Keine EU-Pflicht zur Wiedereinführung einer Vorratsdatenspeicherung [ergänzt am 05.10.2011]

Mit Urteil vom 2. März hat das Bundesverfassungsgericht die deutschen Bestimmungen zur Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig und nichtig erklärt (Az. 1 BvR 256/08). Teile von CDU und CSU fordern nun aber die Wiedereinführung einer sechsmonatigen Verbindungsdatenspeicherung insbesondere mit dem Argument, die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung 2006/24/EG zwinge Deutschland dazu.

In der Tat haben Europäisches Parlament und der Ministerrat im Jahr 2006 auf der Grundlage von Artikel 95 EGV (jetzt: Art. 114 AEUV) eine Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung erlassen. Art. 114 AEUV ermächtigt die EG „zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben“. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, „dass zwischen den nationalen Regelungen der Vorratsdatenspeicherung rechtliche und technische Unterschiede“ bestanden hätten und eine europaweite Vereinheitlichung daher zulässig sei (Az. C‑301/06).

Abweichungsmöglichkeit im AEU-Vertrag

Art. 114 AEUV enthält jedoch in seinen Absätzen 4 und 6 ein bislang noch nicht diskutiertes Recht, von solchen Harmonisierungsmaßnahmen abzuweichen:

(4) Hält es ein Mitgliedstaat nach dem Erlass einer Harmonisierungsmaßnahme […] für erforderlich, einzelstaatliche Bestimmungen beizubehalten, die durch wichtige Erfordernisse im Sinne des Artikels 36 […] gerechtfertigt sind, so teilt er diese Bestimmungen sowie die Gründe für ihre Beibehaltung der Kommission mit.

(6) Die Kommission beschließt binnen sechs Monaten […], die betreffenden einzelstaatlichen Bestimmungen zu billigen oder abzulehnen, nachdem sie geprüft hat, ob sie ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung und eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen und ob sie das Funktionieren des Binnenmarkts behindern. Erlässt die Kommission innerhalb dieses Zeitraums keinen Beschluss, so gelten die […] einzelstaatlichen Bestimmungen als gebilligt. […]

Die Kommission darf die Beibehaltung nationalen Rechts nur ablehnen, wenn eine der Voraussetzungen des Art. 114 Abs. 4 AEUV fehlt (vgl. EuGH, Az. C‑512/99).

Fraglich ist hier, ob Art. 114 Abs. 4 AEUV eine Abweichung von der Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung rechtfertigt.

Öffentliches Interesse am Verbot der Vorratsdatenspeicherung

Nach dem Erlass der Richtlinie 2006/24/EG ist es erforderlich, entgegen stehende deutsche Bestimmungen beizubehalten, nämlich die in den §§ 88 Abs. 3, 96 Abs. 1 S. 3, 97 Abs. 3 TKG seit jeher verankerte Pflicht zur frühestmöglichen Löschung von Verkehrsdaten. Diese Pflicht ergibt sich auch aus dem in Deutschland als Bundesgesetz geltenden Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wie der Verfassungsgerichtshof Rumäniens entschieden hat, ist eine Vorratsdatenspeicherung mit Art. 8 EMRK unvereinbar. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage nicht geprüft, weil es nur über die Anwendung des Grundgesetzes zu entscheiden hatte.

Die Beibehaltung des deutschen Verbots zur Aufzeichnung des Telekommunikationsverhaltens ist durch wichtige Erfordernisse im Sinne des Artikels 36 AEUV gerechtfertigt, nämlich durch Erfordernisse des Grundrechtsschutzes als Bestandteil der öffentlichen Ordnung. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass der Grundrechtsschutz Teil der öffentlichen Ordnung ist und Abweichungen von Binnenmarktrecht rechtfertigen kann (Az. C-36/02). Es sei nicht erforderlich, dass die hierzu von einem Mitgliedstaat für erforderlich gehaltenen Mittel einer allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung entsprächen. Vielmehr sei jedem Mitgliedsstaat bei seiner Entscheidung ein Beurteilungsspielraum innerhalb der durch den EG-Vertrag (jetzt: AEUV) gesetzten Grenzen zuzubilligen. Allerdings müsse die gewählte Maßnahme zum Schutz der Belange, die sie gewährleisten soll, erforderlich sein und sei nur insoweit zulässig, als ihre Ziele nicht mit Maßnahmen erreicht werden könne, die den freien Dienstleistungsverkehr weniger einschränkten.

