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Offener Brief an EU-Kommission: Keine Vorratsdatenspeicherung in der EU! (06.10.2020) Drucken E-Mail

Gemeinsam mit mehr als 40 Nichtregierungsorganisationen aus Deutschland, UK, Portugal, Rumänien, Slowenien, Schweden, Irland, Finnland, Norwegen, Österreich, Italien, Griechenland, Dänemark, den Niederlanden, Spanien und internationalen Verbänden fordern wir in einem offenen Brief unter anderem ein EU-weites Verbot von anlassloser Telekommunikations-Überwachung.

„Das heutige Urteil bedeutet: Auch das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verletzt EU-Grundrechte,“ sagt Friedemann Ebelt von Digitalcourage. „Denn Kommunikationsdaten pauschal von allen Bürgerinnen und Bürgern auf Vorrat zu sammeln ist illegal. Wir wollen jetzt, dass diese Selbstverständlichkeit endlich von Regierungen ernst genommen und umgesetzt wird. Der EU-Gerichtshof hat heute äußerst weitgehende Spielräume für Überwachung eröffnet – diese dürfen nicht ausgenutzt werden. Der Standard in Demokratien muss lauten: keine Vorratsdatenspeicherung!“

Der Anlass: Heute hat der EU-Gerichtshof Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung in Frankreich, Großbritannien und Belgien veröffentlicht. Diese Entscheidungen zu insgesamt vier Rechtsstreitigkeiten gelten als richtungweisend für die gesamte EU. Die EU-Kommission und Regierungen von EU-Mitgliedsländern, darunter auch Deutschland, hatten schon im Vorfeld angekündigt, was sie sich von dem Urteil erhoffen: Neue Mittel und Wege, um die Verbindungsdaten von Telefon und Internet aller EU-Bürger.innen ohne Anlass möglichst lückenlos zu speichern.

Wir warnen vor diesen Plänen, gemeinsam mit vielen anderen Organisationen, mit einem offenen Brief.

In diesem Brief fordern wir:
  • Das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung, gegen das wir bereits 2016 Verfassungsbeschwerde eingelegt haben, darf kein Vorbild für die EU und andere Länder werden.
  • Die Kommission soll Verfahren gegen EU-Mitgliedsländer anstrengen, die mit ihren Gesetzen und Praktiken Kommunikationsdaten auf Vorrat speichern.
  • Die Unterzeichnenden des Briefs fordern die Kommission auf, an einem EU-weiten Verbot von genereller und anlassloser Vorratsdatenspeicherung zu arbeiten.
  • Die Kommission soll keine weiteren Pläne zur Wiedereinführung von Vorratsdatenspeicherung verfolgen.
Der Brief im Wortlaut (Englisch) als PDF

Der Brief übersetzt auf Deutsch:

Sehr geehrte Frau Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres;
sehr geehrter Herr Thierry Breton, EU-Kommissar für den Binnenmarkt;
sehr geehrter Herr Didier Reynders, EU-Justizkommissar und
sehr geehrte Frau Margrethe Vestager, EU-Kommissarin für Wettbewerb und Digitales

Wir sind zutiefst beunruhigt über Erklärungen [1], dass die Kommission beabsichtigt, die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen zur Vorratsspeicherung von Kommunikationsdaten zu prüfen, sobald die Urteile in noch ausstehenden Fällen ergangen sind. Am 9. Dezember 2019 sagte Kommissarin Johansson [2]: „Ich denke schon, dass wir ein Gesetz für die Vorratsdatenspeicherung brauchen“. Eine Studie über „mögliche Lösungen für die Vorratsspeicherung von Daten“ wurde in Auftrag gegeben. Die deutsche Grundrechts- und Datenschutzorganisation Digitalcourage hält das Design der Studie [3] für voreingenommen, da es die Gefahren der Vorratsdatenspeicherung in der Telekommunikation nicht berücksichtigt.

Die umfassende und anlasslose Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten ist das am stärksten in die Privatsphäre eingreifende Instrument und möglicherweise die unbeliebteste Überwachungsmaßnahme, die jemals von der EU verabschiedet wurde. Die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung schrieb die umfassende Erfassung sensibler Daten zu sozialen Kontakten (einschließlich Geschäftskontakten), Bewegungsverhalten und Privatleben (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, Betriebsräten, Psychologen, Notrufnummern usw.) von 500 Millionen Europäerinnen und Europäern vor, die keiner Straftat verdächtigt werden.

In seinem Urteil vom 8. April 2014 setzte der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Richtlinie 2006/24 zur Vorratsdatenspeicherung außer Kraft, die Telekommunikationsunternehmen verpflichtet hatte, Daten über die Kommunikation aller ihrer Kunden zu speichern. Sie ist aber in verschiedenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union noch immer in nationales Recht umgesetzt.

