Kinderschutz: Vorratsdatenspeicherung hilft nicht weiter

Ein Bericht des Innenministeriums NRW zeigt, was gegen sexuellen Missbrauch an Kindern getan werden muss. Anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist dafür nicht nötig.

Auf der 212. Konferenz der Landesinnenminister wurde unter anderem die „Bekämpfung von Kindesmissbrauch / Kinderpornografie“ diskutiert, siehe innenministerkonferenz.de. Dort legte das Innenministerium NRW einen 33 Seiten langen Bericht der Stabsstelle „Revision der kriminalpolizeilichen Bearbeitung von sexuellem Missbrauch an Kindern und Kinderpornografie“ vom 21. April 2020 vor.

In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Vorratsdatenspeicherung gefordert. Gegen diese Form der anlasslosen Massenüberwachung kämpfen wir seit vielen Jahren. Gleichzeitig wollen wir natürlich nicht Ermittlungen im Wege stehen, wenn Grausamkeiten gegen Kinder verhindert werden können. Deshalb haben wir den Bericht für euch gelesen und stellen fest: Die darin genannten plausiblen und wirksamen Maßnahmen kommen ohne Massenüberwachung aus, die in Rechtsstaaten und Demokratien ohnehin nichts zu suchen hat.

Mit unserer Verfassungsbeschwerde wollen wir Vorratsdatenspeicherung in Deutschland und der EU verhindern.
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Was also hat dieser Bericht zum Erfolg von Ermittlungsverfahren und zum Instrument Vorratsdatenspeicherung zu sagen?

Die Ermittlungen in NRW

Drei der größten aktuell diskutierten Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern wurden in NRW aufgedeckt: Lügde, Münster und Bergisch Gladbach. Nach den Ermittlungspannen in Lügde hat NRW-Innenminister Herbert Reul das Personal zu diesem Thema mehr als verdoppelt. Nun wird bundesweit ermittelt.

Ein Grund für die Ermittlungserfolge in NRW ist die „Ausrichtung der NRW-Polizei auf den kriminalpolitischen und kriminalstrategischen Schwerpunkt 'Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs/der Kinderpornografie'“. Der Bericht benennt Schwachstellen, bereits errreichte Verbesserungen und weiteres Handlungspotenzial bei Ermittlungen in diesem Bereich:

