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Rede "Freiheit statt Sicherheitswahn" (19.06.2006) Print E-mail

Rede auf der Demonstration "Freiheit statt Sicherheitswahn" in Berlin:

Wir protestieren hier gegen Sicherheitswahn, und wir haben absichtlich das Motto „Sicherheitswahn“ statt „Überwachung“ gewählt, denn was ist denn die Ursache der zunehmenden Überwachung und des Abbaus unserer Freiheitsrechte? Das ist doch erstens ein Sicherheitswahn, der versucht, eine totale Sicherheit zu etablieren, und zweitens, dass das den Menschen weitgehend egal ist.

 Fangen wir mit der Frage des Sicherheitswahns an. Das Argument ist doch immer: "Wir müssen uns vor Kriminalität schützen - vor Drogendealern, Terroristen, Kinderschändern, organisierter Kriminalität -, die muss ein für allemal ausgemerzt werden." Das ist austauschbar.

Ich habe neulich mit einem Bundestagsabgeordneten von der CDU korrespondiert, Herr Dr. Krings, der bei der CDU für Vorratsdatenspeicherung zuständig ist. Er gab ganz offen zu, dass diese Totalregistrierung der Telekommunikation die Kriminalitätsrate nicht senken wird. Aber, sagte er, im Internet passieren ganz schreckliche Dinge, z.B. Kinderpornografie, und wenn nur eines dieser Verbrechen aufgeklärt werden kann, lohnt sich die ganze Geschichte schon. Ähnlich ist es bei der SPD.

Diese Einstellung ist doch symptomatisch für den Sicherheitswahn in unserer Politik. Schon eine einzige Straftat, die aufzuklären ist, soll die totale Massenüberwachung der gesamten Bevölkerung rechtfertigen. Jedes Maß, jede Verhältnismäßigkeit geht verloren, wenn man das für angemessen hält.

Fakten zur Kriminalitätsgefahr

Sehen wir uns doch einmal an, wie sehr wir in Wirklichkeit von Kriminalität bedroht sind, welches Risiko wir laufen, Opfer von Kriminalität werden. Was sind die Fakten zur viel beschworenen Kriminalitätsgefahr?

Es gibt eine offizielle Statistik der Weltgesundheitsorganisation über den Verlust an gesunder Lebenszeit durch vorzeitigen Tod, Krankheit oder Behinderung. Dieser Statistik zufolge beruht der vorzeitige Verlust gesunder Lebenszeit für Westeuropäer zu 92% auf Krankheiten, zu 2% auf Verkehrsunfällen, zu 1% auf Stürzen, zu 1,7% auf Suizid und gerade einmal zu 0,2% auf Gewalt. Straftaten sind damit der Statistik zufolge für die Gesundheit der Bevölkerung in etwa so schädlich wie versehentliche Vergiftungen, Karies, Rückenschmerzen oder Durchfall. Das sind offizielle Zahlen.

Die großen Risiken für unsere Gesundheit sind doch ganz andere als Kriminalität. Ich zitiere: Bluthochdruck, Tabak, Alkohol, Cholesterin, Übergewicht, Fehlernäherung. Das sind die großen Risiken, mit denen wir zu kämpfen haben. Würde man z.B. den Tabakkonsum nur um 2% zurückfahren, würde man der Gesundheit der Bevölkerung einen größeren Dienst erweisen als durch Verhinderung sämtlicher Straftaten einschließlich Terrorismus. Das sagt die Statistik.

Unsere Bedrohung durch Kriminalität hält sich also in überschaubaren Grenzen im Vergleich zu anderen Lebensrisiken, mit denen wir zu kämpfen haben. Leider ist die Risikowahrnehmung der meisten Menschen in diesem Punkt verzerrt. Die genannten Fakten sind nicht bekannt. Da ist noch eine Menge Aufklärungsarbeit zu leisten gegenüber den Bürgern, auch gegenüber den Medien, die oft einzelne Straftaten herausstellen, sensationalisieren und den Eindruck einer unmittelbaren Bedrohung vermitteln, die es nicht gibt.

