Über
IP-Adressen, den
Gesetzentwurf der Bundesjustizministerin und
seine gesellschaftlichen Auswirkungen
Eine
neue Vorratsdatenspeicherung? Seit
das Bundesverfassungsgericht die von CDU/CSU und SPD in Deutschland
eingeführte Vorratsdatenspeicherung aller Telefon-, Handy- und
Internetverbindungsdaten (inklusive SMS-Verbindungen und
Handy-Standortdaten) im März 2010 für verfassungswidrig und nichtig
erklärt hat, betätigen sich insbesondere Unionspolitiker und Teile
der SPD in einer gewaltigen Medienkampagne, um mit zum Teil
haarsträubenden oder populistischen Scheinargumenten die Neuauflage
einer solchen Vorratsdatenspeicherung zu erzwingen.
Am
10. Juni 2011 hat FDP-Bundesjustizministerin Sabine
Leutheuser-Schnarrenberger den Entwurf eines neuen Gesetzes „zur
Sicherung vorhandener Verkehrsdaten und Gewährleistung von
Bestandsdatenauskünften im Internet“ vorgelegt, der neben dem
grundrechtsbewahrenden Ansatz der Erfassung von
Telekommunikationsverbindungen nur bei Verdacht einer Straftat leider
auch eine neue versteckte Vorratsdatenspeicherung enthält:
Demnach
soll jedem Internetanbieter die vollständige und
verdachtsunabhängige Speicherung der IP-Daten von allen
Internetnutzern vorgeschrieben werden.
In
Verbindung mit anderen Informationen, die Anbieter wie Google,
Twitter oder Youtube speichern, würde so potenziell jede unserer
Eingaben, jeder unserer Klicks, jeder unserer Downloads, jeder
unserer Beiträge/Posts im Netz nachvollziehbar werden. Es droht das Ende der anonymen Information und Kommunikation im Internet.
Nach
dem Vorschlag könnte die Polizei Internetnutzer noch nach Tagen (bis
zu sieben Tage lang) ermitteln, und zwar sogar schon bei Verdacht von
Bagatelldelikten wie Beleidigung oder Tauschbörsennutzung. Und
das alles ohne richterliche Prüfung oder Genehmigung. Selbst
an 29 ausländische Staaten wären die Daten auf Anfrage
herauszugeben.
Was
das in der Praxis bedeuten würde, scheint vielen Verantwortlichen
nicht klar zu sein - wir wollen versuchen, es im Folgenden deutlich
zu machen.
Kritik
an der IP-Vorratsdatenspeicherung
Eine
generelle und undifferenzierte Vorratsspeicherung unserer Identität
im Internet würde die Erstellung
aussagekräftiger Persönlichkeits- und Bewegungsprofile praktisch
jeden Bürgers in noch höherem Maße als Telefon-Verbindungsdaten
ermöglichen:
Die Kenntnis der Identität eines Internetnutzers macht in Verbindung
mit „Logfiles“ der Internet-Diensteanbieter nicht nur nachvollziehbar, mit wem wir Kontakt hatten, sondern sogar
die Inhalte, für die wir uns im Netz interessiert haben
(gelesene Internetseiten, eingegebene Suchbegriffe usw.). Aus der Summe der von uns im Internet gelesenen und geschriebenen Informationen kann ein aussagekräftiges Interessen- und Persönlichkeitsprofil erstellt werden, das beispielsweise unsere politische Meinung, unsere Religion, unsere Krankheiten oder unser Sexualleben offenbaren kann.
Ist ein Pseudonym (z.B. Benutzerkonto, Cookie) über die IP-Adresse des Nutzers erst
einmal identifiziert, ermöglichen Nutzungsdaten des Anbieters oft die
Rückverfolgung jedes Klicks und jeder Eingabe des Inhabers über Tage,
Wochen oder Monate hinweg. Daneben wird in die meisten E-Mails die
IP-Adresse des Absenders aufgenommen, so dass auch unter Pseudonym registrierte E-Mail-Konten künftig zugeordnet werden könnten. Aus der
IP-Adresse lässt sich überdies der ungefähre Aufenthaltsort des Nutzers ableiten -
nach neuen Forschungsergebnissen sogar, ob sich der Nutzer zuhause,
auf der Arbeit oder unterwegs befindet.
Eine
generelle und undifferenzierte Vorratsspeicherung unserer Identität
im Internet hätte unzumutbare Auswirkungen:
Sie
würde das Ende der Anonymität im Internet bedeuten.
Sie
würde es unmöglich machen, das Internet frei vom Risiko staatlicher
Beobachtung (z.B. auch wegen eines falschen Verdachts),
missbräuchlicher Offenlegung durch Mitarbeiter des Anbieters
(Telekom-Skandal) und versehentlichen Datenverlustes (z.B.
T-Mobile-Datenverlust) zu nutzen.
