Die meisten EU-Länder wollen doch die Vorratsdatenspeicherung

Die Innenkommissarin der EU, Cecilia Malmström, spricht im Interview darüber, dass es problematisch sei, die umstrittene Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung zurückzunehmen weil die Zustimmung zur VDS zu groß sei - doch dem ist nur oberflächlich betrachtet so

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Im Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit wurde Cecilia Malmström, die derzeitige EU-Innenkommissarin, unter anderem zum Thema Vorratsdatenspeicherung befragt. Auf die Frage, warum die umstrittene Richtlinie, deren Umsetzung seit ihrer Verabschiedung sich mehr als problematisch gestaltet, nicht einfach zurückgenommen wird, äußerte Frau Malmström die Ansicht, dass die meisten der EU-Staaten die Vorratsdatenspeicherung wollen würden:

ZEIT: Warum, noch mal, machen Sie als verantwortliche Kommissarin dann nicht den Vorschlag, dieses Gesetz zurückzuziehen?
Malmström: Ich glaube, das würde ziemlich irritierte Reaktionen bei den Mitgliedsstaaten hervorrufen. Ich weiß, dass die Debatte in Deutschland recht erhitzt geführt wird. Aber es gibt noch 26 andere EU-Staaten. Die meisten von ihnen wollen die Vorratsdatenspeicherung.

Diese Ansicht ist zunächst einmal missverständlich, denn zwischen einer Befürwortung der VDS im allgemeinen und der Richtlinie im besonderen liegt ein Unterschied.

Irland und Slowakei: Wir möchten bitte selbst entscheiden

Irland beispielsweise hatte bereits vor der EU-Richtlinie seine Telekommunikationanbieter einer VDS unterworfen. Im Zuge von Antiterrorgesetzen wurden die Anbieter (ohne Rechtsgrundlage) dazu aufgefordert, die entsprechenden Daten drei Jahre lang aufzubewahren, was über die Grenzen dessen, was die Richtlinie erlaubte, hinausging. Irland ging die Richtlinie nicht weit genug. Die Slowakei schloss sich dieser Kritik an, klagte beim EU-Gerichtshof und nahm 2008 sogar eine Rüge dafür in Kauf, die Richtlinie noch nicht umgesetzt zu haben.

Abgesehen von den formalen Gründen gibt es jedoch auch noch ein weiteres Problem, welches Frau Malmström nicht anspricht: insbesondere die EU-Schwergewichte Deutschland und Frankreich haben ein vitales Interesse an der Richtlinie und ihrem Bestehen - schließlich würde bei einem Zurückreichen der Zuständigkeiten an nationale Parlamente das "Pingpongspiel", das man insbesondere auch in Deutschland beim Thema VDS erfolgreich spielte, nicht mehr funktionieren und die Regierungen im Zugzwang sein.

Deutschland

Deutschlands Regierung gehörte von Anfang an zu denjenigen, die die VDS unbedingt etablieren wollten. Nur stieß die nationale Gesetzgebung auf den Widerstand des Bundestages, der diesem Ansinnen eine klare Absage erteilte. Dabei hatte man nach der prinzipiellen Erlaubnis zur VDS durch die EU gehofft, diese möglichst schnell in deutsche Gesetzesform gießen zu können. Doch der Bundestag ließ sich auch durch die Alibibegründung "Schutz der Kinder vor sexuellem Missbrauch" nicht zu einem "ja" zur VDS bewegen. 2005 votierte er erneut dagegen.. Aus diesem Grund blieb der damaligen Bundesjustizministerin, Brigitte Zypries nur der Weg über die EU oder über internationale Verträge. Die Gesamtentwicklung und die darauffolgende Machtlosigkeitsrhetorik der deutschen Protagonisten können hier nachgelesen werden.

Seitdem sind allerdings vier Jahre ins Land gegangen und nicht nur hat die Regierung gewechselt, sondern der Protest gegen die VDS ist weder verstummt noch abgeebbt. Und das Bundesverfassungsgericht hat der VDS Grenzen gesetzt. Die Frage, ob eine nationale Umsetzung einer VDS - sollte es keine verpflichtende Richtlinie mehr geben - möglich wäre, stellt sich also eher als die, ob sie gewollt ist.