Verlogene Debatte

 Die dauernde Sicherheitsdebatte schadet nicht nur den Bürgerrechten und durch Einschüchterungseffekte auch der Demokratie insgesamt. Sie schadet, indem sie von den Versäumnissen und der falschen Prioritätensetzung der Politik ablenkt. Während die herrschende Politik, also die beiden großen Volksparteien, versucht, durch eine möglichst lückenlose Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung möglichst auch noch den letzten Straftäter zu bestrafen, nimmt sie bewusst in Kauf, dass tausende von Menschen jedes Jahr z.B. an den Folgen von Tabak, Alkohol und Verkehrsunfällen sterben. Zugunsten des Profits einzelner Wirtschaftszweige, etwa Tabakindustrie, Brauereien, Automobilindustrie, bleibt die Politik untätig, wo sie Krankheit und Tod vieler Menschen leicht verhindern könnte und müsste. Auch bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Armut – seit einigen Jahren die wichtigsten Sorgen der Menschen – hat die herrschende Politik in den letzten Jahre beständig versagt, wie die Arbeitslosenstatistik etwa zeigt.

Bei der Sicherheitsdebatte handelt es sich deswegen um eine verlogene Debatte, die von den wirklichen Problemen unserer Gesellschaft ablenkt. Und das ist keine Verhöhnung der Opfer von Kriminalität. Wer so argumentiert, verhöhnt auch z.B. die Opfer von Verkehrsunfällen. Auf den Autobahnen gibt es kein Geschwindigkeitslimit, obwohl das den Tod einiger Opfer verhindern könnte. Da sagt man „Freie Fahrt für freie Bürger“, und das sagen wir auch!

Es ist nicht so, dass wir die Hände in den Schoß legen. Die Bevölkerung wird geschützt, die Polizei macht einen guten Job und schreitet ein, wenn dazu Anlass besteht. Aber wogegen wir uns wenden, ist eine anlassunabhängige, vorsorgliche Überwachung der gesamten Bevölkerung, gegen die Überwachung Unverdächtiger. Selbst wenn das einige Straftaten verhindern könnte, ist es nicht mit den Prinzipien eines freiheitlichen Rechtsstaats vereinbar. Wir wollen keine Sicherheit um jeden Preis!

Die Folgen des Sicherheitsaktionismus

Ein Sicherheitsstaat liegt letztendlich nicht in unserem Interesse, weil Massenüberwachung auch von rechtmäßigen und wichtigen Aktivitäten in unserer Gesellschaft abschreckt. Dazu gehört etwa die Arbeit von Vertrauenspersonen wie Ärzten, Beratungsstellen und Rechtsanwälten. Deren Arbeit wird gestört, wenn nachvollziehbar ist, wer mit welchen Ärzten in Verbindung steht, wer etwa auf Steuerstrafrecht spezialisierte Rechtsanwälte konsultiert, wer sich z.B. an eine Aids-Beratungsstelle wendet. Das muss vertraulich bleiben.

Demonstrationen, Proteste und die Arbeit von Aktivisten wird gestört, wenn man ständig damit rechnen muss, von den Nachrichtendiensten überwacht zu werden.

Die Pressefreiheit ist in Gefahr, wo Informanten der Presse jederzeit aufgedeckt werden können und dadurch abgeschreckt werden. So können Missstände in unserer Gesellschaft nicht mehr aufgedeckt werden.

Unsere persönliche Freiheit ist in Gefahr, wenn zuunrecht oder vorsorglich kontrolliert, befragt, mit Ausreiseverboten belegt wird – vielleicht auch nur wegen einer Namensverwechselung.

 Was hören wir von den Menschen, die wir mit unseren Sorgen ansprechen? „Ich habe nichts zu verbergen, mir kann nichts passieren.“ Stimmt das wirklich? Es gab beispielsweise eine Handyfahndung. In Kiel gab es eine Brandstiftung, da wurden kurzerhand alle Leute angeschrieben und einbestellt - 300 Leute -, die sich zum fraglichen Zeitpunkt im Umkreis aufhielten. Sie wurden einbestellt und befragt. Es gibt Massen-DNA-Tests, die durchgeführt werden, für jeden, der zum Beispiel einen Porsche mit Münchener Kennzeichen fährt, das hat es alles schon gegeben. Niemand kann mehr sagen, dass er nicht betroffen ist von diesem Sicherheitswahn.

Es mag ja sein, dass es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass der deutsche Michel zuhause hinter dem Ofen hervorgezerrt wird von der Polizei, aber er sollte sich auch darum kümmern, wenn andere kontrolliert und überwacht werden, denn alle profitieren von Meinungsvielfalt, von einer gewissen Kontrolle und Druck auf die Politik von Seiten der Medien und Aktivisten. Deswegen dürfen uns auch Andersdenkende und Aktive nicht egal sein.

