Das Ausmaß an Überwachung in Deutschland dokumentiert ein "Leitfaden zum
Datenzugriff", den wir heute erstmals in voller Länge veröffentlichen.[1]
Die Generalstaatsanwaltschaft München zählt in dieser "Verschlusssache"
die heute schon angewandten Methoden zur Überwachung unserer
Telekommunikation und Internetnutzung auf – von der stillen Ortungs-SMS
bis zur umfangreichen Abfrage von Nutzerdaten. Das brisante Dokument
belegt einen fahrlässigen Umgang der Ermittler mit verfügbaren Daten und
einzuhaltenden Rechtsvorschriften. Dies verdeutlicht ein weiteres Mal,
wie wichtig es ist, eine gänzlich verdachtslose Vorratsspeicherung aller
unserer Verbindungsdaten zu verhindern.
Im Einzelnen zählt der Leitfaden die folgenden Überwachungspraktiken deutscher Ermittlungsbehörden auf:
- das Aufzeichnen von Telekommunikationsinhalten (z.B. Telefongespräche, SMS, E-Mails),
- die Auswertung der Speicher von Handys, Smartphones und SIM-Karten (z.B. Fotos, Telefonbücher),
- die Abfrage von Nutzerdaten, Rechnungsdaten und Verkehrsdaten bei Anbietern wie Telekom, Arcor, eBay, YouTube, Facebook und Webmail-Anbietern,
- die Identifizierung der Inhaber von Rufnummern, IP-Adressen und E-Mail-Adressen,
- die Beobachtung des Standorts von Handys und Smartphones in Echtzeit,
- die Online-Durchsuchung externen Speicherplatzes,
- der Zugriff auf E-Mail-Postfächer und die Abfrage von Mailboxen,
- die Verhinderung der Kommunikation einzelner Handynutzer oder einer gesamten Funkzelle,
- die Ermittlung, welche Mobiltelefone sich zu einer bestimmten Zeit in einer Funkzelle befunden haben (Funkzellenabfrage),
- der Zugriff auf Kommunikation in geschlossenen Internetforen und Chatrooms einschließlich Liveüberwachung,
- die Ortung von Pkw mit eingebautem SIM-Modul (z.B. BMW, Audi, Porsche, Renault, Opel),
- die Erstellung von Bewegungsbildern mithilfe „stiller SMS“,
- die Aufzeichnung verschlüsselter Internetkommunikation (VoIP) unter Verwendung von Überwachungssoftware (sog. Quellen-TKÜ),
- die Identifizierung und Überwachung von WLAN-Internetzugängen („W-LAN-Catcher“),
- die Zielwahlsuche.
Nutzerdaten, die ausländische Internetfirmen wie Google, YouTube, Skype und Microsoft speichern, können laut Leitfaden zudem „präventiv“ „sehr schnell ... erlangt werden“. Der Leitfaden zum Datenzugriff enthüllt in verschiedenen Punkten einen äußerst fragwürdigen Umgang der Ermittler mit den schon heute verfügbaren Daten: - Statt Telefonverbindungen nur zu denjenigen Zeitpunkten auszuforschen, die für das Ermittlungsverfahren relevant sind, wird in Auskunftersuchen „ein einheitlicher, gesamter Zeitraum angegeben“, um Kosten zu sparen. Die Abfrage nicht erforderlicher Verbindungsdaten aus rein fiskalischen Gründen ist ein klarer Rechtsbruch.
- Weil die Anforderung von Verkehrsdaten länger dauert und nur innerhalb der Geschäftszeiten möglich ist, ordnen die Staatsanwälte kurzerhand eine komplette Überwachung der Telekommunikation an. Es ist nicht akzeptabel, dass eine komplette Telekommunikationsüberwachung erfolgt, nur weil die tatsächlich benötigten Einzeldaten nicht schnell genug zur Verfügung gestellt werden.
- Obwohl der Zugriff auf Verbindungs- und Standortdaten im Regelfall eine richterliche Genehmigung voraus setzt, wird den Netzbetreibern kein richterlicher Beschluss im Original übersandt, was zu Missbrauch einlädt.
