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Die drohende Internet-Vorratsdatenspeicherung (06.09.2011) Print E-mail

 Über IP-Adressen, den Gesetzentwurf der Bundesjustizministerin und seine gesellschaftlichen Auswirkungen

Eine neue Vorratsdatenspeicherung?

Seit das Bundesverfassungsgericht die von CDU/CSU und SPD in Deutschland eingeführte Vorratsdatenspeicherung aller Telefon-, Handy- und Internetverbindungsdaten (inklusive SMS-Verbindungen und Handy-Standortdaten) im März 2010 für verfassungswidrig und nichtig erklärt hat, betätigen sich insbesondere Unionspolitiker und Teile der SPD in einer gewaltigen Medienkampagne, um mit zum Teil haarsträubenden oder populistischen Scheinargumenten die Neuauflage einer solchen Vorratsdatenspeicherung zu erzwingen.

Am 10. Juni 2011 hat FDP-Bundesjustizministerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger den Entwurf eines neuen Gesetzes „zur Sicherung vorhandener Verkehrsdaten und Gewährleistung von Bestandsdatenauskünften im Internet“ vorgelegt, der neben dem grundrechtsbewahrenden Ansatz der Erfassung von Telekommunikationsverbindungen nur bei Verdacht einer Straftat leider auch eine neue versteckte Vorratsdatenspeicherung enthält:

Demnach soll jedem Internetanbieter die vollständige und verdachtsunabhängige Speicherung der IP-Daten von allen Internetnutzern vorgeschrieben werden.

In Verbindung mit anderen Informationen, die Anbieter wie Google, Twitter oder Youtube speichern, würde so potenziell jede unserer Eingaben, jeder unserer Klicks, jeder unserer Downloads, jeder unserer Beiträge/Posts im Netz nachvollziehbar werden. Es droht das Ende der anonymen Information und Kommunikation im Internet.

Nach dem Vorschlag könnte die Polizei Internetnutzer noch nach Tagen (bis zu sieben Tage lang) ermitteln, und zwar sogar schon bei Verdacht von Bagatelldelikten wie Beleidigung oder Tauschbörsennutzung. Und das alles ohne richterliche Prüfung oder Genehmigung. Selbst an 29 ausländische Staaten wären die Daten auf Anfrage herauszugeben.

Was das in der Praxis bedeuten würde, scheint vielen Verantwortlichen nicht klar zu sein - wir wollen versuchen, es im Folgenden deutlich zu machen.

Kritik an der IP-Vorratsdatenspeicherung

Eine generelle und undifferenzierte Vorratsspeicherung unserer Identität im Internet würde die Erstellung aussagekräftiger Persönlichkeits- und Bewegungsprofile praktisch jeden Bürgers in noch höherem Maße als Telefon-Verbindungsdaten ermöglichen: Die Kenntnis der Identität eines Internetnutzers macht in Verbindung mit „Logfiles“ der Internet-Diensteanbieter nicht nur nachvollziehbar, mit wem wir Kontakt hatten, sondern sogar die Inhalte, für die wir uns im Netz interessiert haben (gelesene Internetseiten, eingegebene Suchbegriffe usw.). Aus der Summe der von uns im Internet gelesenen und geschriebenen Informationen kann ein aussagekräftiges Interessen- und Persönlichkeitsprofil erstellt werden, das beispielsweise unsere politische Meinung, unsere Religion, unsere Krankheiten oder unser Sexualleben offenbaren kann.

Ist ein Pseudonym (z.B. Benutzerkonto, Cookie) über die IP-Adresse des Nutzers erst einmal identifiziert, ermöglichen Nutzungsdaten des Anbieters oft die Rückverfolgung jedes Klicks und jeder Eingabe des Inhabers über Tage, Wochen oder Monate hinweg. Daneben wird in die meisten E-Mails die IP-Adresse des Absenders aufgenommen, so dass auch unter Pseudonym registrierte E-Mail-Konten künftig zugeordnet werden könnten. Aus der IP-Adresse lässt sich überdies der ungefähre Aufenthaltsort des Nutzers ableiten - nach neuen Forschungsergebnissen sogar, ob sich der Nutzer zuhause, auf der Arbeit oder unterwegs befindet.

Eine generelle und undifferenzierte Vorratsspeicherung unserer Identität im Internet hätte unzumutbare Auswirkungen:

Sie würde das Ende der Anonymität im Internet bedeuten.

Sie würde es unmöglich machen, das Internet frei vom Risiko staatlicher Beobachtung (z.B. auch wegen eines falschen Verdachts), missbräuchlicher Offenlegung durch Mitarbeiter des Anbieters (Telekom-Skandal) und versehentlichen Datenverlustes (z.B. T-Mobile-Datenverlust) zu nutzen.