Außerdem warne ich: Was heute die Aufzeichnung von Verbindungsdaten ist, kennt keine Grenzen. Diese Sicherheitslogik, derzufolge schon eine einzelne Straftat derartige Maßnahmen rechtfertigen soll, wird immer weiter gehen. Warum sollten wir nicht in 10 oder 20 Jahren eine Videokamera in jeder Wohnung haben? Warum sollte nicht aufgezeichnet werden, was in Toiletten und Wohnungen geschieht? Das könnte doch auch einmal nützlich sein, um einen Anschlag abzuwenden.

Wehret den Anfängen! Der Überwachungsstaat schadet viel mehr als er nutzt. Deswegen muss eine freiheitliche Gesellschaft bewusst in Kauf nehmen, dass manche Straftaten nicht verhindert, manche Straftäter nicht erwischt werden können. Denn diese Grenzen für Sicherheitsbehörden schützen unsere Gesellschaft selbst. Wie lange habe ich nicht mehr gehört, dass eine freiheitliche Demokratie in einem gewissen Maße in Kauf nehmen muss, nicht alle Straftaten verhindern zu können. Das habe ich in der politischen Debatte der letzten Jahre nicht mehr gehört. Was ich immer höre ist: „Wir müssen unser Menschenmöglichstes tun, um Straftaten zu verhindern.“. Das ist Sicherheitswahn!

Freiheit macht uns sicherer und nicht unsicherer.

Grundrechtsterroristen

Woher droht denn die wahre Gefahr für Freiheit und Demokratie in unserem Lande. Können vielleicht Terroristen aus Afghanistan die Demokratie in Deutschland abschaffen durch Anschläge? Oder geht nicht die wirkliche Gefahr für Freiheit und Demokratie von unseren Innenpolitikern aus, die eine Überwachungs- und Kontrollgesellschaft aufbauen wollen, möglichst jeden Straftäter wegschließen wollen, Ordnung schaffen, gegen Abweichler und Störende vorgehen wollen? Da kommt doch die wirkliche Gefahr her für Freiheit in unserem Lande.

 Die Kritik der Sicherheitspolitiker und Sicherheitsfanatiker in der Politik nimmt immer mehr zu. Es wird kritisiert das Bundesverfassungsgericht, seine Rechtsprechung und damit letztlich unsere Freiheitsrechte selbst. Schäuble hat kritisiert das Urteil zum Luftsicherheitsgesetz, obwohl doch das Bundesverfassungsgericht nur verboten hat, dass Unschuldige in Flugzeugen abgeschossen werden dürfen.

Beckstein hat die Entscheidung zur Rasterfahndung kritisiert und gesagt: „Das ist ein schwarzer Tag für die Terrorbekämpfung in Deutschland“. Obwohl doch die Rasterfahndung nicht einen einzigen Terroristen aufgedeckt hat.

Das sind doch die wahren Feinde unseres Rechtsstaats. Das ist die wahre Gefahr: Nicht Terroristen in Afghanistan, sondern Grundrechtsterroristen hier in Deutschland!

Angriff auf das Erbe der Aufklärung

Bei der Frage der Überwachung stehen Freiheit und Demokratie in unserer Gesellschaft auf dem Spiel. Es stehen zentrale Errungenschaften der Aufklärung auf dem Spiel, zentrale Werte in unserer Gesellschaft, die Rechte, für die unzählige Menschen in der Vergangenheit ihr Leben gegeben haben, in Europa und Amerika.

Der Sicherheitswahn ist ein Angriff auf das Erbe der Aufklärung und auf rechtsstaatliche Errungenschaften.

So sicher es ist, dass es in 20 Jahren noch Straftaten geben wird, so unsicher ist es, ob noch viel von Freiheit und Meinungsvielfalt übrig geblieben sein wird.

Wer immer mehr Freiheit aufgibt, um zu versuchen, noch das letzte Quäntchen an Sicherheit herauszuholen, der wird letztendlich beides verlieren. Das sagte uns Franklin, ein großer Mann, ein Vater der amerikanischen Verfassung, in der mit zum ersten Mal Grundrechte vorgesehen waren.

Forderungen

 Und deswegen fordern wir: Wir wollen einen Abbau der Überwachung.

