erstens wegen dem, was Trittin gesagt hatte. Und zweitens darüber, dass ausgerechnet Trittin es gesagt hatte. Man hatte ohnehin den Eindruck gewonnen, es gebe eine enge Zusammenarbeit zwischen dem CDU-Mann Altmaier und Trittin. Trittin erschien nicht nur als besonders linker Grüner, sondern auch als besonders wichtiger Gesprächspartner der Union.


Nächstes Kapitel:

Nur Detailfragen?



Kaum in der Landesvertretung angekommen, bat Lindner zu einem Gespräch. Teilnehmer: er selbst, Kubicki, Merkel, Kauder, Seehofer und Dobrindt. Die Grünen, die sich schon im Kaminzimmer im zweiten Stock eingefunden hatten, wurden gebeten abzuwarten. Lindner wollte das Trittin-Interview gegenüber Merkel und Seehofer als Beleg dafür nutzen, dass mit den Grünen nichts gehe, trotz aller Versuche. Er verkündete den anderen: „Wir wissen nun genug, um eine Entscheidung zu treffen. Die lautet: Wir wollen den Weg nicht fortsetzen.“ Es gebe „keine gemeinsame Vertrauens- und Wertebasis“.

Merkel, Seehofer, Dobrindt und Kauder stärken sich nach den Sondierungsgesprächen für die Jamaika-Koalition. Bild: dpa

An diesem Sonntagmorgen forderte Lindner die Union auf, gemeinsam mit der FDP die Gespräche abzubrechen. Merkel entgegnete: Nein, sie wolle es weiterprobieren. Seehofer ermunterte Lindner, „mit Stil und Anstand den Tag zu bestreiten“. Seehofer wollte auch Rücksicht nehmen auf Fachleute aus den Kommunen, die man für diesen Tag eingeladen hatte. Die mochte er nicht verprellen. Im Kanzleramt vermutete man später, die FDP habe durch den gemeinsamen Ausstieg den Grünen den Schwarzen Peter zustecken wollen. Weil die eben zu links seien. Dabei hätten die Freien Demokraten wohl auf die CSU gesetzt. Doch das habe nicht funktioniert, weil die Grünen „zu sehr wollten. Die wollten wirklich.“ Union und Grüne hätten einander „nichts geschenkt. Aber an diesem Spiel hat sich die FDP nicht wirklich beteiligt.“

Gegen Mittag kehrte Lindner zurück zur wartenden FDP-Delegation. Die war allerdings schon dezimiert; Lambsdorff und Theurer etwa, die beiden Europapolitiker, waren gar nicht mehr anwesend. Beide verwiesen auf private Termine, als Sondierer anderer Parteien nach den Gründen fragten. Ein CDU-Kollege sagte: „Wir hätten alle private Termine gehabt und sind trotzdem gekommen.“ Er wollte wissen, was die Abreise zu bedeuten habe, und bekam zur Antwort: „Das können Sie sich ja wohl denken.“

Lindner und seine Leute diskutierten am Sonntagmittag fast eine Stunde; dann beschlossen sie, die Gespräche fortzusetzen. Ab ein Uhr tagten die Verhandlungsführer im Kaminzimmer.

Auch auf Vorschlag von Lindner entschieden sie sich dafür, jetzt erstmal nicht weiter an den Details herumzutüfteln, sondern über die großen Linien zu sprechen: Was wollen wir hier eigentlich erreichen, was ist zentral? Die CDU nannte die Außenpolitik, die CSU das Thema Migration, die Grünen das Thema Klima, die FDP Europa. Das Gespräch verlief jetzt lockerer, die Stimmung hellte sich auf, auch bei Lindner. Seehofer versprach der FDP, sie beim Soli zu unterstützen. Fast euphorisch kehrte Lindner gegen halb fünf Uhr zu seiner Verhandlungsdelegation – etwa zehn Leute im Saal Baden – zurück. Die Stimmung dort war plötzlich wie ausgewechselt, sagt ein Teilnehmer der Runde. Zum ersten Mal seit Tagen, vielleicht sogar überhaupt, schien der FDP-Vorsitzende optimistisch, dass sich die Mühe doch lohnen könnte. Im Nachhinein glaubt Lindner, das sei Wunschdenken gewesen.

