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Streit über Vorratsdaten Kritiker schlagen freiwilliges Speichern vor

Die EU überdenkt die vor vier Jahren verordnete Vorratsdatenspeicherung. Deutsche Kritiker legten jetzt einen Kompromissvorschlag vor: Er sieht ein verfassungsrechtlich unbedenkliches Vorgehen vor, das weniger nutzlos und schädlich wäre.
EU-Kommissarin Malmström: Muss die Vorratsdatenspeicherung überarbeitet werden?

EU-Kommissarin Malmström: Muss die Vorratsdatenspeicherung überarbeitet werden?

Foto: GEORGES GOBET/ AFP

Hamburg - Ist die Vorratsdatenspeicherung in ihrer jetzigen Form sinnvoll? Der deutsche Arbeitskreis hat zu der EU-Direktive aus dem Jahr 2006 jetzt einen eigenen Kompromissvorschlag präsentiert. Die Gruppe gehört zu den ausgesprochenen Gegnern der bisherigen Regelung, die eine völlig anlassunabhängige Erfassung und Archivierung der Kommunikationseckdaten aller Bürger vorsieht.

Diese Form der Vorratsdatenspeicherung ist nicht nur in Deutschland umstritten. In mehreren europäischen Ländern kollidiert die Direktive mit dem Titel 2006/24 mit geltendem Recht und widerspricht mitunter den Verfassungen. Auch in der Bundesrepublik, wo die Vorratsdatenspeicherung bereits 2007 Gesetz wurde, schränkte das Bundesverfassungsgericht nach einer Reihe von Beschwerden dieses bereits im März 2008 wieder in einigen Punkten ein. Im März 2010 schließlich erklärten die Verfassungsrichter die konkrete Ausgestaltung des Gesetzes für verfassungswidrig: Zwar nicht grundsätzlich, aber immerhin in vorliegender Fassung verstoße es gegen Artikel 10 Abs. 1 des Grundgesetzes.

Seitdem liegt die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland auf Eis - und Brüssel hat ein wachsendes Problem: Immer mehr Länder verweigern sich aus unterschiedlichen Gründen der Überwachung des Telekommunikationsverhaltens unbescholtender Bürger. Denn genau das ist der Punkt, der neben den ökonomischen Lasten der Erfassungsinfrastruktur, die teils zu Lasten der Telekommunikationsfirmen gehen, die meiste Kritik findet: Die Vorratsdatenspeicherung behandelt jeden Bürger als potentiell Verdächtigen. Das Prinzip vertraulicher Kommunikation wird dadurch gefährdet. Mit weitreichenden Implikationen sowohl für Zufallskommunikationspartner von später als gefährlich eingestuften Personen, als auch für Berufsgruppen, für die Vertraulichkeit von unabdingbarer Wichtigkeit ist - wie etwa Ärzte, Priester oder auch Journalisten.

"Die meisten von uns sind keine Kriminellen"

Cecilia Malmström, die für das Thema Innenpolitik zuständige EU-Kommissarin, äußerte im EU-Parlament selbst erhebliche Zweifel daran, dass der bisherige Blickwinkel wirklich der richtige sei: Infrastrukturen aufzubauen, die Daten-, Internet-, Telefon- und SMS-Kommunikation erfassen und archivieren bedeute einen erheblichen Eingriff in die Privatsphäre der Bürger und beinhalte ein hohes Risiko des Missbrauchs. Bisher habe man sie nicht wirklich überzeugen können, dass dies so nötig sei. Malmström: "In der Tat ist es so, dass die meisten von uns keine Kriminellen sind."

Kritiker der Direktive, die von vielen Innenpolitikern und Polizeibehörden einst begrüßt worden war, interpretierten das als deutliches Zeichen für eine inzwischen skeptischere Sicht auf die Direktive auch in Brüssel: Malmström ist von der Kommission beauftragt, bis Mitte September kritisch zu prüfen, ob die Direktive 2006/24 überarbeitet werden muss.

Gegner der Vorratsdatenspeicherung hoffen nun darauf, dass dabei mehr herauskommt als nur Kosmetik, die eine erneute juristische Watsche vermeiden soll - wie zum Beispiel durch den Europäischen Gerichtshof, wo ein Einspruch der irischen Regierung vorliegt und in Kürze der Beginn eines weiteren Verfahrens erwartet wird. In dessen Verlauf soll überprüft werden, ob 2006/24 mit den europäischen Grundrechten kollidiert - bisher war es dort nur um formale rechtliche Fragen der Umsetzung gegangen.