Sicher würden die üblichen Verdächtigen (wie z.B. das BKA, das bereits jetzt die Aufklärungslücken durch die VDS-Regelungen moniert) erneut für die VDS trommeln - fraglich ist jedoch, ob die Regierung unter Kanzlerin Merkel, die derzeit mit einer Vielzahl von anderen Problemen zu kämpfen hat, das strittige Thema sofort wieder auf die Tagesordnung setzen würde. Auch deshalb, weil sich mit der neuen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger schon ein Kabinettsmitglied offen gegen vorschnelle VDS-Schnellschüsse ausgesprochen hat. Es ist deshalb denkbar, dass die derzeitige Regierung, anders als die frühere, eine VDS (ohne die EU-Richtlinie als Pseudo-Damoklesschwert über dem Kopf) derzeit nicht vorantreiben würde, um die momentan bereits fragile Situation nicht weiter zu gefährden.

Frankreich

Auch Frankreich wollte die VDS und ließ daher nur allzu gerne die EU-Bemühungen um die entsprechende Richtlinie vorantreiben. Schließlich hatte man zwar bereits die VDS im Zuge von Antiterrorgesetzen verabschiedet, wollte sich aber nicht auf weitere Scharmützel mit Bürgerrechtsorganisationen und Datenschützern einlassen, die gegen die französischen Gesetze mit einer Beschwerde bei der EU-Kommission vorgehen wollten.

Ähnlich wie in Deutschland hat sich auch in Frankreich die politische Stimmung geändert. Die Regierung würde dort ebenfalls den Unmut in der Bevölkerung potenzielle verstärken, wenn sie eine nationale VDS erlassen würde, ohne dazu seitens der EU gezwungen zu sein.

Großbritannien

Großbritannien hat bereits kurz nach dem 11.09.2001 Antiterrorgesetze verabschiedet, die in den letzten Jahren mehr und mehr auf Kritik stießen. Unter Tony Blair sprach man sich für die VDS aus, wenngleich es der EU-Richtlinie nicht bedurft hätte. Deren Umsetzung konnte Großbritannien jedoch bis 2008 noch nicht vermelden - hier standen insbesondere technische Probleme einer schnellen Machbarkeit entgegen.

Doch auch im Vereinigten Königreich drehte sich der politische Wind und die neue Regierung hat bereits angekündigt, die VDS gemeinsam mit diversen anderen Regelungen, die im Zuge der Angst vor dem Terror die Freiheiten der Bevölkerung in Großbritannien beschnitten, abschaffen zu wollen. Premierminister David Cameron könnte deshalb durchaus ein Interesse daran haben, dass die Richtlinien nur noch (wie einst 2002) eine freiwillige VDS, nicht jedoch eine verpflichtende vorschreibt.

Bulgarien und Rumänien

Sowohl in Bulgarien als auch in Rumänien haben die örtlichen obersten Gerichte die VDS für nicht vereinbar mit den nationalen Verfassungen erklärt. Für die dortigen Regierungen wäre also die Rücknahme der derzeitigen Regelung keine Veränderung zum derzeitigen Zustand. Gleiches gilt für Ungarn, wo seit 2008 eine Verfassungsklage gegen die VDS anhängig ist.

Schweden und Österreich

Obgleich oft genug verlautbarte wurde, dass die EU-Richtlinie umgesetzt werden müsse, egal wie man dazu stehe, haben sich Schweden und Österreich bislang der umstrittenen VDS nicht angeschlossen. Erst Anfang diesen Jahres, im Januar 2010, wurde seitens der schwedischen Regierung mitgeteilt, dass man trotz des Urteils des EU-Gerichtshofes, das für Schweden lediglich die Zahlung der Gerichtskosten bedeutete, die VDS nicht vorantreiben werde.

Auch Österreich hat die VDS bisher noch nicht umgesetzt und setzt sich damit der Gefahr von Geldbußen aus. In der Alpenrepublik bestehen ebenfalls Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit mit der Verfassung. Die Infrastrukturministerin teilte mit, dass sie Verständnis dafür habe, dass manche die VDS nicht wollten, jedoch müsse man nun vorbereitet sein um Strafzahlungen zu vermeiden. Durch eine Neuregelung seitens der EU würde denjenigen, die eine VDS befürworten, die Möglichkeit genommen, sich auf die Vermeidung von Strafzahlungen und die Verpflichtung zur Umsetzung herauszureden.