Anderthalb Stunden wurde nun wieder in den Parteien beraten. Wer nicht gerade verhandeln musste, durfte sich stärken. In der baden-württembergischen Landesvertretung gab es am Sonntag Käsespätzle, Kürbissuppe und belegte Brötchen. Die waren aber abends aufgegessen. Politiker scherzten: Der Kretschmann will uns aushungern, damit wir zu einem schnellen Ergebnis kommen. CSU-Leute gingen zur nächsten Tankstelle und besorgten Chips, Erdnüsse und Salzstangen. Gerd Müller stand damit vor der Tür zum FDP-Raum, um die Freien Demokraten mit Snacks zu versorgen.

Allerdings war eine besonders heikle Frage immer noch nicht geklärt: die des Familiennachzugs für Bürgerkriegsflüchtlinge. Nun war Volker Bouffier gefragt, der als hessischer Ministerpräsident seit Jahren geräuschlos eine schwarz-grüne Koalition führt. Bouffier hatte sich schon seit längerem Gedanken darüber gemacht, wie man sich bei diesem Thema einigen könne. Er hatte dazu einen Vorschlag verfasst, der als „Bouffier-Papier“ kursierte. Anders als sonst oft, wurde dazu nichts durchgestochen. Bouffier bestand auf Vertraulichkeit, er besteht bis heute darauf.

Besteht auf Vertraulichkeit beim Thema Familiennachzug: Volker Bouffier Bild: dpa

Die Arbeitsgruppe hatte wesentliche Elemente ihres Kompromisses aus dem Papier übernommen. So akzeptierten die Grünen, dass Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsländer eingestuft wurden. Mehr noch, wenn bei einem Land die Anerkennungsquote für Flüchtlinge unter fünf Prozent lag, dann sollte es ebenfalls wie ein sicheres Herkunftsland behandelt werden. In der Praxis heißt das, die Verfahren werden stark verkürzt – und das für weite Teile Afrikas. Ein Riesenerfolg für die Union. Auch bei der Obergrenze wurde eine Lösung gefunden. Die Grünen akzeptierten die von der Union vereinbarte magische Ziffer. Die grüne Formel lautete: „Seit der Wiedervereinigung hat die Zahl der Flüchtlinge insgesamt nur in fünf Jahren 200 000 überschritten. Deswegen wollen wir in diesem Rahmen auch in Zukunft handeln, gerade mit Blick auf die Integrationsfähigkeit in den Kommunen.“

Beim Familiennachzug konnten die Grünen nicht auch noch zurückstecken. Die CSU musste sich bewegen. Seehofer hatte schon Donnerstagnacht seine Bereitschaft signalisiert. Bouffier vermittelte, er redete mit Seehofer und mit Claudia Roth und schlug vor: Der Familiennachzug wird für ein weiteres Jahr ausgesetzt, bis nach der bayerischen Landtagswahl. Danach könne man im Rahmen der 200 000 den Nachzug ermöglichen – je nachdem, wieviel Luft noch bliebe. Härtefälle würden vorgehen. Roth hatte immer noch Bauchschmerzen: Für die Grünen-Basis sei das alles schwer zu schlucken. Bouffier bekam keine Zusage von ihr. Er nahm aber ein Gefühl mit: Die Grünen würden es daran nicht scheitern lassen, wenn das Gesamtpaket stimmte

Claudia Roth begrüßt Horst Seehofer vor der Fortsetzung der Sondierungsgespräche. Bild: dpa

Um halb acht ging die Runde der Verhandlungsführer weiter. Doch bewegte man sich aus Lindners Sicht schon wieder rückwärts; die Enttäuschung kehrte ebenfalls zurück. Zum Beispiel hatte die Gruppe der Europa-Verhandler sich mühsam darauf geeinigt, die europäischen Finanzinstrumente nicht weiter auszubauen. Ein Budget für die Eurozone sollte es nicht geben, jedenfalls nicht außerhalb des EU-Haushalts. Das wollte Merkel nicht akzeptieren. Sie machte den Konsens wieder auf, obwohl er zwischen allen Partnern feststand. Merkel selbst hält zwar auch nicht allzu viel von einem solchen Budget, sie lehnt größere Summen ab. Aber sie dachte an Emmanuel Macron.

