Was zählt ist Freiheit

Bürgerrechtler setzten Vorratsdatenspeicherung und Bundestrojaner Aktionen wie den "Bundessarg" entgegen. Interview mit Simon Jung und Uwe Schulte vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung

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Am 26. Dezember 2007 unterzeichnete der Bundespräsident das umstrittene Gesetz, welches die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland offiziell etablierte. Bereits zwei Tage später rief der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung zu einem Trauermarsch in Hamburg auf, der insbesondere mit dem „Bundessarg“ punktete. Trotz des Termins (an dem eine Vielzahl der Menschen eher an Parties oder Einkaufen interessiert ist) und der kurzen Aufrufsfrist fanden sich mehrere Hundert Menschen ein, um symbolisch die Privatsphäre zu Grabe zu tragen. Das Tempo, mit dem die Idee des „Bundessargs“ umgesetzt wurde, ließ auf langfristige Vorarbeit schließen.

Habt ihr (also der AK Vorratsdatenspeicherung bzw. die Ortsgruppe Hamburg des AK) lange an dem Konzept des „Bundessarges“ gefeilt?

Uwe Schulze: Nicht so lange, nein. Der Auslöser zur Aktion war: ich saß am Notebook und habe mir gedacht dass dieses Jahr nicht vergeht, ohne dass noch einmal auf die Totalüberwachung et cetera aufmerksam gemacht wird. Also schickte ich eine Mail an die Hamburger Liste und bat um Meinungen. Simon hatte die Idee zu einem Trauerzug. Auch mit dem Sarg war Simon schon in Gedanken auf der Mönckebergstraße unterwegs. Wiederum kurz darauf war es Alex Przibycin, der uns auf einen Sarg aufmerksam machte, den wir ersteigern könnten. Durch Spenden von Attac, der Piratenpartei Hamburg, der Freien Ärzteschaft e.V.,dem FoeBud e.V. und den Mitgliedern der Ortsgruppen Hamburg und Buchholz konnten wir das finanzieren. Innerhalb weniger Tage stand die ganze Aktion, die von Simon, Alex und mir in Nachtschichten rund um die Uhr durchgeplant wurde.

Aber die Idee war schon vorher entstanden?

Simon Jung: Die Idee, die Privatsphäre symbolisch in einem Sarg zu Grabe zu tragen, hatte ich bereits vor 1 1/2 Monaten. Aus organisatorischen Gründen haben wir (AK Hamburg) sie aber erst einmal wieder fallen lassen. Hätte Uwe nicht kurz vor Weihnachten die Idee gehabt, Silvester eine Trauermarsch-Aktion zu machen, hätte ich sie wohl nicht wieder ausgegraben.

Von der Idee zur PR-Strategie war es dann nur noch ein kleiner Schritt. Es bot sich an, aus der Hamburger Aktion den "Bundessarg - Trauerzug durch Deutschland" zu machen, weil unser Silvestermarsch am 31.12. schnell umgesetzt war und in München schon länger für eine AK Vorrat Demo am 06.01. mobilisiert wurde. Es fehlten also nur noch ein paar Städte, die zwischendrin mitmachen würden.

Trauerzug in Frankfurt am Main. Bild: Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung

Wieso der Sarg? Wer hatte die Idee, die Privatsphäre zu Grabe zu tragen?

Simon Jung: Die Idee stammt von Zypries, Schäuble, SPD, CDU, CSU, zum Teil auch den Grünen (biometrische Pässe unter Rot/Grün) und der EU :-) Wie ich auf die Sarg-Idee gekommen bin? Ich wollte eine ungewöhnliche, demo-ähnliche Aktion schaffen, die bei Passanten in den Köpfen hängen bleibt, überrascht und neugierig macht. Gleichzeitig sollte die Aktion eine unverfälschbare Botschaft durch die Medienlandschaft tragen. Wenn das Zeitungs-/Fernsehbild bereits alles sagt, kann die Presse schreiben, was sie will. Unsere Botschaft kommt dann trotzdem an.

Ein Sarg ist ja ein sehr endgültiges Symbol - dabei setzt der AK Vorrat ja noch seine Hoffnungen auf das Bundesverfassungsgericht, so dass die Privatsphäre durch die Vorratsdatenspeicherung quasi nur in vorläufigem Koma ist. Wieso dennoch der Sarg?

Simon Jung: Seit dem 01.01.08 ist die Privatsphäre nicht mehr Teil unseres Lebens. Sie ist von uns gegangen. Dieser Prozess ist durch die im Hintergrund stattfindende Datenspeicherung erst mal nicht sichtbar oder spürbar. Deshalb war es uns wichtig, den Tod der Privatsphäre "anfassbar" zu machen. Wir setzen natürlich Hoffnung auf das Bundesverfassungsgericht, dass es die VDS vorerst kassiert. Uns ist aber bewusst, dass auch ohne VDS die Überwachung der Bevölkerung und das staatliche Data-Mining vorangetrieben werden wird. Die VDS ist ja nur ein Pfeiler des Gerüsts "Überwachungsstaat". Wenn wir also am 06.01. Herrn Schäuble den "Privatsphäre-Sarg" im Namen Tausender überreichen, ist es ein Appell an die Öffentlichkeit: "Wacht auf. Eure Privatsphäre und eure Grundrechte werden unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung zu Grabe getragen." Jeder soll wissen, welche Leiche die Regierung aus SPD, CDU und CSU in ihrem Keller liegen hat. Auf Grund der großen Anteilnahme an dem Hamburger Trauermarsch und auf Grund mehrerer Anfragen, wollten wir mehr trauernden Bürgern Deutschlands die Möglichkeit geben, von der Privatsphäre angemessen Abschied nehmen zu können.

