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Strafjustiz Zweifellos der Täter?

Der Angeklagte wurde schon als "Brückenteufel" stigmatisiert. Doch die Beweislage im sogenannten Holzklotz-Prozess, der in dieser Woche beginnt, ist dünn.

Kasachen, heißt es oft, trügen ihre Angelegenheiten unter sich aus, auf eigene Faust, was durchaus wörtlich gemeint ist, besonders im Gefängnis. Deshalb grenzt es an ein Wunder, dass Nikolai H., 30, aus Kasachstan stammend wie die Familie, über die er so viel Unglück gebracht haben soll, überhaupt noch am Leben ist.

Denn ihm wird ein Verbrechen zur Last gelegt, das die Öffentlichkeit aufwühlte und in Angst und Schrecken versetzte. H., heroinsüchtig und von der Boulevardpresse als "Brückenteufel" stigmatisiert, soll am Ostersonntag einen 5,9 Kilogramm schweren Holzklotz von einer Autobahnbrücke fallen gelassen haben, der die Frontscheibe eines Autos durchschlug und eine 33 Jahre alte Mutter zweier 7 und 9 Jahre alter Kinder vor den Augen ihrer Familie tötete.

Der silbergraue BMW der Familie K. aus Telgte bewegte sich an jenem 23. März gegen 20 Uhr, es war Winterzeit und schon stockdunkel, mit Tempo 130 bis 140 von Wilhelmshaven in Richtung Süden auf der rechten Spur der Autobahn A 29, als unter der Brücke Butjadinger Straße bei Oldenburg mit explosionsartigem Knall die Windschutzscheibe barst. Glassplitter flogen durch die Luft, ein heftiger Windstoß fuhr durch das Wageninnere.

Wladimir K., der Fahrer, stieg in die Bremse und brachte das Fahrzeug geistesgegenwärtig zum Stehen. Die Kinder im Fond schrien unter Schock. Olga K., die Ehefrau, saß reglos und nach vorn geneigt auf dem Beifahrersitz, als ob sie schliefe. Auf ihrem Schoß ein Klotz aus Pappelholz von fast sechs Kilo Gewicht. Sie blutete. Das Geschoss hatte ihren Schädel mit der Wucht von etwa zwei Tonnen zertrümmert, ihre Schlagadern zerrissen und ihr Herz verletzt. Sie muss schnell tot gewesen sein.

Attentate auf fahrende Autos werden immer wieder und bevorzugt bei Dunkelheit verübt. Nicht nur Jugendliche oder Kinder scheinen sie zum Nachahmen zu animieren. Steine werden über Brückengeländer gehievt und auf die Fahrbahn fallen gelassen, Einkaufswagen, Leitpfosten, Wasserkästen, Fernseher, ja sogar Kühlschränke. Motiv der Täter: meist Frust und Langeweile, Hass, der Kitzel, quietschende Reifen und krachendes Blech zu hören, oder auch das Bedürfnis, einmal etwas Außergewöhnliches anzurichten, sich hervorzutun, wichtig genommen zu werden, und sei es als Straftäter.

Gezielt töten oder verletzen wollen die wenigsten. Doch da diese Täter Angst machen mit ihren heimtückischen Attacken, denen sich jedermann ausgeliefert fühlt, provozieren sie in besonderem Ausmaß Wut und Abscheu.

Wenn am Dienstag vor dem Landgericht Oldenburg der Prozess gegen H. beginnt, ist daher mit ungewöhnlich strengen Sicherheitsvorkehrungen zu rechnen. Übergriffe nicht nur von Landsleuten der Familie K. sollen verhindert werden. Die Verteidiger Matthias Koch, Bremen, Andreas Schulz, Berlin, und - beratend - Oliver Wallasch, Frankfurt am Main, werden das Gerichtsgebäude ungesehen zu betreten versuchen. Selbst ihnen gilt der Hass.