Der französische Präsident hatte mit der Forderung nach einem Haushalt für die Eurozone seinen Wahlkampf bestritten. Und während der Sondierungen hatte er seinen Finanzminister nach Berlin geschickt, um genau so etwas zu verhindern: eine einseitige Festlegung in einem Koalitionsvertrag, die Verhandlungen zwischen Paris und Berlin unmöglich machen würde. Merkel bestand auf einer Formulierung, die ihr da Spielraum ließ. Für Lindner ein Affront. Er hatte im Wahlkampf gesagt: Eine „Geld-Pipeline aus Deutschland in andere EU-Staaten wäre mit der FDP nicht zu machen.“

Auch beim Soli lief es nicht so, wie Lindner wollte. Die Formel, die auf dem Tisch lag, reichte ihm bei weitem nicht. Und bei der Aufhebung des Kooperationsverbots hatte es so ausgesehen, als lenke Kretschmann ein. Jetzt sagte Seehofer: Nein, ausgeschlossen.

Die Union ging dagegen auf einen Vorschlag der Grünen ein: Sie wollten das Freihandelsabkommen mit Kanada im Bundestag nicht ratifizieren, 95 Prozent wären freilich trotzdem in Kraft geblieben. Kubicki empörte sich, es war kurz nach neun, und erklärte: „Ich gehe jetzt.“ Lindner schickte um 21.12 Uhr eine SMS an seine Delegation draußen: „Es wird hier scheitern.“

Hochemotional, und ohne Vertrauen: Christian Lindner Bild: AP

Eine halbe Stunde später kehrte er zurück in den FDP-Raum. Ein FDP-Mann beschreibt Lindners Stimmung zu dem Zeitpunkt: Er sei hochemotional gewesen, sehr wütend, habe null Vertrauen mehr gehabt zu den anderen Parteien. Er habe sich in eine Falle gelockt gefühlt: Entweder die FDP macht mit und ist dann in einem Formelkompromiss gefangen wie 2009. Oder sie macht nicht mit und ist dann die unmenschliche Partei, die beim Familiennachzug nicht mitgespielt hat, also angesichts trauriger Kinderaugen hart geblieben ist.

Lindner dann zu seinen Leuten: Ihr habt mir gesagt, ich solle weiter verhandeln. Das habe ich getan. Jetzt sagt mir: Was sollen wir machen? Zwei Mitglieder des Präsidiums antworteten: „Es hat keinen Zweck mehr.“ Ein Nordrhein-Westfale stimmte zu: „So ist das für uns nicht tragbar.“ Schließlich war man sich einig: abbrechen. Lindner skizzierte mit blauem Schreiber auf Papier, was er gleich den anderen Verhandlungsführern und dann den Journalisten sagen wollte. Die FDP-Leute feilten gemeinsam an den Sätzen. Dann hockte Lindner sich an einen Laptop, Kubicki zu seiner Rechten, und tippte ab: „Wir haben Stunden, Tage und Wochen miteinander gerungen. Heute am Tage länger, als wir uns vorgenommen hatten. Wir haben als Freie Demokraten zahlreiche Angebote zum Kompromiss unterbreitet ...“ Als er fertig war, druckte ein Mitarbeiter das Papier aus. Mit diesem Zettel kehrten Lindner und Kubicki zu Merkel und den anderen ins Kaminzimmer zurück.


Nächstes Kapitel:

Kein Vertrauen



Auch die Grünen hatten sich auf die letzte Runde dort vorbereitet. Ihre Haltung war gewesen: Wir schnüren jetzt ein Paket, bei dem jeder Partner auf seine Kosten kommt. Die Union soll einen Kompromiss bei der Migration bekommen. Allerdings wurde der heikelste Punkt, Familiennachzug, nicht erwähnt. Beim Kohleausstieg sollte nun Merkels Angebot, sieben Gigawatt, ausdrücklich akzeptiert werden. Gegenüber der CSU waren die Grünen sogar bereit, die Mütterrente zu unterstützen; die CSU wollte sie ab dem dritten Kind, die FDP erst ab dem vierten Kind. Und die Grünen? „Whatever it takes“, sagte einer ihrer Unterhändler. Koste es, was es wolle.

Reporter warten in Berlin auf Statements zur Fortsetzung der Sondierungsgespräche vor der CDU Zentrale. Bild: dpa

Die FDP sollte beim Soli ein Zugeständnis bekommen. Zum einen sollte nun doch festgeschrieben werden, dass er bis 2024 komplett abgeschafft wird – eine gesetzliche Bindung über die Legislaturperiode hinaus. Das hatte Lindner immer wieder verlangt. Außerdem war man bereit, auch beim Volumen für die nächsten vier Jahre noch draufzulegen: zwölf statt zehn Milliarden Euro. Neunzig Prozent der Bürger hätten dann schon in vier Jahren keinen Cent mehr zahlen müssen, das hatte Altmaier im Finanzministerium ausrechnen lassen.