Wir wollen die Vorratsdatenspeicherung stoppen. Wir wollen keine Totalprotokollierung unserer Telekommunikation.

Wir wollen die permanente Videoüberwachung von jedermann stoppen, die Überwachung und Aufzeichnung öffentlicher Plätze. Jeder kann davon erfasst werden. Untersuchungen zeigen, dass das Kriminalität nicht verhindert.

Wir wenden uns gegen biometrische Daten in Ausweisen und Pässen. Wir wollen nicht alle unsere Fingerabdrücke abgeben müssen, unsere Gesichter in Zentimetermaßen vermessen lassen und das auf Ausweisen mit uns herum tragen müssen.

Wir wenden uns gegen die Verwendung von RFID-Funkchips, die kontaktlos ausgelesen werden können. Wir wollen nicht, dass – wie z.B. bei der Fußballweltmeisterschaft – jederzeit kontaktlos nachvollzogen werden kann, wer sich wo befindet.

Wir wollen keine verdachtslose und vorsorgliche Kontrolle von Kfz-Kennzeichen auf öffentlichen Straßen. Es geht nicht an, dass jeder, der mit dem Auto an einer Mautstelle vorbei fährt, daraufhin kontrolliert wird, ob er in irgend einer Suchdatei steht.

Wir wollen alle seit 1968 beschlossenen Sicherheitsgesetze auf den Prüfstand stellen. Es muss von einer unabhängigen Stelle untersucht werden, welchen Nutzen diese Befugnisse wirklich bringen und welchen Schaden für die Gesellschaft sie verursachen.

Wir wissen doch in Wahrheit überhaupt nicht, ob diese „Sicherheitsgesetze“ wirklich mehr Sicherheit bringen, ob es wirklich ohne einige dieser Gesetze mehr Straftaten gäbe. Meistens sind diese Befugnisse doch nur interessant zur Aufklärung von Straftaten, wo die Aufklärungsquote vielleicht von 60 auf 65% gesteigert werden kann. Das ist es uns nicht wert!

Nach der inneren Aufrüstung der letzten Jahre wollen wir einen Stopp für neue Sicherheitsgesetze, vor allem, was Massenüberwachung und Massenkontrolle anbelangt. Es dürfen nicht völlig Unverdächtige verdachtsunabhängig kontrolliert werden. Dafür kämpfen wir!

Was tun?

 Das war der leichte Teil meiner Rede, die Kritik und unsere Forderungen. Was schwerer ist, ist die Frage, wir können wir durchsetzen, dass die Gesellschaft umdenkt, dass ein Umdenken in der Politik einsetzt. Ich warne davor, sich auf das Bundesverfassungsgericht zu verlassen. Das Bundesverfassungsgericht kann nur äußerste Grenzen setzen, die Grenzen der Menschenwürde aussprechen. Wir müssen schon vorher ansetzen und fragen, sind diese Gesetze überhaupt sinnvoll und notwendig? Außerdem braucht das Bundesverfassungsgericht Rückhalt in der Bevölkerung. Das Bundesverfassungsgericht und die Politik müssen sehen, dass die Leute für ihre Rechte auf die Straße gehen.

Ich will auch etwas Selbstkritik üben. Ich glaube, wir müssen in Diskussionen mit Freunden, Kollegen und anderen mehr zu unserer Meinung stehen, offen sagen, was wir denken, und auch, wenn die Sicherheitsgläubigen in der Mehrheit sind, versuchen sie zu überzeugen. Wir müssen sie sogar darauf ansprechen, wenn es Gelegenheit dazu gibt. Wir müssen uns in Bürgerrechtsorganisationen engagieren. Diejenigen von uns, die das noch nicht machen, kann ich nur bitten und aufrufen, das zu tun, denn gemeinsam sind wir stark.

Wir müssen vielleicht auch in die Politik. Ich bin ja an sich kein politischer Mensch und noch nicht in einer politischen Partei aktiv, aber ich denke, dass wir vielleicht auch die Parteien von innen überzeugen müssen, dass eine Massenüberwachung der falsche Weg für unsere Gesellschaft ist und dass sie uns letztendlich schadet. Wir müssen Druck von innen machen gegen Sicherheitswahn und für mehr Ehrlichkeit in der Innenpolitik!

Unser Protest auf der Straße heute ist der erste Schritt dazu, und deswegen freut es mich, dass wir so zahlreich hier heute zusammen gekommen sind!

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