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Vorratsdatenspeicherung: Nützlichkeit ist nicht gleich Sicherheit (03.09.2008) Drucken E-Mail

Das Bundesjustizministerium hat dem Bundesverfassungsgericht eine Statistik[1] vorgelegt, derzufolge von Mai bis Juli 2008 in 934 Strafverfahren anlasslos gespeicherte Telekommunikationsverbindungs- und -positionsdaten abgefragt wurden. Die Statistik lässt allerdings nicht auf einen Bedarf nach solchen Daten schließen, weil Strafverfolgungsbehörden Vorratsdaten nicht erst anfordern, nachdem der Zugriff auf ohnehin gespeicherte Abrechnungsdaten erfolglos geblieben ist, und weil die Erheblichkeit der Vorratsdaten für den Verfahrensausgang nicht erfasst worden ist. Aussagekräftig ist einzig die im Februar 2008 vorgelegte Untersuchung des unabhängigen Max-Planck-Instituts, der zufolge den Strafverfolgern nur in 0,01% aller Verfahren Verbindungsdaten fehlen.[2]

Nachdem über 34.000 Bürgerinnen und Bürger im August bei dem Bundesverfassungsgericht beantragt haben, die zum Jahresbeginn eingeführte Vorratsdatenspeicherung auszusetzen,[3] haben staatliche Stellen mehrfach Werbung für die umstrittene Protokollierung des Telekommunikations-, Bewegungs- und Internetnutzungsverhaltens der gesamten Bevölkerung verbreitet: Das bayerische Landeskriminalamt[4], die Fernsehsendung Report München[5] und nun das Bundesjustizministerium.

Zu den Vorwürfen, ohne Vorratsdatenspeicherung sei die Aufklärung von Straftaten gefährdet, erklärt der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung:

  • Nützlichkeit ist nicht gleich Sicherheit. Mehr Daten mögen in Einzelfällen nützlich sein. Im Ergebnis ist in Staaten mit Vorratsdatenspeicherung (z.B. Irland) jedoch keine geringere Kriminalitätsrate zu verzeichnen als in Deutschland. Insgesamt gesehen gibt es mit Vorratsdatenspeicherung nicht weniger Kindesmissbrauch, Vergewaltigungen, Körperverletzungen oder sonstige Straftaten als ohne Vorratsdatenspeicherung.
  • Aufklärung ist nicht gleich Schutz. Es ist nicht nachweisbar, dass eine erleichterte Aufklärung von Straftaten irgend einen Einfluss auf die Kriminalitätsrate hat.
  • Arbeitserleichterung ist nicht gleich Erforderlichkeit. Weltweit werden Straftaten auch ohne Vorratsdatenspeicherung erfolgreich aufgeklärt, gerade im Internet: Laut Bundeskriminalamt wurden 2007 ohne Vorratsdatenspeicherung 84,4% aller registrierten Internetdelikte einschließlich der Verbreitung von Kinderpornografie erfolgreich aufgeklärt – von den sonstigen Straftaten nur 55%.[6]
  • Einzelfallbetrachtung ist nicht gleich Verhältnismäßigkeit. Aus einer Studie des Max-Planck-Instituts ergibt sich, dass die Vorratsdatenspeicherung im besten Fall bei 0,01% aller Straftaten von Nutzen sein kann[7] – zu 99,99% wird sinnlos aufgezeichnet.
  • Massenverfolgung ist nicht gleich Effizienz. Mithilfe von Telekommunikationsdaten werden hauptsächlich Betrügereien und Tauschbörsennutzer ermittelt.[8] Diese massenhafte Verfolgung von Kleinkriminalität kostet die Polizei Ressourcen, die bei der Ermittlung schwerer Straftäter und der Hintermänner fehlen. In den letzten Jahren sind bei der Polizei 17.000 Stellen gestrichen worden.[9]
  • Betriebsblindheit ist nicht gleich Klugheit. In ihrer Jagd auf 0,01% der Straftäter verlieren die Befürworter der Vorratsdatenspeicherung aus den Augen, dass eine unprotokollierte Kommunikation Leben, Gesundheit und Freiheit von weit mehr Unschuldigen schützt, etwa wo Beratungsstellen gewalttätige Familienväter oder Pädophile überzeugen können, sich einer Therapie zu unterziehen. Im Jahr 2007 konnte beispielsweise ein bei der Telefonseelsorge tätiger Pfarrer einen Jugendlichen überzeugen, einen geplanten Amoklauf zu unterlassen. Wäre der Anruf rückverfolgbar gewesen, hätte der Jugendliche wohl nie über sein Vorhaben gesprochen. Einer Forsa-Umfrage vom Juni 2008 zufolge hält die Vorratsdatenspeicherung gegenwärtig jeden zweiten Deutschen davon ab, sich telefonisch beraten zu lassen.[10]
  • Telekommunikation ist nicht gleich Straftat. Telefon, Handy und Internet werden zu 99,9% vollkommen legal eingesetzt. Gespräche müssen am Telefon ebenso wenig registriert werden wie sonstige Gespräche. Briefe müssen im Internet ebenso wenig registriert werden wie sonstige Briefe. Bewegungen müssen mit einem Handy ebenso wenig registriert werden wie sonstige Bewegungen.
  • Gefährdung ist nicht gleich Kriminalität. Was Straftaten anbelangt, ist Deutschland eines der sichersten Länder der Welt. Tod, Krankheit oder Behinderung beruhen bei uns nur zu 0,2% auf Gewalt und Straftaten.[11] Dagegen kosten Tabak, Alkohol, Cholesterin, Übergewicht, Fehlernäherung, Bewegungsmangel, Suizid, Stürze und der Straßenverkehr ein Vielfaches an Menschenleben – obwohl sie sehr viel leichter zu reduzieren wären.
  • Überwachung ist nicht gleich Sicherheit. Umgekehrt ermöglichen Datenhalden erst Missbrauch wie bei der Deutschen Telekom AG und Betrug wie im Fall der Bankdaten. Nur nicht gespeicherte Daten sind sichere Daten. Die Vorratsdatenspeicherung stellt diese Erkenntnis auf den Kopf.
  • Freiheit ist nicht gleich Unsicherheit. Es ist kein Zufall, dass wir in Deutschland mit vergleichsweise wenig Überwachung und starkem Grundrechtsschutz sicherer leben als Kontrollstaaten wie Großbritannien oder die USA. Sicherheit braucht in erster Linie Vertrauen und Achtung vor dem Recht – auch vor den Grundrechten. Die verdachtslose Vorratsdatenspeicherung erklärt dagegen erstmals die gesamte deutsche Bevölkerung zu potenziellen Straftätern und bricht damit unsere im Grundgesetz verbürgten Rechte.

