Vorratsdatenspeicherung: Die Kinderporno-Lüge (31.01.2011) |
Das Bundesjustizministerium will wegen vermeintlicher Lücken beim Vorgehen gegen Kinderpornografie im Internet eine Vorratsdatenspeicherung. Doch von 1.000 nicht aufgeklärten Straftaten handelt es sich bei weniger als einer um Kinderpornografie im Internet. Nach einem "Kompromissvorschlag" von Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger zur Vorratsdatenspeicherung soll künftig für jede unserer Internetverbindungen auf Vorrat gespeichert werden, wer wann mit welcher IP-Adresse im Netz gesurft, publiziert oder gemailt hat, um "insbesondere zum Vorgehen gegen Kinderpornografie solche Bestandsdatenauskünfte zu ermöglichen". Die Bundesjustizministerin erklärte, ihr Vorstoß beziehe sich "gerade auf mögliche Straftaten im Zusammenhang mit Kinderpornografie. Die Fachleute sagen, 80% der Daten, die da immer so gerne benutzt werden wollen, beziehen sich genau hierauf, nämlich auf Vorgehen gegen Kinderpornografie." Ein Blick in die einschlägigen Statistiken ergibt allerdings ein vollkommen anderes Bild:
Insgesamt zeigt sich: Es gibt auch ohne Vorratsspeicherung von Internetadressen keine signifikante Aufklärungslücke im Internet, schon gar nicht bei Ermittlungen wegen Kinderpornografie im Internet. Umgekehrt werden Internetdelikte häufiger aufgeklärt als außerhalb des Internet begangene Straftaten. Die vom Justizministerium offenbar übernommene Behauptung des Bundeskriminalamts, 72,82% nicht beantworteter Auskunftsersuchen beträfe "die Straftatbestände Verbreitung, Erwerb oder Besitz kinder- und jugendpornographischer Schriften", ist auf abenteuerliche Art und Weise zustande gekommen: Beispielsweise lagen 209 der vom BKA ergebnislos angefragten Internetverbindungen länger als 10 Tage zurück, die Anfragen waren wegen der dem BKA bekannten, kürzeren Speicherfristen der Provider von vornherein sinnlos. 147 weitere angefragte Internetverbindungen lagen sogar länger als sechs Monate in der Vergangenheit! Auf Nachfrage teilte uns das Bundesinnenministerium mit, dort sei nicht bekannt, ob das Bundeskriminalamt die öffentlich beklagte Zahl erfolgloser Verbindungsdatenabfragen durch erkennbar aussichtslose Ersuchen in die Höhe getrieben habe. Nach einer ausführlichen Analyse unsererseits sind die BKA-Zahlen "irrelevant" und belegen "keine blinde Flecken in der Verbrechensbekämpfung oder Schutzlücken". Auch Dr. Michael Kilchling vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg kritisierte: "Für eine seriöse wissenschaftliche Stellungnahme fehlt jede Basis". Dennoch ist ausgerechnet die Bundesjustizministerin dem unhaltbaren, vom Bundesinnenminister im Rahmen einer politischen Kampagne in Auftrag gegebenen BKA-Bericht aufgesessen. Weiter heißt es in dem Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums zur Rechtfertigung der vorgeschlagenen Internet-Vorratsdatenspeicherung, die Zuordnung von IP-Adressen ermöglichten "die Erstellung aussagekräftiger Persönlichkeits- und Bewegungsprofile praktisch jeden Bürgers" nicht. Tatsächlich ist genau dies der Fall: Die Kenntnis der Identität eines Internetnutzers macht in Verbindung mit "Logfiles" der Diensteanbieter potenziell unsere gesamte Internetnutzung nachvollziehbar – nicht nur, mit wem wir in Verbindung standen (wie bei Telefon-Verbindungsdaten), sondern sogar die Inhalte, für die wir uns im Netz interessiert haben (gelesene Internetseiten, eingegebene Suchbegriffe usw.). Internetdienste im In- und Ausland
protokollieren verbreitet jeden unserer Klicks und jede unserer
Eingaben auf Vorrat. Das Bundesverfassungsgericht meinte 2010 noch,
eine Internet-Vorratsdatenspeicherung laufe nicht darauf hinaus, "eine
allgemein umfassende Datensammlung zur weitestmöglichen
Rekonstruierbarkeit jedweder Aktivitäten der Bürger zu schaffen",
weil das deutsche Telemediengesetz verhindere, "dass die
Internetnutzung inhaltlich in allgemeinen kommerziellen
Datensammlungen festgehalten wird und damit rekonstruierbar bleibt."
Das Gericht übersah dabei aber, dass ein deutsches Gesetz für die
größten Diensteanbieter im Internet mit Sitz im Ausland von
vornherein nicht gilt. Allein Google speichert jeden unserer Klicks neun Monate lang auf Vorrat und gibt jeden Tag dreimal solche Surfprotokolle an deutsche Behörden heraus
– ohne richterliche Anordnung, auch präventiv und selbst an
Nachrichtendienste. Vor dem Hintergrund solcher Surfprotokolle ist es gerade die Zuordnung der genutzten IP-Adresse, die Polizei und Geheimdiensten die "Erstellung aussagekräftiger
Persönlichkeitsprofile" über uns ermöglicht. Aus der IP-Adresse lässt sich auch der Aufenthaltsort ableiten - neuerdings sogar, ob man von zuhause, auf der Arbeit oder unterwegs surft. Das Bundesjustizministerium schreibt schließlich, das vom Bundesverfassungsgericht anerkannte "diffus bedrohliche Gefühl des Beobachtetseins" entstehe bei einer Internet-Vorratsspeicherung nicht. Tatsächlich kündigten 2009 aber schon 46% der Bürger an, einen Anonymisierungsdienst zu nutzen oder nutzen zu wollen – ganz ohne Sorge vor Beobachtung? Nach Inkrafttreten der Vorratsdatenspeicherung wurde uns berichtet, politische Themen würden in Chats und Internetforen gemieden, intime Themen nicht mehr recherchiert, E-Mails nur noch zurückhaltend versandt. Eine Internetnutzerin schrieb: "Letztes Jahr habe ich einige Hilfeseiten von Missbrauchsopfern umgesehen und mir hier und da Rat und Hilfe gesucht, auch konnte ich sicher sein, dass meine Geschichte zu meiner realen Person nicht zugeordnet werden konnte. Bei dem Gedanken, dass jemand über meine IP dann meinen Namen meine Adresse und meine Geschichte haben könnte, wird mir ziemlich übel. Deshalb habe ich mich aus diversen Foren und Chats zurück gezogen und somit leider auch keine Möglichkeit mehr, mich mit anderen anonymen Opfern auszutauschen." Wenn du die drohende jederzeitige Nachvollziehbarkeit deiner Surfgewohnheiten verhindern willst, mach mit bei unserer Kampagne "Wort halten, FDP!": Schaubilder<< frühere Schaubilder | weitere Schaubilder >> Nähere Informationen: Bericht "Vorratsdatenspeicherung: Die Kinderporno-Lüge" (pdf) Siehe auch
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