Dadurch hätte eine IP-Vorratsdatenspeicherung unzumutbare Folgen, wo Menschen nur im Schutz der Anonymität überhaupt bereit sind, sich in einer Notsituation beraten und helfen zu lassen (z.B. Opfer und Täter von Gewalt- oder Sexualdelikten), ihre Meinung trotz öffentlichen Drucks zu äußern oder Missstände bekannt zu machen (Presseinformanten, anonyme Strafanzeigen).

Die IP-Vorratsspeicherung unserer Identität im Internet würde zu dem führen, was vom Bundesverfassungsgericht als „diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins“ bezeichnet worden ist. Das wäre Gift für eine demokratische Gesellschaft, die auf frei und innovativ denkende Mitglieder mit neuen und frischen Ideen für eine gute und menschenfreundliche Weiterentwicklung unseres Zusammenlebens angewiesen ist.

Dass bereits heute einige Internet-Zugangsanbieter rechtswidrig eine Vorratsspeicherung unserer Identität im Internet praktizieren, ist mit den Auswirkungen eines generellen Speicherzwangs nicht zu vergleichen. Denn bisher ermöglicht die unterschiedliche Speicherpraxis gerade Personen, die auf eine anonyme Internetnutzung angewiesen sind, die Wahl eines Internet-Zugangsanbieters, der keine Vorratsdatenspeicherung vornimmt.

Straftaten lassen sich auch ohne Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten über das Verbindungsende hinaus verfolgen; „Quick Freeze“ setzt keine Vorratsdatenspeicherung voraus.

Schon der Blick auf unser tägliches Leben zeigt, dass die meisten (ca. 55%) dem Staat bekannt gewordenen Straftaten aufgeklärt werden können, obwohl niemand mitschreibt, wer wir sind, mit wem wir geredet, wo wir uns aufgehalten und worüber wir uns informiert haben. Und wer würde einer Forderung nach solch einer Vollprotokollierung unseres Lebens außerhalb des Internets zustimmen wollen?

Eine generelle und undifferenzierte Vorratsspeicherung unserer Identität im Internet stünde außer jedem Verhältnis zu ihrem erhofften Nutzen:

Schon heute werden Internetdelikte außergewöhnlich häufig aufgeklärt; die Einführung einer sechsmonatigen IP-Vorratsdatenspeicherung 2009 erhöhte diese Aufklärungsquote nicht. Eine flächendeckende Vorratsdatenspeicherung droht die Aufklärung von Straftaten umgekehrt sogar zu erschweren, weil sie ein verstärktes Ausweichen auf Anonymisierungstechniken und andere Kommunikationskanäle nach sich zieht und dadurch selbst gezielte, verdachtsabhängige Überwachungsmaßnahmen vereitelt, wo sie heute noch möglich sind.

Eine generelle und undifferenzierte Vorratsspeicherung unserer Identität im Internet wäre eine nicht zu rechtfertigende und technikfeindliche Diskriminierung von Internetnutzern gegenüber Menschen, die weiterhin anonym telefonisch (z.B. Flatrate), postalisch oder unmittelbar kommunizieren und sich Informationen verschaffen können.

In immer mehr Fällen können Menschen Informationen nur noch über das Internet beschaffen und nur noch über das Internet kommunizieren.

Eine generelle und undifferenzierte Vorratsspeicherung unserer Identität im Internet wäre ein Dammbruch mit weitreichenden Folgen: Eine IP-Vorratsdatenspeicherung stellte den Präzedenzfall einer Aufgabe des rechtsstaatlichen Grundsatzes dar, wonach „grundrechtsrelevante Maßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr nur unter der Voraussetzung erfolgen, dass ein ausreichender Verdacht oder Anlass für diese Maßnahme gegeben ist“.

 Wird eine generelle und undifferenzierte Vorratsdatenspeicherung erstmals als legitimes Mittel anerkannt, droht schrittweise (z.B. als Ergebnis von Koalitionsverhandlungen) nicht nur eine noch sehr viel weiter reichende Erfassung von Telekommunikationsdaten, sondern auch von Flugreisedaten und weiteren Daten über das alltägliche Verhalten vollkommen unbescholtener Bürgerinnen und Bürger.

Das Prinzip einer rein prophylaktischen Erfassung des Verhaltens wahlloser Bürger führt in den Überwachungsstaat.

Was ist eine IP-Adresse?

Das Internet hat sich in den letzten ein, zwei Jahrzehnten zu einem äußerst wichtigen Medium entwickelt.

Damit das immens wachsende Netzwerk von Rechnern und anderen vernetzten Geräten auch weiterhin möglichst störungsarm funktionieren kann bedarf es einer übergeordneten Strukturierung der Vernetzung.