Das Bild vom Big Brother

Fast noch gravierender aber ist die negative PR, die Kommission und Regierungen durch die Vorratsdatenspeicherung erlebt haben. Staat und Behörden stehen als Schnüffler mit unersättlichem Datenhunger da. Sie sammeln präventiv die Daten von allen, weil dies gelegentlich nützlich sein könnte, statt auf eine gezielte Überwachung im konkreten Verdachtsfall zu setzen. Die Bequemlichkeit der Fahnder werde höher geschätzt als der Schutz des Bürgers auch vor der Neugier des Staates.

Das, argumentieren Gegner, wecke Misstrauen gegen den Staat und Angst vor einer freien, unbefangenen Kommunikation. So wirke sich die Vorratsdatenspeicherung, die sich nach kriminalitätsstatistischen Erkenntnissen als bisher wirkungslos und überflüssig erwiesen habe , sogar schädlich aus - sowohl auf das soziale Klima in den Staaten als auch auf die ITK-Wirtschaft.

Für immer mehr Bürger stehen Kommission und Regierungen, die die Direktive umgesetzt haben, darum als die vermeintlich Bösen da in einem Konflikt mit den eigentlichen Wächtern über die Bürgerrechte, die gegen die eigenen Regierungen verteidigt werden müssen. In Deutschland kann man die Empörung über die Datenprotokollierung mit der Zahl 34.939 messen - so bisher beispiellos viele Menschen unterzeichneten eine Massenverfassungsbeschwerde gegen das deutsche Gesetz, das die Vorgaben der Richtlinie mit teutonischer Gründlichkeit in einigen Punkten noch übertraf.

Im Juni übermittelten 100 Menschenrechts- und Bürgerrechtsorganisationen sowie Lobbygruppen gegen die Vorratsdatenspeicherung aus 23 EU-Ländern einen offenen Brief an die EU-Kommission, von der Generalüberwachung der EU-Bürger Abstand zu nehmen. Die Diskussion darüber wird seitdem in Form offener Briefe für jedermann sichtbar geführt.

"Kann" statt "Muss": Freiwillige Datenspeicherung?

Auch der Kompromissvorschlag des AK Vorratsdatenspeicherung gehört in diesen Kontext. Er ist die Antwort auf Rückfragen Malmströms auf den offenen Brief der 100 Organisationen vom Juni 2010.

Darin schlägt der AK Vorratsdatenspeicherung vor, auf die bindende "Harmonisierung" in allen EU-Staaten zu verzichten und statt dessen auf einen Ansatz zu setzen, der es den einzelnen Staaten überlässt, auf Basis von durch Europa gesetzten Standards zur Datensammlung eigene Regelungen umzusetzen.

Dafür käme zum einen der Rückgriff auf die EU-Direktive 2002/58, die die Mindeststandards für den Datenschutz bei elektronischer Kommunikation in Europa und zugleich die Rahmenbedingungen für gezielte Telekommunikationsüberwachungen definiert, in Frage. Zum anderen solle die Kommission mit einer Art Regelwerk die Möglichkeit schaffen, eine optional umsetzbare, als gemeinsamer Standard definierte abgespeckte Vorratsdatenspeicherung einzuführen. Das würde dann auch Staaten, bei denen die Vorratsdatenspeicherung aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht umsetzbar sei, die Möglichkeit geben, schlicht und ergreifend nicht mitzumachen.

Aus dem Soll würde so ein Kann - aus der Direktive eine Empfehlung. Damit, so der AK Vorratsdatenspeicherung, sinke dann auch das Risiko, dass die Direktive 2006/24 "annulliert wird".

Davor fürchtet sich augenscheinlich auch das Bundeskriminalamt, das seinerseits am Montag seine Lobbyanstrengungen für die Vorratsdatenspeicherung noch einmal intensivierte. Das fehlende, auf Eis liegende Gesetz verhindere die Aufklärung von Internetverbrechen. "60 Prozent der Ermittlungen", so BKA-Chef Jörg Ziercke am Montag, gingen "ins Leere". Am Wochenende hatte Ziercke davor gewarnt, dass sich 400 Islamisten in Deutschland befänden. Dass die Vorratsdatenspeicherung angesichts dieses Gefährdungspotentials auf Eis gelegt sei, bezeichnete Ziercke in diesem Kontext als "empfindliche Schutzlücke".

Den Zahlen der Anfang September vorgelegten BKA-Kriminalitätsstatistik lässt sich tatsächlich entnehmen, dass die Aufklärungsrate von Internetverbrechen abnimmt. Besonders gering fiel sie allerdings in den Jahren 2008 und 2009 aus - den Jahren, in denen in Deutschland das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung in Kraft war.

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