Dadurch
hätte eine IP-Vorratsdatenspeicherung unzumutbare Folgen,
wo Menschen nur im Schutz der Anonymität überhaupt bereit sind,
sich in einer Notsituation beraten und helfen zu lassen (z.B. Opfer
und Täter von Gewalt- oder Sexualdelikten), ihre Meinung trotz
öffentlichen Drucks zu äußern oder Missstände bekannt zu machen
(Presseinformanten, anonyme Strafanzeigen).
Die
IP-Vorratsspeicherung unserer Identität im Internet würde zu dem
führen, was vom Bundesverfassungsgericht als „diffus
bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins“ bezeichnet
worden ist. Das wäre Gift für eine demokratische Gesellschaft, die
auf frei und innovativ denkende Mitglieder mit neuen und frischen
Ideen für eine gute und menschenfreundliche Weiterentwicklung
unseres Zusammenlebens angewiesen ist.
Dass
bereits heute einige Internet-Zugangsanbieter rechtswidrig eine
Vorratsspeicherung unserer Identität im Internet praktizieren, ist
mit den Auswirkungen eines generellen Speicherzwangs nicht zu
vergleichen. Denn bisher ermöglicht die unterschiedliche
Speicherpraxis gerade
Personen, die auf eine anonyme Internetnutzung angewiesen sind, die
Wahl eines Internet-Zugangsanbieters, der keine
Vorratsdatenspeicherung vornimmt.
Straftaten
lassen sich auch ohne Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten über
das Verbindungsende hinaus verfolgen; „Quick Freeze“ setzt keine
Vorratsdatenspeicherung voraus.
Schon
der Blick auf unser tägliches Leben zeigt, dass die meisten (ca.
55%) dem Staat bekannt gewordenen Straftaten aufgeklärt werden
können, obwohl niemand mitschreibt, wer wir sind, mit wem wir
geredet, wo wir uns aufgehalten und worüber wir uns informiert
haben. Und wer würde einer Forderung nach solch einer
Vollprotokollierung unseres Lebens außerhalb des Internets zustimmen
wollen?
Eine
generelle und undifferenzierte Vorratsspeicherung unserer Identität
im Internet stünde außer jedem Verhältnis zu ihrem erhofften
Nutzen:
Schon
heute werden Internetdelikte außergewöhnlich häufig aufgeklärt;
die Einführung einer sechsmonatigen IP-Vorratsdatenspeicherung 2009
erhöhte diese Aufklärungsquote nicht. Eine flächendeckende
Vorratsdatenspeicherung droht die Aufklärung von Straftaten
umgekehrt sogar zu erschweren, weil sie ein verstärktes Ausweichen
auf Anonymisierungstechniken und andere Kommunikationskanäle nach
sich zieht und dadurch selbst gezielte, verdachtsabhängige
Überwachungsmaßnahmen vereitelt, wo sie heute noch möglich sind.
Eine
generelle und undifferenzierte Vorratsspeicherung unserer Identität
im Internet wäre eine nicht zu rechtfertigende und technikfeindliche
Diskriminierung von Internetnutzern gegenüber Menschen, die
weiterhin anonym telefonisch (z.B. Flatrate), postalisch oder
unmittelbar kommunizieren und sich Informationen verschaffen können.
In
immer mehr Fällen können Menschen Informationen nur noch über das
Internet beschaffen und nur noch über das Internet kommunizieren.
Eine
generelle und undifferenzierte Vorratsspeicherung unserer Identität
im Internet wäre ein Dammbruch mit weitreichenden Folgen: Eine
IP-Vorratsdatenspeicherung stellte den Präzedenzfall einer Aufgabe
des rechtsstaatlichen Grundsatzes dar, wonach „grundrechtsrelevante
Maßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung oder der Gefahrenabwehr nur
unter der Voraussetzung erfolgen, dass ein ausreichender Verdacht
oder Anlass für diese Maßnahme gegeben ist“.
Wird
eine generelle und undifferenzierte Vorratsdatenspeicherung erstmals
als legitimes Mittel anerkannt, droht schrittweise (z.B. als Ergebnis
von Koalitionsverhandlungen) nicht nur eine noch sehr viel weiter
reichende Erfassung von Telekommunikationsdaten, sondern auch von
Flugreisedaten und weiteren Daten über das alltägliche Verhalten
vollkommen unbescholtener Bürgerinnen und Bürger.
Das
Prinzip einer rein prophylaktischen Erfassung des Verhaltens
wahlloser Bürger führt in den Überwachungsstaat.
Was
ist eine IP-Adresse?
Das
Internet hat sich in den letzten ein, zwei Jahrzehnten zu einem
äußerst wichtigen Medium entwickelt.
