EU-Rat will anlasslose Vorratsdatenspeicherung – Deutschland macht mit

Am 7. Juni 2019 wird der EU-Rat über die weitere Planung für eine Vorratsdatenspeicherung von Kommunikationsdaten abstimmen. Konkrete Vorschläge gibt es nur für anlasslose Massenüberwachungen und Deutschland will mitmachen. Wir veröffentlichen die Pläne.
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Detailaufnahme eines Smartphones, welches in einer Hand gehalten wird.

Am 7. Juni 2019 wird der Rat der EU über die weitere Planung einer EU-weiten Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten abstimmen (Themenvorschau als PDF). Konkrete Vorschläge gibt es nur für anlasslose Massenüberwachungen – das sollte Deutschland nicht mittragen. Einen Tag davor, am 6. Juni 2019, wird es in der EU-Kommission ein Gespräch mit Nichtregierungsorganisationen zu dem Thema geben.

Überwachung mit aller Macht

Deutschland will der Planung einer neuen Vorratsdatenspeicherung zustimmen – trotz Urteilen des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts, laufender Verfassungsbeschwerden und Studien, die die Gefahren und Nutzlosigkeit der Vorratsdatenspeicherung belegen. Untersuchungen der Fälle Amri und des NSU haben offengelegt, dass es nicht an Überwachung mangelt – das Problem liegt in Fehlern von Behörden.

„Es gibt nach zwei Jahren Reflexionsprozess keinen Vorschlag, der unserer Einschätzung nach den Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs entspricht,“ sagt Friedemann Ebelt von Digitalcourage. „Vorratsdatenspeicherungen sind in freien Demokratien nicht machbar.“

Europol-Dokumente: Maximal-Überwachung

Europol-Dokumente belegen, dass Hardliner eine nur symbolisch beschränkte Vorratsdatenspeicherung wollen. Mit der „beschränkten“ Vorratsdatenspeicherung ist tatsächlich eine anlasslose Massenüberwachung der gesamten Bevölkerung geplant.
Minimale Einschränkungen in der Datenspeicherung sollen sicherstellen, dass das Vorhaben nicht wieder vom Europäischen Gerichtshof gekippt wird. Lediglich irrelevante Daten wie die Antennenlänge sollen nicht erfasst werden, und Berufsgeheimnisträger.innen sollen sich auf Antrag von der Vorratsdatenspeicherung ausnehmen lassen können. Die deutsche Bundespolizei wehrt sich gegen jede Einschränkung der Vorratsdatenspeicherung.
Im November 2018 forderten bereits einige EU-Mitgliedsstaaten eine umfassende Massenüberwachung von Kommunikation (siehe auch WK 948 18).
Im Rat wird, soweit einsehbar, keine Lösung diskutiert, die nicht auf exzessive Überwachung setzt.

Verantwortlich für die Verhandlungen für eine neue Massenüberwachung in der EU von deutscher Seite sind die Bundesregierung unter Angela Merkel (CDU), das Innenministerium unter Horst Seehofer (CSU) und das Justizministerium unter Katarina Barley (SPD).

Einseitige Verhandlungen im EU-Rat

Uns liegen neben Europol-Dokumenten das Arbeitspapier WK 3113/2019 vom 8. Mai 2019 und das Dokument 7833/3/19 REV 3 vom 20. Mai 2019 vor. Letzteres (kann gegebenenfalls in aktualisierter Form online beantragt werden).

Die Dokumente aus Mai 2019 stellen den Abschlussbericht eines seit Anfang 2017 laufenden „Reflexionsprozess“ zum TELE2-Urteil dar, der von Anfang jedoch das Ziel verfolgte, neue Wege für eine EU-weite Vorratsdatenspeicherung zu finden. Der Rat will durch eine weitere Studie und durch Konsultationen in den nächsten Jahren zu einer Lösung für eine Vorratsdatenspeicherung gelangen. Allerdings soll die Studie die Ergebnisse des bisherigen „Reflexionsprozesses“ explizit berücksichtigen. Das ist ein Problem, denn bisher liegt kein Vorschlag vor, der unserer Einschätzung nach den Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs entspricht.

Vorratsdatenspeicherung ist in freien Demokratien nicht machbar!

Im Rat wird nicht darüber verhandelt, wie Menschen in der EU vor Überwachung geschützt werden können und welche grundrechtsschonenden, datensparsamen und minimalinvasiven Optionen möglich sind. Stattdessen wird im Rat eine vermeintlich „verhältnismäßige, notwendige und transparente“ Massenüberwachung nach dem Maximalprinzip angestrebt:

  • Keine Transparenz: Über die Initiative für eine weitere Massenüberwachung in der EU wurden NGOs, der Presse und der Öffentlichkeit nur sehr wenige oberflächliche Dokumente zugänglich gemacht. Viele unserer Transparenzabfragen wurden abgelehnt.
  • So viele Daten wie möglich: Die Europol-Dokumente belegen, dass so viele Daten wie nur irgend möglich von so vielen Menschen wie möglich so lange wie möglich gespeichert werden sollen. Nach einem wirkungslosen Ausschlussprinzip soll lediglich auf vollkommen irrelevante Daten, etwa die Länge von Antennen, verzichtet werden. (Wir haben berichtet.)
  • Urteil des EU-Gerichtshofes überdehnen: Obwohl der EUGH die Richtlinie für eine EU-Vorratsdatenspeicherung für unvereinbar mit der Grundrechtecharta erklärt hat, starten die EU-Staaten einen neuen Anlauf für eine Vorratsdatenspeicherung. Bis aufs äußerste strapazieren sie dabei die Grenzen vorangegangener Urteile.
  • Überwachung bei allen möglichen Delikten: Telekommunikationsdaten sollen auf Vorrat gespeichert werden für die Untersuchung von Kriminalität, wobei Terrorismus und „cyber crime“ nur Beispiele sind. Die in früheren Dokumenten noch diskutierte Beschränkung auf „schwere Kriminalität“ wurde ersatzlos gestrichen.
  • Überwachungsgesamtrechnung fehlt: Es besteht bereits ein großer Überwachungsdruck. In Deutschland speichern einige Telekommunikationsanbieter Verbindungsdaten, entsprechend dem geltenden Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. Viele EU-, Bundes- und Landesgesetze schreiben Uploadfilter, Staatstrojaner und andere Überwachungsmaßnahmen vor. Das Bundesverfassungsgericht forderte in seinem Urteil 2010 zur Vorratsdatenspeicherung, dass neue Überwachungsgesetze immer im Kontext mit bereits existierenden beurteilt werden müssen. ( … mehr zur Überwachungsgesamtrechnung)
  • Schutz der Grundrechte kaum beachtet: Im zwei Jahre laufenden Reflexionsprozess ist es den Delegierten nicht gelungen, eine tragbare Lösung zur Beschränkung der Anlasslosigkeit einer Vorratsdatenspeicherung zu finden. Dies hatte der EuGH in seinem TELE2-Urteil jedoch explizit gefordert. Auch bleibt unklar, wie Berufsgeheimnisträger.innen vor einer Überwachung geschützt werden sollen.
  • Vorratsdatenspeicherung steht rechtsstaatlicher Ermittlung im Weg: Eine anlasslose Massenüberwachung mit Vorratsdatenspeicherung steht echten Lösungen für gezielte Ermittlungen im Weg: Eine minimalinvasive, anlassbezogene, räumlich, zeitlich und personell beschränkte Speicheranordnung wäre zielführender und mit Grundrechten vereinbar.
  • Privatisierung von Überwachung: Geplant ist eine verstärkte Überwachungs-Partnerschaft mit privaten Unternehmen. Wie diese ausgestaltet werden soll, geht aus den uns vorliegenden Dokumenten nicht hervor. Gemeint sein könnte, dass die Regierungen der EU-Mitgliedsländer die ePrivacy-Verordnung, die aktuell verhandelt wird, ausnutzen wollen, um darin eine private Vorratsdatenspeicherung zu verankern (wir berichteten). Das ist absurd, denn die ePrivacy-Verordnung sollte ein Datenschutzgesetz sein, das die Bevölkerung vor Tracking schützt.
  • Auch Diensteanbieter wie WhatsApp betroffen: Auch sogenannte Over-the-top Services (OTTs) sollen von der neuen Vorratsdatenspeicherung erfasst werden. Das betrifft beispielsweise Messenger und Videochat-Programme. (Wir berichteten).
  • ePrivacy-Verordnung wird ausgebremst und zu einem Vehikel für private Vorratsdatenspeicherung gemacht: Die aktuell verhandelte ePrivacy-Verordnung dürfe einer Vorratsdatenspeicherung nicht im Wege stehen, heißt es in dem Beschlussentwurf. Dies deckt sich mit den früher vorgebrachten Forderungen der Mitgliedsstaaten (siehe auch WK 948 18). Schon seit Jahren bremsen diese das Gesetzesvorhaben aus, um in der geplanten ePrivacy-Verordnung eine Hintertür für Vorratsdatenspeicherung offen zu lassen und der Wirtschaft Geschäftsmodelle weiterhin zu ermöglichen, die auf ausufernder Verarbeitung von Daten – beispielsweise Standortdaten – beruhen.

Verfassungsbeschwerde von Digitalcourage

Digitalcourage, der Arbeitskreis gegen Vorratsdatenspeicherung (AKV) und 20 prominente Betroffene hatten am 28. November 2016 eine Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung in Karlsruhe eingereicht. Dazu wurden mehr als 29.000 Unterschriften von Bürgerinnen und Bürgern, die sich gegen die anlasslose Überwachung aussprechen, überreicht.
Im Februar 2018 hat das Gericht die Beschwerde angenommen. Digitalcourage will mit der Verfassungsbeschwerde die Ende 2015 in Deutschland beschlossene Massenüberwachung von Internet- und Telefonkommunikation kippen.

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