Luxemburg und Griechenland

Auch Luxemburg und Griechenland hatten bis Mitte 2010 die VDS noch nicht umgesetzt. Das von wirtschaftlichen Problemen heimgesuchte Griechenland dürfte an einer kostenintensiven Umsetzung der VDS derzeit auch kaum interessiert sein. Luxemburg hat sich im August 2010 zwar zur Umsetzung entschlossen - da jedoch eine nationale VDS auch ohne verpflichtende EU-Richtlinie möglich ist, würde durch eine Optionalisierung nichts am Status Quo geändert. Allerdings deutet die Tatsache, dass die Umsetzung sehr lange hinausgezögert wurde, darauf hin, dass die Gesetzeslage noch einmal verändert und auf die VDS verzichtet werden könnte.

Italien und Polen

Italien und Polen stehen für jene Länder, die bereits ohne die Verpflichtung der EU ihre Alleingänge in Bezug auf die Speicherung der Daten begonnen hatten. So waren in Italien bis 2004 bereits Speicherfristen bis zu 5 Jahren festgelegt, die Umsetzung der Richtlinie aber dauerte bis 2009/2010.

Gleiches gilt für Polen - hier waren bereits Speicherfristen bis zu 15 (!) Jahren im Gespräch, die EU-Richtlinie aber wurde trotzdem erst 2009/2010 umgesetzt.

Problematiken? Welche Problematiken?

Doch was ist mit den anderen Ländern, die die VDS (pünktlich) umgesetzt haben?

Da wären:

  • Belgien (hier würde sich der Status Quo nicht ändern, nur wäre der Regierung die Möglichkeit genommen, sich auf die EU herauszureden - angesichts der Tatsache, dass noch 2009 per Onlinepetition gegen die VDS Stimmen gesammelt wurden, wäre es für die Regierung eher unbequem, nun zugeben zu müssen, dass man die VDS selbst wollte und die Richtlinie nur eine Ausrede ist - andererseits könnte man so ein unbequemes Gesetz zurücknehmen weil die Verpflichtung entfiele).
  • Dänemark (hier gab es bereits vorher entsprechende Gesetzesregelungen im Zuge von Antiterrorgesetzen, am Status Quo würde sich somit nichts ändern)

Auch Tschechien, Spanien oder Lettland, die die VDS teilweise schon durch eigenständige Gesetze wie das LSSI oder aber durch Umsetzung der Richtlinie verankert haben, könnten so wenigstens gegenüber der Bevölkerung nicht mehr vorgeben, hierzu gezwungen worden zu sein.

Es stellt sich also die Frage, von wem genau Frau Malmström spricht, wenn sie meint, dass die meisten Länder die VDS-Richtlinie wollen. Diejenigen, die sie tatsächlich wollen, sollten die Chuzpe besitzen, sie auch durchzusetzen, ohne sich mit Krokodilstränen auf den "Großen Bruder" EU herauszureden. Die anderen aber hätten die Möglichkeit, sich dagegen auszusprechen ohne ggf. durch wirtschaftliche Zwänge tatsächlich ein ungeliebtes Gesetz einzuführen oder ihren Verfassungsgerichtshof durch entsprechende Eingaben zu belagern.

Eine nicht verpflichtende, sondern freiwillige Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie würde alle Länder dazu bringen, Farbe zu bekennen - und gerade in den Ländern, in denen nach der Wirtschaftskrise die politischen Verhältnisse fragil sind, würden sich die Regierungen überlegen müssen, ob sie es riskieren, durch ein offenes Bekenntnis pro VDS den Unmut der Bevölkerung weiter zu entfachen oder zu verstärken. Es ist also kaum überzeugend, wenn es heißt "die meisten Länder wollen die VDS" - wenn sie sie wirklich wollen, dann sollen sie sie national durchsetzen und dafür auch die Verantwortung übernehmen. Diese Möglichkeit bleibt ihnen unbenommen - mit oder ohne EU-Richtlinie zur verpflichtenden VDS.