Über 40 Organisationen und Verbände haben Bundesjustizministerin
Leutheusser-Schnarrenberger gestern in einem gemeinsamen Brief
aufgefordert, "sich auf europäischer Ebene klar für eine Abschaffung
der EU-Mindestvorgaben zur Vorratsdatenspeicherung einzusetzen". Zur
Begründung schreiben die Verbände, der EU-Zwang zur Speicherung aller
Verbindungsdaten setze vertrauliche Tätigkeiten und Kontakte etwa zu
Journalisten, Beratungsstellen und Geschäftspartnern dem ständigen
Risiko eines Bekanntwerdens durch Datenpannen und -missbrauch aus,
ziehe unvertretbare Kosten nach sich und behindere die
Kommunikationsfreiheit unzumutbar. Zu den 48 Unterzeichnern des
Schreibens zählen Bürgerrechts-, Datenschutz- und
Menschenrechtsorganisationen ebenso wie Telefonseelsorge- und
Notrufvereine, Berufsverbände etwa von Journalisten, Juristen und
Ärzten, Gewerkschaften wie ver.di, der
Verbraucherzentrale-Bundesverband und der Wirtschaftsverband eco.
Am 2. März 2010 hat das Bundesverfassungsgericht auf die Beschwerden
von über 34.000 Bürgerinnen und Bürgern die deutschen Vorschriften zur
Vorratsspeicherung aller Verbindungsdaten für verfassungswidrig und
nichtig erklärt. Eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2006 schreibt jedoch
europaweit eine Vorratsdatenspeicherung vor und zwingt Deutschland
dadurch zur Wiedereinführung der verdachtslosen Vorratsdatensammlung.
Die EU-Kommission prüft derzeit eine Änderung dieser Richtlinie.[1]
Die Bundesjustizministerin als Vertreterin Deutschlands im EU-Rat hat
sich bislang noch nicht klar für ein Ende des EU-Speicherzwangs eingesetzt.[2]
"Der 2005 beschlossene EU-weite Zwang zur flächendeckenden
Verbindungsdatenspeicherung hat sich überlebt", kommentiert Patrick
Breyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. "Eine
Vorratsdatenspeicherung hat sich in vielen Staaten in und außerhalb
Europas als überflüssig, schädlich und verfassungswidrig erwiesen, so
in Deutschland, Österreich, Belgien, Griechenland, Rumänien und
Schweden. Diese Staaten verfolgen Straftaten ebenso effektiv mit
gezielten Verfahren, wie sie etwa in der internationalen
Cybercrime-Konvention[3]
vereinbart sind. Wo eine Vorratsdatenspeicherung eingeführt wurde, hat
sie die Zahl der aufgeklärten Straftaten nicht erhöht. Im
bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen etwa wurden 2007
84%[4], nach Einführung einer Vorratsdatenspeicherung im Jahr 2008 77%[5] und 2009 ebenfalls 77%[6]
der bekannt gewordenen Internetdelikte aufgeklärt. Nützlichkeit ist
nicht gleich Notwendigkeit. Die EU-Vorgaben müssen jetzt flexibler
gestaltet werden und intelligentere Alternativen als eine ungezielte
Datenanhäufung zulassen."
"Rund 70% der Bundesbürgerinnen und -bürger lehnen eine verdachtslose Protokollierung ihrer Kontakte und Aufenthaltsorte ab[7]",
erklärt Florian Altherr vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. "Sie
wollen sicher sein, dass ihre privaten und geschäftlichen Kontakte etwa
zu Eheberatungsstellen, Rechtsanwälten oder Journalisten nicht in die
falschen Hände geraten oder zu einem falschen Verdacht gegen sie führen
können. Die vielen Datenskandale, etwa bei der Deutschen Telekom, haben
uns gelehrt, dass nur nicht gespeicherte Daten sichere Daten sind.
Deswegen erwartet die Zivilgesellschaft von der Bundesjustizministerin
jetzt, dass sie ihre abwartende Haltung aufgibt und in Europa für ein
Ende des Zwangs zur Erfassung aller Verbindungsdaten kämpft!"
Der Brief an die Bundesjustizministerin vom 19. April 2010 im Wortlaut:
Bundesministerin der Justiz
Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Mohrenstraße 37
10117 Berlin
Sehr geehrte Frau Bundesministerin,
kaum hat das Bundesverfassungsgericht am 2. März 2010 die deutschen
Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig und
nichtig erklärt, wird von nicht Wenigen die Wiedereinführung einer
Vorratsdatenspeicherung gefordert.
Eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2006 sieht vor, dass
Telekommunikationsunternehmen verpflichtet werden sollen, Daten über
die Kommunikation ihrer Kunden auf Vorrat zu speichern. Zur
verbesserten Strafverfolgung soll nachvollziehbar sein, wer mit wem
in den letzten sechs Monaten per Telefon, Handy oder E-Mail in
Verbindung gestanden hat. Bei Handy-Telefonaten und SMS soll auch
der jeweilige Standort des Benutzers festgehalten werden. In
Verbindung mit anderen Informationen soll zudem die Nutzung des
Internet nachvollziehbar sein.