Nach dieser Wahlkampfveranstaltung des Münchner Oberbürgermeisterkandidaten "Seppi" Schmid soll Innenminister Wolfgang Schäuble der "Bundessarg" überreicht werden

Uwe Schulze: Ein Sarg ist sicherlich etwas Endgültiges als Symbol, aber dieser Sarg hat in Hamburg wirklich gezeigt, dass es ganz viele Menschen gibt, die dieses symbolisch auch mit dem Diebstahl ihrer Grundrechte verbinden, dem Verlust ihrer Privatsphäre - was ich selber als das höchste Gut der Menschen betrachte. Ein Sarg ist ein ziemlich sicheres Zeichen für einen Verlust!

Hat dieses Symbol bei den Menschen auch emotional etwas bewirkt? Hat es sie berührt?

Simon Jung: Ja, eindeutig. Zusätzlich war das Thema durch die Verfassungsklage gerade medial sehr präsent. Der Charakter der Veranstaltung tat ein übriges. Es war ja keine normale Demo, sondern eine ernst gemeinte Trauerfeier. Die Privatsphäre trägt man nicht alle Tage im Sarg durch die Stadt. Es hat mich wirklich berührt, zu sehen, dass einige Menschen echte Tränen in den Augen hatten.

Uwe Schulze: Mich hat diese Aktion selber wirklich auch tief berührt. Ein Trauermarsch für etwas, was einen niemals jemand nehmen darf. Eine Teamarbeit die ich bisher nie erlebt habe, in diesem Maße. Menschen haben sich spontan in den Maillisten von Hamburg und Buchholz eingetragen und baten uns sofort alle erdenkliche Hilfe an. Der Fahrer des Sarges "Eisturm" hat in fast selbstloser Hingabe den Sarg bis nach Hannover gefahren, um ihn dort der Ortsgruppe Kassel zu übergeben. Selbst bei der Übergabe fand eine Trauer statt - mit Kerzen. Alle Organisationen, die diesen Trauermarsch unterstützt haben, waren mit sehr viel Einsatz bis an ihre Grenzen dabei. Die Redner, auch die Redner, die sich spontan entschieden haben, einige Stunden vor dem Marsch noch eine Rede zu schreiben um sie vorzutragen. Die Ortsgruppe Kiel hat einen Kranz mitgebracht um Ihrer Trauer auszudrücken. Und die vielen Menschen, die während des Marsches immer an den Sarg herantraten, um ihn - ihre Privatsphäre - ein Stück auf dem letzten Weg zu begleiten. Das hat mich sehr berührt und fast zum Weinen gebracht.

Findet Ihr, dass die Aufmerksamkeit, was solche Themen und Demos angeht, steigt? Und dass mehr Leute bereit sind, sich aktiv einzubringen?

Simon Jung: Ich denke, dass die bisherige Arbeit des AK Vorrat und anderer Aktivisten jetzt Früchte trägt. Immer mehr Menschen sind für das Thema Überwachung und Datenschutz sensibilisiert.

Uwe Schulze: Die Menschen im Allgemeinen werden mittlerweile durch die Seiten des AK Vorrat und die Aktionen aufmerksam. Der Name war nun schon öfters in den Medien - und die Leute wissen, was er bedeutet. Daher auch unsere Traueranzeige, die in unserer PE war und sich somit wirklich verbreitet hat. Die Menschen sind einfach sensibler geworden was ihre Privatsphäre angeht. Sie wollen Informationen und auch Hilfe, aber sie wollen auch helfen.

Wie wird es nun weitergehen mit dem Bundessarg?

Uwe Schulze: Momentan ist der - ich sag es mal so - von mir eigenmächtig zum "Bundessarg" erklärte Sarg in Frankfurt und soll nun über Ulm (5.1.), wo auch ein Trauermarsch stattfindet, am 6.1.2008 nach München. Zu einer Demo der dortigen Ortsgruppe, die dann diesen Bundessarg Herrn Dr. Schäuble übergeben wird.

Simon Jung: Wir laden natürlich alle dazu ein, an der Trauerfeier teilzunehmen. Wir bitte darum, dem Anlass entsprechend im schwarzen Anzug/Kostüm zu kommen.

Während der AK Vorrat unter anderem auch als Filmpartner beim bundesweiten Filmfestival immer mehr nicht nur durch „normale Demonstrationen“, sondern durch Kooperationen oder durch Kunstaktionen auf die Problematik der stets zunehmenden Überwachung in Deutschland und Europa hinweist, steigt das Medieninteresse nicht nur an den Demonstrationen sondern auch am Thema allgemein. So hat der Sender 3Sat derzeit gemeinsam mit DOK Leipzig einen Wettbewerb „Mein Leben in Sicherheit“ ausgeschrieben, bei dem Dokumentarfilme eingesandt werden können.