Wer Strafverteidigung ernst nimmt, wird heute in emotional aufgeladenen, spektakulären Fällen rasch als "Konfliktverteidiger" verschrien. Es erwarten ihn nicht nur ehrabschneidende Schmähungen, sondern fast regelmäßig auch Morddrohungen - als ob sich Anwälte durch ihre Verteidigertätigkeit ("Bild": "Ein Schlag ins Gesicht der Angehörigen des Opfers") automatisch zu Kumpanen, ja Mittätern der Angeklagten machten.

Noch in der Nacht nach dem Holzklotz- Attentat richteten die Ermittler die "Soko Brücke" ein. Am nächsten Morgen beantragte die Polizei den Zugriff auf sämtliche Handy-Verbindungsdaten, die in einem Gebiet von etwa zwei Quadratkilometern um den Tatort zwischen 17 und 22 Uhr an jenem Ostersonntag angefallen waren. Denn, so die gewagte Überlegung, der oder die Täter könnten auf der Brücke telefoniert oder SMS verschickt haben. Man kam auf 12.927 Einträge. Tausende Personen gerieten in Verdacht.

Dann stieß man auf eine Gruppe junger Leute, die sich laut eines Augenzeugen zur Tatzeit auf der Brücke aufgehalten haben sollen - darunter ein Mädchen und ein großgewachsener Mann in heller Jacke mit einer weißen Baseballmütze, die er schräg auf dem Kopf getragen habe. Die Fahnder werden misstrauisch, als sie am Morgen nach der Tat auf der Brücke von vier Jugendlichen angesprochen werden, die, wie die Ermittlungen ergaben, am Abend rund um ein Osterfeuer in der Nähe gefeiert hatten und dann mit einem Auto durch die Gegend gefahren waren. Sehr viel mehr Anhaltspunkte hatte die Polizei nicht, als sie die vier kurzerhand zu Beschuldigten erklärte: Mordverdacht.

Telefone werden überwacht, der Internet-Verkehr Unbeteiligter wird kontrolliert. In der örtlichen Sparkasse sollte ein Phantombild des mutmaßlichen Attentäters aufgehängt und eine Web-Kamera samt Mikrofon mit Direktschaltung zur Polizei dahinter plaziert werden. Man hoffte, die Täter brüsteten sich vor dem Plakat ihrer Untat. Zu der Aktion kam es dann doch nicht.

Die Beweislage erscheint dürftig

Tage und Wochen vergehen. Der Ermittlungsdruck wächst. Am 4. April kommt ein Andreas I. zur Polizeistation Rastede, um zu fragen, ob nach ihm gesucht werde, denn er kleide sich wie die Person auf dem Phantombild. Über das Nummernverzeichnis im Handy I.s kommt die Polizei auf Fiete W., der eine helle Jacke besitzt, wie der Augenzeuge sie gesehen haben will, und auf H., der mit beiden bekannt ist. Die Polizei schöpft gegen das Trio Verdacht. Am Abend selbigen Tages, als die drei im Hause I.s zusammensitzen, geht es um die Polizei und den Holzklotz. H. sagt, er habe ihn liegen gesehen und angefasst.

Er lässt sich überreden, ebenfalls zur Polizei zu gehen und eine Aussage zu machen: Am Tattag sei er zwischen vier, halb fünf Uhr mit dem Fahrrad über die Brücke gefahren und habe an deren Ende einen auf dem Radweg liegenden Holzklotz sowie einen Ast und einen "Reifen" beiseitegeräumt; er habe nicht gewollt, dass sich Passanten daran verletzten. Auf dem Weg habe er drei angetrunkene Jugendliche überholt; einer sei hell angezogen gewesen und habe die anderen um Haupteslänge überragt. Mit dem Attentat auf den BMW aber habe er, H., nichts zu tun.

Kurz nach dieser Aussage stellt H. sich einer Fernsehjournalistin 30 Minuten lang für ein Interview auf der Brücke zur Verfügung. Er hofft auf ein kleines Honorar. Denn er braucht Stoff, täglich ein halbes Gramm Heroin, das kostet. Sie spricht wie eine Ermittlerin mit ihm: "Warum haben Sie den Holzklotz weggestellt? Tut Ihnen die Familie leid?" Das Foto der getöteten Olga K. wird gezeigt. "Wenn sich Täter stellen, dann fällt die Haftstrafe geringer aus. Dann gibt es keine 15 Jahre."