Eine derart weitreichende Registrierung des Verhaltens der Menschen
in Deutschland halten wir für inakzeptabel. Im Zuge einer
Vorratsdatenspeicherung werden ohne jeden Verdacht einer Straftat
sensible Informationen über die sozialen Beziehungen (einschließlich
Geschäftsbeziehungen), die Bewegungen und die individuelle
Lebenssituation (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten,
Betriebsräten, Psychologen, Beratungsstellen) von über 80 Millionen
Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern gesammelt. Damit höhlt eine
Vorratsdatenspeicherung Anwalts-, Arzt-, Seelsorge-, Beratungs- und
andere Berufsgeheimnisse aus und begünstigt Datenpannen und
-missbrauch. Sie untergräbt den Schutz journalistischer Quellen und
beschädigt damit die Pressefreiheit im Kern. Sie beeinträchtigt
insgesamt die Funktionsbedingungen unseres freiheitlichen
demokratischen Gemeinwesens. Die enormen Kosten einer
Vorratsdatenspeicherung unter Beachtung der verfassungsrechtlichen
Vorgaben steigen gegenüber den bisherigen Schätzungen deutlich und
sind ohne Erstattungsregelung von den über 6.000 betroffenen
Telekommunikationsunternehmen in Deutschland zu tragen. Dies zieht
Preiserhöhungen nach sich, führt zur Einstellung von Angeboten und
belastet mittelbar auch die Verbraucher.
Untersuchungen belegen, dass bereits die gegenwärtig verfügbaren
Kommunikationsdaten ganz regelmäßig zur effektiven Aufklärung von
Straftaten ausreichen. Es ist nicht nachgewiesen, dass eine
Vorratsdatenspeicherung besser vor Kriminalität schützte. Dagegen
kostet sie Millionen von Euro, gefährdet die Privatsphäre
Unschuldiger, beeinträchtigt vertrauliche Kommunikation und ebnet
den Weg in eine immer weiter reichende Massenansammlung von
Informationen über die gesamte Bevölkerung.
Rechtsexperten erwarten, dass der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte im Anschluss an den Verfassungsgerichtshof Rumäniens
eine Pflicht zur verdachtslosen Vorratsspeicherung von
Kommunikationsdaten für unvereinbar mit der Europäischen
Menschenrechtskonvention erklären wird. EU-Justizkommissarin Viviane
Reding und EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström haben bereits eine
Überprüfung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung auf ihre
Übereinstimmung mit der EU-Grundrechtecharta angekündigt.
Als Vertreter der Bürgerinnen und Bürger, der Medien, der Berufstätigen
und der Wirtschaft lehnen wir die Forderungen nach einer
Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung geschlossen ab. Wir
appellieren an Sie, sich ungeachtet eines möglichen
Vertragsverletzungsverfahrens grundsätzlich von der Forderung nach
einer neuerlichen umfassenden und verdachtsunabhängigen Speicherung
von Telekommunikationsdaten zu distanzieren. Stattdessen rufen wir
Sie auf, sich auf europäischer Ebene klar für eine Abschaffung der
EU-Mindestvorgaben zur Vorratsdatenspeicherung einzusetzen, damit
jeder europäische Staat wieder selbst über die Gewährleistung des
Kommunikationsgeheimnisses seiner Bürgerinnen und Bürger entscheiden
kann. Seien Sie sich unserer Unterstützung dabei versichert.
Mit freundlichen Grüßen,
Unterzeichner:
- Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung
- Aktion Freiheit statt Angst e.V.
- Attac Deutschland
- Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler e.V.
- Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP)
- Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten (Hamburger Signal) e.V.
- Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt e.V.
- Chaos Computer Club e.V.
- Deutsche AIDS-Hilfe e.V.
- Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union dju in ver.di
- Deutscher Journalisten-Verband e.V.
- Deutscher Presserat
- DFJV Deutscher Fachjournalisten-Verband AG
- DPV Deutscher Presse Verband – Verband für Journalisten e.V.
- DVD - Deutsche Vereinigung für Datenschutz e.V.
- eco - Verband der deutschen Internetwirtschaft e.V.
- Ev. Konferenz für Telefonseelsorge und Offene Tür e.V.
- FIfF - Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.
- FoeBuD e.V.
- Förderverein für eine Freie Informationelle Infrastruktur (FFII) e.V.
- Förderverein Informationstechnik und Gesellschaft (FITUG) e.V.
- Forum Menschenrechte e.V.
- Free Software Foundation Europe e.V.
- FREELENS e.V.
- Freie Ärzteschaft e.V.
- Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit e. V. (GDD)
- Humanistische Union e.V.
- IALANA
- IG Bauen-Agrar-Umwelt
- Internationale Liga für Menschenrechte e.V.
- Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
- Lesben- und Schwulenverband LSVD
- Magistrats européens pour la Démocratie et les Libertés – MEDEL
- naiin - no abuse in internet e.V.
- NAV-Virchow-Bund – Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands e.V.
- Netzwerk Neue Medien e.V.
- netzwerk recherche e.V.
- Neue Richtervereinigung e.V.
- Organisationsbüro der Strafverteidigervereinigungen
- PRO ASYL e.V.
- Reporter ohne Grenzen e.V.
- Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.
- Verband der Freien Lektorinnen und Lektoren VFLL e.V.
- Verband Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker für Psychotherapie und Psychologischer Berater e.V.
- Verbraucherzentrale Bundesverband e.V.
- Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
- Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V.
- Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di)
Der Gemeinsame Brief an die Bundesjustizministerin im pdf-Format |