  • Ein Problem sei die „vergleichbar nur geringe Anzeigebereitschaft bei sexuellem Missbrauch“.
  • Aufgrund von „exponentiell steigenden Datenmengen (Massendaten) im Deliktsbereich“ ist eine computergestützte „Auswertung von Darstellungen des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ notwendig.
  • Die Stabsstelle hat festgestellt, dass „die NRW-Polizei über keine leistungsfähige und landesweite Auswerteinfrastruktur verfügt“, woraufhin entsprechende Verbesserungen beschlossen wurden.
  • Hoch problematisch sind Bearbeitungsrückstände von Fällen: „Zum Stichtag 31.03.2019 … in den Kreispolizeibehörden … 557 nicht vollstreckte Durchsuchungsbeschlüsse, davon 85 älter als drei Monate“ (Anmerkung von Digitalcourage: Der 31.3.2019 war zu Beginn der Ermittlungen in Lügde. Der Missbrauchsskandal in Bergisch Gladbach wurde erst im November 2019 aufgedeckt, der in Münster erst 2020. Die Zahlen dürften heute also deutlich höher sein.)
  • Der Bericht bemängelt eine „grundsätzlich defizitäre Personalsituation“ und erläutert, in welchem Rahmen bereits Personal aufgestockt wurde.
  • Mangelhaft ist ebenso: „in Teilen zu wenig Betreuungs- und Begleitungsangebote (z. B. Supervision)“, die „defizitäre Raumsituationen sowie unzureichende Technik.“
  • Die polizeilichen Kapazitäten bewertet der Bericht als unzureichend: „Die eingesetzten Stellenanteile sowie Sachmittel der NRW-Polizei für die Bekämpfung der Kinderpornografie und des damit einhergehenden sexuellen Missbrauchs sind unzureichend. (…) Folge ist, dass die seit Jahren zunehmende Anzahl an Verfahren und insbesondere exponentiell zunehmenden Datenmengen zu deutlich verlängerten Verfahrenslaufzeiten führen und damit das möglichst frühzeitige Erkennen von ggf. anhaltenden Missbrauchstaten und deren Beendigung erschweren. Das ist aus Opfersicht und unter fachlichen Gesichtspunkten nicht hinnehmbar.“
  • Bis Ende 2020 soll erreicht werden, „dass Bearbeitungsrückstände grundsätzlich nicht weiter entstehen und Verfahren der Kinderpornografie künftig regelmäßig mit Eingang bearbeitet werden können oder zumindest eine qualifizierte Erstbewertung zur Priorisierung (Hinweise auf einen möglichen andauernden sexuellen Missbrauch ja/nein) erfolgt.“
  • Zum Erreichen der Ziele wurde ein Landescontrolling eingeführt. Die Arbeitslast ist nach den Jahreszahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik extrem hoch: „Demnach wurden 2019 insgesamt 2.805 Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern in NRW erfasst, 383 Fälle mehr als im Vorjahr (+15,8 Prozent). Die Aufklärungsquote betrug hierzu 83,7 Prozent, die höchste der letzten 20 Jahre. Im Bereich Kinderpornografie wurden im vergangenen Jahr 2.359 Fälle erfasst, 947 Fälle mehr als im Vorjahr (+67,1 Prozent). Die Aufklärungsquote betrug hierzu 93,2 Prozent.“ (Der Bericht erläutert: „Die Zunahme von Verfahren ist … u. a. auf eine hohe Anzahl ausgetrennter Einzelverfahren aus Ursprungsverfahren in Zusammenhang mit inkriminierten Daten in WhatsApp-Chatgruppen (z. B. Schülerchatgruppen) zurückzuführen. Auch die hohe Präsenz des Themas in der Öffentlichkeit und das damit einhergehende gesteigerte Anzeigeverhalten in der Bevölkerung sowie die landesweit intensivierten Ermittlungen, die zwangsläufig eine Vielzahl von Folgeverfahren nach sich ziehen (Dunkelfeldaufhellung), wirken sich positiv aus.“)
  • Komplexe Verfahren „erfordern regelmäßig eine Konzentration von spezialisierten Ermittlungskräften über die Behördengrenzen hinaus. Dadurch werden temporär große Ermittlungspotentiale gebunden.“
  • Noch immer hat NRW kein „Hinweistelefon“: „Das LKA NRW ist beauftragt, ein Konzept für eine ergänzende zentrale Anzeigenaufnahme in Fällen von sexuellem Missbrauch/Kinderpornografie über eine zentrale Rufnummer („Hinweistelefon“) vorzulegen.“
  • „In Verfahren wegen Kinderpornografie treten zunehmend Kinder und im besonderen Maße Jugendliche als Täterinnen und Täter in Erscheinung. Ihr Anteil an den Tatverdächtigen insgesamt ist in NRW von 2017 mit 16% bis 2019 auf 38% angestiegen.“
Welche Rolle spielt die Vorratsdatenspeicherung?

Am Ende des Berichtes waren wir erstaunt: Es hängt ein Absatz über Vorratsdatenspeicherung hinter den Ermittlungserfahrungen, der wenig Zusammenhang zum vorherigen Teil hat. Es wirkt, als wäre er wie ein Textbaustein eingeschoben worden. Zum Beispiel bezieht er sich nicht auf konkrete Erfahrungen bei der Ermittlungsarbeit, sondern fußt lediglich auf einer Zahl des Bundeskriminalamtes von 2017.

„Dazu hat das BKA veröffentlicht, dass alleine im Jahr 2017 insgesamt 8.400 Verdachtshinweise von NCMEC 'National Center for Missing & Exploited Children' bei Wikipedia nicht aufgeklärt werden konnten, da die jeweiligen deutschen IP-Adressen mangels Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung keinen konkreten Personen mehr zugeordnet werden konnten.“

Es folgt ein Fazit des NRW-Berichtes, das diesen Absatz nicht weiter beachtet, sondern sich nur auf die vorherigen Ermittlungserfahrungen bezieht. Für uns ist das ein weiteres Indiz dafür, dass dieser Absatz eher eingeschoben wurde und nicht zur Kernaussage des Berichtes gehört.