Am 7. April vernimmt die Polizei ihn nochmals als Zeugen, am 21. Mai hingegen, nach einem 90 Minuten langen Vorgespräch, schon als Beschuldigten. Er hat Entzugserscheinungen. Man bringt ihn in eine Klinik, wo er sieben Milliliter Methadon bekommt.

Man habe Zeugen, erfährt er dann, die aussagten, dass auf der Brücke weder ein Holzklotz noch ein Ast oder eine Fahrradfelge gelegen hätten. Und man wisse, dass er sich unmittelbar nach der Tat in der Nähe des Tatorts aufgehalten habe.

Daraufhin beschreibt H., wie er an jenem 23. März erfolglos auf der Suche nach Drogen war, wie er gegen 19 Uhr nach Hause gekommen, dann wieder weggefahren sei - mit dem Holzklotz auf dem Gepäckträger. Er sei sauer gewesen, weil er kein Heroin habe auftreiben können.

Er beschreibt, wie er den Klotz habe fallen lassen, warum, wisse er nicht, und wie er einen Mann aus einem Auto aussteigen und auf die Beifahrerseite laufen gesehen habe. Und dass der Mann dann telefoniert habe.

Ist das, zwei Monate nach dem Tod von Olga K., noch Täterwissen? Gemessen an der massiven Vorverurteilung des angeblichen "Holzklotz-Killers" oder "Brückenteufels" H., dessen Täterschaft in den Medien seit der Festnahme außer Frage steht, erscheint die Beweislage dürftig. Die Staatsanwaltschaft stützt ihre Anklage wegen eines "heimtückisch und mit gemeingefährlichen Mitteln" begangenen Mordes sowie eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr hauptsächlich auf H.s Geständnis. Die Begleitindizien sind dünn.

Unter der Rinde des Holzklotzes fand sich etwas Sand, der mit einer Bodenprobe vom Nachbargrundstück H.s Ähnlichkeiten aufweisen soll. Die Verteidigung zweifelt an den Feststellungen. Denn als man versuchte, Olga K. zu retten, war der Holzklotz Nebensache. Wohin wurde er gelegt? Womit kam er in Berührung?

An der Fahrradfelge fand die Polizei eine Mischspur, das heißt, nur einzelne Merkmale stimmen mit dem DNA-Profil des Angeklagten überein. Wie zuverlässig und aussagekräftig die Feststellungen des LKA Niedersachsen bezüglich der Funkzellvermessungen sind, die belegen sollen, dass H. sich zur Tatzeit nicht zu Hause, sondern auf oder in der Nähe der Brücke aufhielt, wird sich erst in der Hauptverhandlung herausstellen.

"Was ist das Geständnis wert?", fragt Verteidiger Koch. Dass es nicht ein unwiderlegbarer Beweis der Wahrheit sein muss, hat nicht zuletzt der Pascal-Prozess in Saarbrücken gezeigt, in dem eine Reihe von Geständnissen abgelegt worden waren, denen das Gericht nicht glaubte.

Forensische Psychologen wie Günter Köhnken kennen die Risikofaktoren für falsche Angaben. Sie reichen von bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen des Beschuldigten bis zu den Vernehmungsbedingungen und der jeweiligen Überzeugung der Ermittler. Nicht nur geistig Behinderte halten starkem psychischem Druck irgendwann nicht mehr stand; manche Menschen zweifeln auch leicht an sich selbst, wenn ihnen vorgehalten wird, man habe Zeugen und eindeutige Beweise. Und ein Geständnis wirke sich günstig aus.

Der Angeklagte H., der "Brückenteufel", hat inzwischen widerrufen. Er hat schon einmal ein falsches Geständnis abgelegt. Als ein Verwandter am 28. April 1998 unter Alkoholeinfluss einen schweren Verkehrsunfall mit zwei Toten verursachte, gab H. zu, den Wagen gesteuert zu haben. Damals musste ihm die Staatsanwaltschaft nachweisen, dass nicht er der Fahrer gewesen war.

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