Der Schutz der Freiheit und Unbefangenheit der Telekommunikation liegt im fundamentalen Interesse des Grundrechtsschutzes in Deutschland. Eine Vorratsdatenspeicherung würde die Telekommunikationsfreiheit hierzulande unzumutbar beeinträchtigen. Eine Protokollierung des gesamten Telekommunikationsverhaltens begründete das Risiko, dass sensibelste Kontakte und Aktivitäten Unbefugten bekannt werden oder Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Unschuldige aufgrund eines falschen Verdachts ergriffen werden. Beides ist bereits vorgekommen. In Deutschland wird eine Vorratsspeicherung aller Verbindungsdaten deshalb von 70% der Bevölkerung abgelehnt. Über 43 Mio. Deutsche würden unter Geltung einer Vorratsdatenspeicherung davon absehen, per Telefon, E-Mail oder Handy Kontakt zu einer Eheberatungsstelle, einem Psychotherapeuten oder einer Drogenberatungsstelle aufzunehmen, wenn sie deren Rat benötigten. Dies gefährdete die Gesundheit Hilfs- und Behandlungsbedürftiger und die Sicherheit ihres Umfelds unzumutbar. Auch die ungestörte Ausübung von Vertrauensberufen wäre nicht mehr gewährleistet.

Die Beibehaltung der Löschungspflichten des TKG ist zum Schutz der Telekommunikationsfreiheit in Deutschland geeignet, erforderlich und verhältnismäßig. Das deutsche Verbot einer Vorratsdatenspeicherung stellt kein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung ausländischer oder international agierender Unternehmen dar. Die EG-Richtlinie 2002/58/EG sieht selbst die grundsätzliche Löschung von Verkehrsdaten mit Verbindungsende vor. Das deutsche Verbot einer Vorratsdatenspeicherung stellt auch keine verschleierte Beschränkung des freien Angebots von Telekommunikationsdienstleistungen in Europa dar, sondern dient dem Grundrechtsschutz.

Schließlich behindert das Verbot der Vorratsdatenspeicherung nicht das Funktionieren des Binnenmarkts. Ein Interesse deutscher Unternehmen, im Sinne einheitlicher Rahmenbedingungen einer Vorratsdatenspeicherung in Deutschland unterworfen zu werden, besteht nicht, zumal die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung im Wesentlichen nur Mindestvorgaben macht und national sehr unterschiedlich umgesetzt wird. Ausländische oder international agierende Unternehmen sind ohnehin auf von Land zu Land unterschiedliche Speicher- und Zugriffsvorschriften eingerichtet und werden nicht ernsthaft dadurch belastet, dass sie Verkehrsdaten in Deutschland nicht zu allein staatlichen Zwecken aufbewahren „dürfen“. Telekommunikationsanbieter speichern dem staatlichen Gebrauch vorbehaltene Vorratsdaten in der Praxis in anderen Datenbanken als betrieblich erforderliche Verkehrsdaten. Es bereitet ihnen deshalb keine Schwierigkeiten, von einer Vorratsdatenspeicherung in Deutschland abzusehen. Umgekehrt entlastet sie dies. Die Wirtschaft hat das Ende der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland begrüßt.

Ergebnis

Die EG-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung verpflichtet Deutschland nicht zur Wiedereinführung einer anlasslosen, flächendeckenden Vorratsspeicherung aller Verbindungsdaten. Nach Art. 114 Abs. 4 AEUV hat Deutschland das Recht, seine aktuelle Rechtslage beizubehalten. Die Bundesjustizministerin ist nur verpflichtet, der Europäischen Kommission im Namen der Bundesregierung die beibehaltenen Bestimmungen des deutschen Rechts zu melden und die Gründe für deren Beibehaltung mitzuteilen.

Die Bundesregierung sollte von diesem Recht schnellstmöglich Gebrauch machen.

Ergänzung vom 12.01.2011:

Mit Schreiben vom 05.01.2011 hat die NRV – Zusammenschluss von Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten e.V die Rechtslage ebenso eingeschätzt wie hier.