Die 8.400 nicht aufklärbaren Ermittlungsverfahren werden immer wieder in Podiumsdiskussionen und Texten des BKA angeführt. Dabei bleibt vieles unklar:

  • Es wird vor dem Hintergrund der festgestellten massiven Bearbeitungsrückstände nicht erläutert, wie viele dieser 8.400 Verdachtshinweise auf Grund von mangelnden personellen und technischen Ressourcen nicht weiter verfolgt werden konnten.
  • Es ist unklar, auf wie viele und auf welche Art von Fällen sich die Hinweise beziehen und wie viele dieser Fälle seit 2017 durch später erfolgte Ermittlungen ermittelt werden konnten.
  • Es wird nicht darüber aufgeklärt, dass IP-Adressen in vielen Fällen keine Rückschlüsse auf konkrete Personen erlauben.
  • Es liegen keine Informationen darüber vor, ob in allen 8.400 Fällen alle möglichen Ermittlungswege systematisch ausgenutzt wurden.
  • Es wird nicht erklärt, wie viele dieser 8.400 Verdachtshinweise mit Hilfe eines Quick-Freeze-Verfahrens (siehe Wikipedia) hätten aufgeklärt werden können.

Stattdessen heißt es im Bericht:

„Das IM NRW sieht die derzeit nicht umgesetzte gesetzliche Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung vorrangig in Fällen von Kinderpornografie und Rechtsextremismus als höchst problematisch an.“

Diese Aussage lässt sich nicht aus dem vorherigen Erfahrungsbericht in NRW herleiten oder begründen. Vorratsdatenspeicherung ist anlasslose Massenüberwachung aller Menschen in Deutschland. Dadurch wird kein Kind geschützt.

Was wirksam wäre

Folgende wirksame und rechtsstaatlich vertretbare Kinderschutz-Maßnahmen listet der Bericht auf:

  • Maßnahmen zur „Prävention, zum Schutz vor und Hilfe bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ (Prävention stärken, Intervention weiterentwickeln und Hilfen für Betroffene und deren Angehörige verbessern)
  • Mehr Personal, um unverzüglich die Verfolgung „ konkreter Anhaltspunkte für einen ggf. noch andauernden sexuellen Missbrauch ... zu gewährleisten". In NRW: „Die Anzahl der Sachbearbeiterinnen/Sachbearbeiter für Verfahren wegen Kinderpornografie wurde seit März 2019 (104,76) mit 267,99 Stellenanteilen im März 2020 weiter erhöht. Das ist ein Anstieg um 155,81%.“
  • Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Ermittler*innen: psychologische Betreuung, Supervision, Erschwerniszulagen (auf Grund der überdurchschnittlich hohen psychischen Belastung)
  • Optimierung der technischen Auswertung von Audio/Videomaterial
  • Optimierung von Prozessabläufen
  • Weiterbildung und Unterstützung von damit befassten Personen (u.a. technische Ermittlungsberatung, IT-fachliche Beratung, Förderung von Kompetenzen zur Sicherung und Aufbereitung von IT-Daten, zur Auswertung von IT-Daten, zur Bearbeitung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, zur Anhörung von Kindern, zu Supervision, zur Auswertung von IT-Massendaten etc.)
  • Fortbildungskapazitäten massiv ausbauen
  • „Konzentration von spezialisierten Ermittlungskräften über die Behördengrenzen hinaus“ (NRW, siehe: „Dislozierte Ermittlungscluster“)
  • Abbau offener Durchsuchungsbeschlüsse (Stand in NRW im März 2020: 540 offene Durchsuchungsbeschlüsse)
  • Standards/Handlungsleitlinien für die Bearbeitung von Verfahren des sexuellen Missbrauchs/der Kinderpornografie (Kinderanhörungszimmer)
  • verbesserte Anzeigenaufnahme in Fällen von sexuellem Missbrauch/Kinderpornografie (Not-Telefon-Nummer)
  • verbesserte Zusammenarbeit mit Jugendämtern, Schulen, Kindergärten etc. („Förderung des Informationsaustausches und Stärkung eines gemeinsamen Verständnisses und Vorgehens zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor (sexueller) Gewalt“; „Mechanismen zum frühzeitigen Erkennen der Taten und die Weitergabe der Informationen“)
Unser Fazit

Der Bericht liefert genug Ansätze, wie die Polizei dabei unterstützt werden kann, Kinder zu schützen und Verbrechen gegen Kinder aufzuklären. Vorratsdatenspeicherung gehört nicht dazu.

Die Union und alle anderen, die anlasslose Vorratsdatenspeicherung fordern, sollten umdenken und sich mit diesem Erfahrungsbericht der Ermittler.innen in NRW auseinandersetzen. Die ewige Wiederholung der Forderung nach Vorratsdatenspeicherung lenkt ab davon, wirklich wirksame Maßnahmen in Angriff zu nehmen.

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