Während die Chefs sich versammelten, vertrieben sich viele andere Politiker die Zeit im Foyer. Da aßen und tranken sie was, unterhielten sich. FDP-Leute wurden von den anderen gefragt, wie es denn jetzt aussehe? „Na, wie soll es schon aussehen.“

G egen elf begann oben die letzte Runde. Auf dem Tisch lag der Zettel mit den Punkten, die der FDP die Sache erleichtern sollten. Die kamen gar nicht mehr zur Sprache. Seehofer begann: Eine Einigung sei möglich. Lindner ergriff das Wort: Es habe keinen Sinn mehr. Merkel: Er solle das inhaltlich begründen. Die anderen mahnten: Man müsse jetzt Verantwortung für Deutschland und Europa übernehmen. Sie beschrieben, was jetzt schon alles erreicht worden war. Özdemir: Lass uns über den Soli reden, wir können da noch was machen. Lindner: Es fehlt das Vertrauen, es reicht schon jetzt nicht, was wäre erst bei einer Krise? Über das, was dann geschah, gibt es verschiedene Darstellungen. Die einen sagen, Merkel habe auf ihr Handy geschaut: Sie sehe, die Presse melde es schon. Andere sagen, sie habe Lindner bloß gefragt, ob er seine Erklärung schon an die Presse gegeben habe.

Lindner sagte, er wolle, dass man im Guten voneinander scheide. Er und Kubicki standen auf, gaben allen die Hand und verließen das Zimmer. Sie blieben einen Augenblick vor der Tür stehen, die sie hinter sich geschlossen hatten. Es war etwa Viertel vor zwölf.

Drinnen waren sie baff. Manche mehr, manche weniger. Merkel hatte von Anfang an und während der gesamten Sondierungen immer wieder das Gefühl gehabt: Die FDP will nicht. Dazu trugen auch öffentliche Äußerungen Lindners bei. Aber es gab auch immer wieder konstruktive Phasen, vor allem in den Arbeitsgruppen. Die Grünen waren zwar anstrengend, aber sie wollten. Die FDP dagegen strahlte aus: „Ihr nervt uns“ – die Methodik der Sondierungen, besonders die grüne Art, alles wieder und wieder durchzukauen. Aber es war doch auch viel Strittiges abgeräumt worden. Zum Beispiel beim Soli. Da hätte Lindner sein Ziel, mit etwas Verzug, zu 100 Prozent erreicht. Kurzum: Lindner wollte nicht.

Lange Gesichter: Statement von Horst Seehofer und Angela Merkel in der Landesvertretung Baden-Würtemberg Bild: Matthias Lüdecke

Die Politiker im Kaminzimmer sprachen sich Unterstützung zu. Man verstehe einander jetzt besser, ein schwarz-grünes Bündnis sei näher gerückt. CDU und CSU versicherten einander ebenfalls, dass sie jetzt wieder einiger seien.

Lindner war inzwischen schon von seinen Leuten angesimst worden: Das dauere aber jetzt verdächtig lange. Doch kein Abbruch? Als er und Kubicki das Kaminzimmer verlassen hatten, simsten sie zurück: „Wir kommen und gehen.“ FDP-Fraktionssprecher Nils Droste bekam das Signal, er könne jetzt die Deutsche Presse-Agentur anrufen. Der teilte er mit, dass die Sondierungen gescheitert seien. Um 23.48 Uhr schickte die Agentur eine Eil-Meldung in die Redaktionen: „FDP-Fraktionssprecher: Liberale brechen Jamaika-Verhandlungen ab“.

Nach dem Abbruch der Sondierungen: Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt für die Grünen Bild: Matthias Lüdecke

Grüne, die nicht in der Schlussrunde saßen, erhielten per Chat-Nachricht die Info. Viele hatten bis dahin noch an ein erfolgreiches Ende der Gespräche geglaubt und im Kopf durchgespielt, wie sie das Ergebnis dem Parteitag am Wochenende verkaufen würden. Eine Grüne erzählt, es habe schon seit Donnerstag Gerüchte gegeben, dass die FDP die Sondierungen platzen lassen würde. Aber Gerüchte gab es viele.