Ergänzung vom 05.10.2011:

Aus einer Entscheidung des EuGH vom 20.03.2003 (Az. C-3/00) ergibt sich, dass einer Abweichung von der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung nicht entgegensteht, dass Deutschland aus grundsätzlichen Erwägungen ein höheres Niveau des Grundrechtsschutzes anstrebt als in der Richtlinie vorgesehen:

Folglich geht weder aus dem Wortlaut von Artikel 95 Absatz 4 EG noch aus der Systematik des gesamten Artikels hervor, dass vom beantragenden Mitgliedstaat der Nachweis verlangt werden kann, dass die Beibehaltung der von ihm der Kommission mitgeteilten einzelstaatlichen Bestimmungen aufgrund eines spezifischen Problems dieses Staates gerechtfertigt ist. […]

Zudem kann sich der beantragende Mitgliedstaat zur Rechtfertigung der Beibehaltung solcher abweichender einzelstaatlicher Bestimmungen darauf berufen, dass er die Gefahr für die öffentliche Gesundheit anders bewerte, als es der Gemeinschaftsgesetzgeber in der Harmonisierungsmaßnahme getan habe. […]

Ein Mitgliedstaat kann einen Antrag auf Beibehaltung seiner bestehenden einzelstaatlichen Bestimmungen auf eine Bewertung der Gesundheitsgefahr stützen, die sich von der Bewertung des Gemeinschaftsgesetzgebers beim Erlass der Harmonisierungsmaßnahme unterscheidet, von der diese einzelstaatlichen Bestimmungen abweichen. Dabei hat der beantragende Mitgliedstaat nachzuweisen, dass die genannten einzelstaatlichen Bestimmungen ein höheres Niveau des Schutzes der öffentlichen Gesundheit als die gemeinschaftliche Harmonisierungsmaßnahme gewährleisten und dass sie nicht über das zur Erreichung dieses Zieles erforderliche Maß hinausgehen.

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8 Kommentare »


  1. Tweets die Patrick Breyer: EG-Richtlinie verpflichtet Deutschland nicht zu Wiedereinführung der #VDS: erwähnt -- Topsy.com — 5. Mai 2010 @ 17.27 Uhr

    [...] Dieser Eintrag wurde auf Twitter von AK Vorrat, Kai Kretschmann, validom, netfreak, texhnolyze und anderen erwähnt. texhnolyze sagte: RT @akvorrat: Patrick Breyer: EG-Richtlinie verpflichtet Deutschland nicht zu Wiedereinführung der #VDS: http://is.gd/bVn2R […]


  2. blogwürdig » Keine EU-Pflicht zur Wiedereinführung einer Vorratsdatenspeicherung — 5. Mai 2010 @ 23.33 Uhr

    [...] Meinung ist man auf Daten-Speicherung.de: [...]


  3. 5 vor 2 (2 zur Enquete) : netzpolitik.org — 5. Mai 2010 @ 23.56 Uhr

    [...] (Tagesschau.de) # BKA-Lobbying für Vorratsdatenspeicherung substanzlos (AK Vorrat) # EG-Richtlinie verpflichtet Deutschland nicht zu Wiedereinführung der VDS (Patrick Breyer) # Teil II der Serie „Abmahnrepublik“. (Wolfgang Michael, [...]


  4. Kein EU-Zwang zur Vorratsdatenspeicherung! - Perfect Privacy Support Blog & Knowledgebase — 6. Mai 2010 @ 9.12 Uhr

    [...] Daten-Speicherung.de [...]


  5. Vorratsdatenspeicherung laut Kriminalstatistik überflüssig | — 2. September 2010 @ 13.09 Uhr

    [...] [5.] Daten-Speicherung.de, Keine EU-Pflicht zur Wiedereinführung einer Vorratsdatenspeicherung, http://www.daten-speicherung.de/?p=2250. [6.] Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, Zivilgesellschaft fordert Stopp des europaweiten Zwangs […]


  6. Terrorgefahr in Deutschland: Islamist in Neunkirchen/Saar verhaftet - Seite 70 - DIGITAL FERNSEHEN - Forum — 25. November 2010 @ 19.48 Uhr

    [...] [...]


  7. No obligation to transpose the data retention directive | blog.vorratsdatenspeicherung.de — 25. Juni 2012 @ 2.54 Uhr

    [...] In the meantime Member States can request under Article 114 (4) TFEU to be exempted from having to implement the directive, with a view of maintaining a higher level of protection of fundamental rights than the EU does. If the Commission refuses, the Member State should take the matter to the ECJ. More information (in German) [...]


  8. Bundesregierung informiert über Vertragsverletzungsverfahren | blog.vorratsdatenspeicherung.de — 25. Juni 2012 @ 2.58 Uhr

    [...] Verbindungsdatenspeicherung zu beantragen und erforderlichenfalls einzuklagen (nähere Informationen). Die Bundesregierung weigert sich, weil ein solcher Antrag nicht möglich sei. Im Fall von [...]

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