- Die Ermittler fragen bei Unternehmen Kundendaten ab mit der Drohung, im Weigerungsfall müssten die Inhaber als Zeugen „anhand von Unterlagen“ aussagen. In Wahrheit müssen Zeugen anhand von Unterlagen allenfalls ihr Gedächtnis auffrischen, nicht aber persönliche Daten mitteilen, die ihnen nie bekannt gewesen sind. Gespeicherte Personendaten müssen nur nach Vorlage einer richterlichen Beschlagnahmeanordnung an Strafverfolger herausgegeben werden und nicht auf einfache Anfrage der Staatsanwaltschaft oder der Polizei, wie die Generanstaatsanwaltschaft München in Auskunftsersuchen suggeriert.
- Obwohl ein EU-Übereinkommen nur im Telekommunikationsbereich die Sicherung ausländischer
Daten ohne Einschaltung der zuständigen Behörden zulässt,
sichern deutsche Staatsanwälte in Eilfällen auch alle sonst im Ausland gespeicherten Daten eigenmächtig (z.B. Fotos,
Online-Speicherplatz).
Der AK Vorrat fordert die bayerische Justizministerin Merk auf, die
dokumentierten Rechtsbrüche der Generalstaatsanwaltschaft München sofort
abzustellen. Überdies fordern wir eine Stellungnahme dazu, dass die
Überwachung von Auslandsgesprächen zurzeit offenbar selbst bei konkreten
Terrorverdacht nicht möglich ist, weil die entsprechenden
Überwachungsvorrichtungen laut Leitfaden „auf Jahre hinaus ausgebucht“
sind. Solange die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten zur gezielten
Überwachung Tatverdächtiger nicht ausgeschöpft werden, ist es nicht
akzeptabel, eine ungezielte Vorratsspeicherung des
Kommunikationsverhaltens völlig Unverdächtiger zu fordern!
Wie aussichtslos eine verdachtslose Vorratsspeicherung sämtlicher Verbindungsdaten gerade im Bereich der Internetnutzung wäre, zeigt der Leitfaden unter dem Stichwort „UMTS-Datenkarten“: UMTS-Internetnutzer lassen sich danach nicht anhand ihrer IP-Adresse identifizieren, weil IP-Adressen mehrfach vergeben würden und keine Portspeicherung erfolge. Weder die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, noch der Gesetzentwurf der Bundesjustizministerin zur Vorratsdatenspeicherung würden daran etwas ändern mit der Folge, dass eine IP-Vorratsdatenspeicherung von vornherein leerlaufen würde, zumal auch andere Umgehungsmöglichkeiten wie Anonymisierungsdienste jederzeit zur Verfügung stünden. Gegenüber den bestehenden Ermittlungsmöglichkeiten hätte eine verdachtslose Vorratsdatenspeicherung eine grundlegend neue Qualität: Erstmals würde ein wichtiger Teil des täglichen Privatlebens unverdächtiger Personen ohne jeden Anlass und flächendeckend aufgezeichnet, weil der Staat dazu überginge, uns alle als potenzielle Straftäter zu betrachten. Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung ruft im Internet deswegen zu
bundesweiten Protestaktionen gegen verdachtslose Vorratsdatenspeicherung
am 14. Dezember 2011 auf.[2] Zu den im Zusammenhang mit der "Zwickauer Zelle" aufgewärmten
Forderungen nach einer ungezielten Vorratsdatenspeicherung erklärt
Werner Hülsmann vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung: „Die
Eingriffsbehörden glauben doch wohl nicht im Ernst, dass sie mit den im
Fall der 'Zwickauer Zelle' unterlaufenen Ermittlungspannen und
Inkompetenz eine Totalprotokollierung der Verbindungen völlig
unverdächtiger Bürger durchsetzen können." Michael Petersen vom
Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung ergänzt: "Wer trotz Vorliegens
eines Haftbefehls gegen Bombenbauer Verhaftungsmöglichkeiten ungenutzt
verstreichen lässt,[3]
dem ist mit keinem Überwachungsgesetz zu helfen. Die Verbindungsdaten
der drei mit Haftbefehl Gesuchten hätten seit 1998 auch ohne
Vorratsdatenspeicherung gezielt gespeichert und ausgewertet werden
können. Wer die Ermittlungsbehörden wirklich stärken will, sollte die
Geheimdienste auflösen und die eingesparten Mittel dort investieren, wo
in den letzten Jahren tausende von Polizeistellen gestrichen wurden[4]
und wo Beweismittel für schwere Straftaten jahrelang der Auswertung
harren. Die Meinung von zwei Dritteln der Menschen in Deutschland[5] ist klar: Der Staat hat gegen Verdächtige kompetent zu ermitteln und nicht die Kommunikation Unschuldiger zu speichern!“
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