"Wenn Politiker wie Wolfgang Schäuble oder Dieter Wiefelspütz uns aus Anlass der jüngsten Datenskandale weismachen wollen, nur im privaten Bereich bestünde ein Problem, nimmt ihnen das doch niemand mehr ab", kommentiert Ralf Bendrath vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. "Die Bevölkerung hat bereits länger die Nase voll von immer mehr Überwachung durch den Staat, und dass die Daten dort keineswegs sicher sind, zeigen alleine im letzten Jahr die China-Trojaner in der Bundesregierung, die Datenlecks bei den Meldebehörden oder der Verkauf von Daten durch Mitarbeiter des Bundeskriminalamts.[12] Analog zum Vorschlag des Datenhandel-Verbotes von Michael Glos fordern wir daher einen sofortigen Stopp der unkontrollierten Datenweitergabe zwischen Behörden oder an ausländische Geheimdienste."

"Um Medien und Politik gleichermaßen auf die Gefährdung der demokratischen Ordnung durch Massenüberwachung hinzuweisen, haben wir einen weltweiten Aktionstag mit friedlichen und kreativen Protesten in über 20 Ländern initiiert", ergänzt Ricardo Cristof Remmert-Fontes vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. Der Aktionstag findet am 11. Oktober 2008 statt, in Berlin ist eine große Demonstration geplant.[13]

"Freiheitsrechte müssen - auch bei uns in Deutschland! - jeden Tag neu verteidigt werden", bekräftigt padeluun vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung.

Fußnoten:

  1. http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/Bundesregierung_Schreiben_2008-08-22_1-BvR-256-08.pdf
  2. http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/schriftsatz_2008-03-17.pdf, S. 2
  3. http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/246/79/
  4. http://www.polizei.bayern.de/news/presse/aktuell/index.html/76145
  5. http://www.br-online.de/daserste/report/archiv/2008/00500/
  6. http://www.bka.de/pks/pks2007/download/pks-jb_2007_bka.pdf, S. 243
  7. http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/schriftsatz_2008-03-17.pdf, S. 2
  8. http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/images/Verfassungsbeschwerde_Vorratsdatenspeicherung.pdf, S. 36
  9. http://www.gdp.de/gdp/gdpcms.nsf/id/p70606?Open&ccm=500020000&L=DE&markedcolor=%23003399
  10. http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/228/79/
  11. http://www.daten-speicherung.de/?p=57
  12. http://www.sueddeutsche.de/,tt2m4/deutschland/artikel/112/109003/
  13. http://www.freiheitstattangst.de/
 
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