Einige Grüne hatten die Chat-Nachricht noch gar nicht gelesen, weil sie und Kollegen aus den anderen Parteien im Foyer zusammenstanden und ein Glas Wein tranken. Die erlebten dann, wie Lindner mit Kubicki die Treppe runterkam und seinen Leuten „Wir gehen jetzt!“ zurief. Die Grünen verstanden nicht: Was sollte das? Überrascht nahmen sie zur Kenntnis, dass die FDP-Leute auf Lindners Ansage vorbereitet waren, jedenfalls sofort ihre Rollkoffer und Mäntel schnappten und ohne Diskussion aufbrachen. Das wirkte befremdlich auf die Grünen, weil dieselben Politiker ja eben noch mit ihnen herumgestanden und nichts von Aufbruch erzählt hatten.

FDP macht Schluss: „Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Video: Reuters

Um 23.49 Uhr trat Lindner draußen vor die wartenden Journalisten. Während er vor den Kameras sprach, scharten sich im Foyer Politiker der Union und der Grünen um einen Fernseher. Sie wollten wissen, was passiert war. Man drehte den Ton lauter. „Sind die verrückt?“, rief einer. Die Parteichefs sahen von oben aus zu. Den Text, den Lindner aufsagte, kannten sie schon. Danach unterrichteten sie ihre Leute und kamen noch einmal zusammen. Die Reaktionen wurden abgestimmt. Und dieses: dass man gemeinsam vor die Kameras treten werde. Als es so weit war, applaudierten die Grünen der Union, die Union den Grünen.

13 Minuten nach Mitternacht twitterte die FDP eine Bilddatei, pinke Schrift vor gelbem Hintergrund: „Lieber nicht regieren als falsch.“ Auch auf Facebook veröffentlichte sie das. Die Metadaten der Datei – es kam die Zahlenfolge 171116 vor, also das Datum vom Donnerstag – deuteten darauf hin, dass die Datei schon erstellt worden war, lange, bevor die Sondierungen scheiterten. In den sozialen Netzwerken sorgte das für Aufregung. Hatte die FDP tagelang nur so getan, als hoffe sie noch auf Einigung? FDP-Sprecher Droste tritt diesem Vorwurf entgegen. Tatsächlich sei die Datei für den Donnerstag vorbereitet worden, weil für Donnerstagabend das Ende der Sondierungen angesetzt gewesen sei. Zugleich habe man für den Fall, dass weiter sondiert würde, die Datei mit dem Slogan „Veränderung braucht Mut“ vorbereitet – und dann auch am frühen Freitagmorgen gepostet. Für den Fall eines erfolgreichen Abschlusses habe man vorbereitet: „Ein Anfang ist gemacht.“ Das wurde dann nie verwendet.

Sonntagnacht verabschiedeten sich die Politiker von CDU, CSU und Grünen, nachdem sie ihre Statements vor der Presse abgegeben hatten. Viele wollten ihren Gefühlen Luft machen. Seehofer schüttelte jedem Grünen einzeln die Hand. Volker Kauder, CDU, umarmte Britta Haßelmann, Grüne. Katrin Göring-Eckardt schickte eine letzte Nachricht durch den Grünen-Verteiler: „Ich gehe jetzt schlafen.“ Viele spürten nur noch eine „Leere im Kopf“. Andere blieben noch bis zwei, redeten, um irgendwie runterzukommen. Liberale aus der zweiten Reihe schrieben Nachrichten an Grüne, mit der Bitte, weiter in Kontakt zu bleiben.

Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer gepanzerten Limousine vor dem Konrad-Adenauer-Haus Foto: dpa

Zu dem Zeitpunkt war die FDP-Delegation längst weg. Einer der führenden CSU-Leute, so wird berichtet, habe Lindner zum Abschied umarmt und gesagt: „Das macht ihr richtig.“

War es Alexander Dobrindt? Sondierungsteilnehmer berichten von besonders guten Beziehungen zwischen Lindner, Dobrindt und Jens Spahn. Manche nennen sie sogar „eine Achse“. Die drei hätten einander die Bälle zugespielt. Dobrindt und Spahn zogen beide 2002 in den Bundestag ein, Lindner und Spahn kennen sich noch aus Zeiten, in denen der eine bei den Jungen Liberalen und der andere bei der Jungen Union war. Daraus wurde eine Freundschaft. Sie gehen dann und wann gemeinsam essen, trinken auch mal bis spät in die Nacht. Christian Lindner will mit seiner Frau als Mieter in Spahns Eigentumswohnung in Berlin-Schöneberg einziehen