Damit
das immens wachsende Netzwerk von Rechnern und anderen vernetzten
Geräten auch weiterhin möglichst störungsarm funktionieren kann
bedarf es einer übergeordneten Strukturierung der Vernetzung.
Einen
bedeutsamen Anteil an dieser Struktur hat das so genannte „Internet
Protocol“ (IP). Damit einzelne Teilnehmer des Netzwerkes
„Internet“ miteinander kommunizieren und Daten austauschen
können, benötigt jeder Benutzer eine eindeutige Adresse, die so
genannte IP-Adresse.
Ähnlich
der Postanschrift auf einem Briefumschlag werden Datenpakete mit
einer IP-Adresse versehen, die den Empfänger eindeutig
identifiziert. Aufgrund dieser Adresse können die „Poststellen“,
die Router, entscheiden, in welche Richtung das Paket weiter
„transportiert“ werden soll. Im Gegensatz zu Postadressen sind
IP-Adressen nicht an einen bestimmten Ort gebunden.
Weil
es zunehmend mehr Geräte und Rechner gibt, die an das Internet
angeschlossen werden, müssen nun die Regeln für die IP-Adressen
erweitert bzw. geändert werden.
Der
neue Standard hierfür nennt sich „IPv6“.
Der
alte Standard IPv4 bietet einen Adressraum von etwas über vier
Milliarden IP-Adressen, mit denen Computer und andere Geräte
angesprochen werden können. In den Anfangstagen des Internets, als
es nur wenige Rechner gab, die eine IP-Adresse brauchten, galt dies
als weit mehr als ausreichend. Aufgrund des unvorhergesehenen
Wachstums des Internets herrscht heute Adressenknappheit. Durch die
Einführung von IPv6 wird der Adressraum auf unvorstellbare 340
Sextillionen (= 3,4·1038)
Adressen vergrößert
Damit
wird es möglich, in Zukunft fast beliebig vielen
Gebrauchsgegenständen unseres Lebens eine eigene Kennzeichnung, eine
dauerhaft gleiche IP-Adresse zuzuordnen. Lampen, Uhren, Kühlschränke,
Spielzeuge, Autos, einfache Telefone genau so wie Smartphones,
MP3-Player und fast jedes andere technische Kleingerät lässt sich
in Zukunft mit dem Internet vernetzen, dem so genannten „Internet
der Dinge“ (engl.
„Internet of things“).
Aufgrund
der bei vielen Geräten selbst im „Stand-by-Betrieb“ anfallenden
und gespeicherten Daten lassen sich umfangreiche Bewegungsprofile,
Verhaltensmuster und Nutzerverhalten erstellen.
Eine
Vorratsdatenspeicherung aller IP-Adressen muss deswegen besonders
sorgfältig betrachtet und bewertet werden.
Die Position
des AK Vorrat
Unsere
Position zur IP-Vorratsdatenspeicherung ist:
Internet-Zugangsanbietern
darf eine verdachtslose Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten über
jede unserer Internetverbindungen weder vorgeschrieben noch erlaubt
werden.
Nur
im Verdachtsfall
darf die Identität des Nutzers einer IP-Adresse mit richterlichem
Beschluss, nur zur Verfolgung schwerer Straftaten oder zur Abwehr
schwerer Gefahren und nicht gegenüber Geheimdiensten offengelegt
werden.
Internetdienste
dürfen Auskünfte über die Internetnutzung nur unter denjenigen
Voraussetzungen erteilen, die für Auskünfte über die
Telefonnutzung gelten (nur auf richterliche Anordnung, nur zur
Verfolgung schwerer Straftaten oder zur Abwehr schwerer Gefahren).
Prepaidkarten
zur mobilen Handy- und Internetnutzung müssen wieder anonym
verkauft werden dürfen.
Weitere
Informationen
In
einem 16 Fragen umfassenden Wissensquiz können Sie prüfen,
wie gut Sie über den tatsächlichen Umfang und die Auswirkungen
einer IP-Vorratsdatenspeicherung Bescheid wissen: http://akvorrat.de/s/IP-Wissensquiz
Weitere,
umfangreiche Informationen des AK
Vorrat zur IP-Vorratsdatenspeicherung gibt es
in einer ausführlichen Stellungnahme: http://akvorrat.de/s/IP-VDS-Kritik-kurz bzw. http://akvorrat.de/s/IP-VDS-Kritik-lang Lesenswert ist auch der Offene Brief von vierzehn Personen aus Zivilgesellschaft, „Netzgemeinde“, Journalismus, Recht und Wissenschaft an die Abgeordneten der FDP-Fraktion des Deutschen Bundestages: http://www.daten-speicherung.de/?p=3205
Allgemeine
Informationen zur Arbeit des Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung
und wie Sie helfen können, die drohende IP-Vorratsdatenspeicherung zu verhindern, erfahren Sie auf unserer Homepage: http://www.vorratsdatenspeicherung.de |