Einen bedeutsamen Anteil an dieser Struktur hat das so genannte „Internet Protocol“ (IP). Damit einzelne Teilnehmer des Netzwerkes „Internet“ miteinander kommunizieren und Daten austauschen können, benötigt jeder Benutzer eine eindeutige Adresse, die so genannte IP-Adresse.

 Ähnlich der Postanschrift auf einem Briefumschlag werden Datenpakete mit einer IP-Adresse versehen, die den Empfänger eindeutig identifiziert. Aufgrund dieser Adresse können die „Poststellen“, die Router, entscheiden, in welche Richtung das Paket weiter „transportiert“ werden soll. Im Gegensatz zu Postadressen sind IP-Adressen nicht an einen bestimmten Ort gebunden.

Weil es zunehmend mehr Geräte und Rechner gibt, die an das Internet angeschlossen werden, müssen nun die Regeln für die IP-Adressen erweitert bzw. geändert werden.

Der neue Standard hierfür nennt sich „IPv6“.

Der alte Standard IPv4 bietet einen Adressraum von etwas über vier Milliarden IP-Adressen, mit denen Computer und andere Geräte angesprochen werden können. In den Anfangstagen des Internets, als es nur wenige Rechner gab, die eine IP-Adresse brauchten, galt dies als weit mehr als ausreichend. Aufgrund des unvorhergesehenen Wachstums des Internets herrscht heute Adressenknappheit. Durch die Einführung von IPv6 wird der Adressraum auf unvorstellbare 340 Sextillionen (= 3,4·1038) Adressen vergrößert

Damit wird es möglich, in Zukunft fast beliebig vielen Gebrauchsgegenständen unseres Lebens eine eigene Kennzeichnung, eine dauerhaft gleiche IP-Adresse zuzuordnen. Lampen, Uhren, Kühlschränke, Spielzeuge, Autos, einfache Telefone genau so wie Smartphones, MP3-Player und fast jedes andere technische Kleingerät lässt sich in Zukunft mit dem Internet vernetzen, dem so genannten „Internet der Dinge“ (engl. „Internet of things“).

Aufgrund der bei vielen Geräten selbst im „Stand-by-Betrieb“ anfallenden und gespeicherten Daten lassen sich umfangreiche Bewegungsprofile, Verhaltensmuster und Nutzerverhalten erstellen.

Eine Vorratsdatenspeicherung aller IP-Adressen muss deswegen besonders sorgfältig betrachtet und bewertet werden.

Die Position des AK Vorrat

Unsere Position zur IP-Vorratsdatenspeicherung ist:

  1. Internet-Zugangsanbietern darf eine verdachtslose Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten über jede unserer Internetverbindungen weder vorgeschrieben noch erlaubt werden.

  2. Nur im Verdachtsfall darf die Identität des Nutzers einer IP-Adresse mit richterlichem Beschluss, nur zur Verfolgung schwerer Straftaten oder zur Abwehr schwerer Gefahren und nicht gegenüber Geheimdiensten offengelegt werden.

  3. Internetdienste dürfen Auskünfte über die Internetnutzung nur unter denjenigen Voraussetzungen erteilen, die für Auskünfte über die Telefonnutzung gelten (nur auf richterliche Anordnung, nur zur Verfolgung schwerer Straftaten oder zur Abwehr schwerer Gefahren).

  4. Prepaidkarten zur mobilen Handy- und Internetnutzung müssen wieder anonym verkauft werden dürfen.

Weitere Informationen

In einem 16 Fragen umfassenden Wissensquiz können Sie prüfen, wie gut Sie über den tatsächlichen Umfang und die Auswirkungen einer IP-Vorratsdatenspeicherung Bescheid wissen:
http://akvorrat.de/s/IP-Wissensquiz

Weitere, umfangreiche Informationen des AK Vorrat zur IP-Vorratsdatenspeicherung gibt es in einer ausführlichen Stellungnahme:
http://akvorrat.de/s/IP-VDS-Kritik-kurz bzw. http://akvorrat.de/s/IP-VDS-Kritik-lang

Lesenswert ist auch der Offene Brief von vierzehn Personen aus Zivilgesellschaft, „Netzgemeinde“, Journalismus, Recht und Wissenschaft an die Abgeordneten der FDP-Fraktion des Deutschen Bundestages:
http://www.daten-speicherung.de/?p=3205

Allgemeine Informationen zur Arbeit des Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung und wie Sie helfen können, die drohende IP-Vorratsdatenspeicherung zu verhindern, erfahren Sie auf unserer Homepage:
http://www.vorratsdatenspeicherung.de

 
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