Wir sind der Überzeugung, dass eine derartig invasive Überwachung der gesamten Bevölkerung nicht akzeptabel ist. Mit einer Regelung zur Datenspeicherung werden sensible Informationen zu sozialen Kontakten (einschließlich Geschäftskontakten), Bewegungsverhalten und das Privatleben (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, Betriebsräten, Psychologen, Helplines usw.) von Millionen von Europäerinnen und Europäern gesammelt, ohne Vorliegen von individuellen Verdachtsmomenten. Die umfassende und anlasslose Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten hat sich in vielen Bereichen der Gesellschaft als schädlich erwiesen. Die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten untergräbt das Berufsgeheimnis, schafft die ständige Gefahr von Datenverlusten und Datenmissbrauch und hält die Bürger davon ab, vertrauliche Kommunikation über elektronische Netze zu führen. Sie untergräbt den Schutz journalistischer Quellen und schwächt damit die Pressefreiheit. Insgesamt beschädigt sie die Grundlagen unserer offenen und demokratischen Gesellschaft. Da es in den meisten Ländern kein finanzielles Entschädigungssystem gibt, müssen die enormen Kosten einer Regelung zur Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten von den Tausenden betroffenen Telekommunikationsanbietern getragen werden. Dies führt zu Preiserhöhungen und zur Einstellung von Diensten, wodurch die Verbraucher indirekt belastet werden.

Studien [4] belegen, dass bereits die ohne Vorratsdatenspeicherung verfügbaren Kommunikationsdaten zur effektiven Aufklärung von Straftaten ausreichen. Eine umfassende Vorratsdatenspeicherung hat sich in vielen Staaten Europas als überflüssig, schädlich oder sogar verfassungswidrig erwiesen, z.B. in Österreich, Belgien, Deutschland, Griechenland, Rumänien und Schweden. Diese Staaten verfolgen die Kriminalität ebenso effektiv mit der gezielten Sammlung von Verkehrsdaten, die für individuelle Ermittlungen benötigt werden, wie z.B. den im Übereinkommen des Europarats über Computerkriminalität vereinbarte Rechtsrahmen zur Sicherung gespeicherter Daten.

Wir argumentieren, dass das aktuelle deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung nicht als Vorbild für die EU angesehen werden darf. Erstens sind verschiedene Verfassungsbeschwerden gegen das Gesetz anhängig und zweitens verfolgt das deutsche Gesetz den gleichen grundsätzlich riskanten Ansatz, Daten über alle Bürgerinnen und Bürger kontinuierlich und ohne Rücksicht auf individuellen Verdacht, Bedrohung oder Bedarf zu erheben.

Es gibt keinen Beweis dafür, dass die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten einen verbesserten Schutz vor Kriminalität bietet. Auf der anderen Seite sehen wir, dass sie Milliarden von Euro kostet, die Privatsphäre Unschuldiger gefährdet, vertrauliche Kommunikation beeinträchtigt und den Weg für eine immer größere Massenanhäufung von Informationen über die gesamte Bevölkerung ebnet. Als Vertreter der Bürgerinnen und Bürger, der Medien, der Fachleute und der Industrie lehnen wir gemeinsam die generelle Speicherung von Telekommunikationsdaten ab. Wir fordern Sie dringend auf, keine Versuche zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten zu unternehmen. Gleichzeitig appellieren wir an Sie, Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, um sicherzustellen, dass die nationalen Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung in allen betroffenen Mitgliedsstaaten aufgehoben werden. Darüber hinaus rufen wir Sie dazu auf, sich für ein EU-weites Verbot genereller und anlassloser Vorratsdatenspeicherung einzusetzen, die die Aktivitäten von Menschen erfassen. Wir fordern Sie auf, den europäischen Weg weiterzuentwickeln mit dem Ziel einer EU, die frei von invasiver Überwachung ist. Wir würden uns freuen, die Angelegenheit mit Ihnen persönlich zu besprechen, zu einem für Sie passenden Termin. Mit freundlichen Grüßen

– – – – –
[1] https://www.europarl.europa.eu/RegData/questions/reponses_qe/2020/000389/P9_RE(2020)000389_EN.pdf
[2] https://www.europarl.europa.eu/RegData/questions/reponses_qe/2019/004385/P9_RE(2019)004385_EN.pdf
[3] https://digitalcourage.de/blog/2020/data-retention-biased-study-by-the-eu-commission
https://digitalcourage.de/blog/2020/vorratsdatenspeicherung-einseitige-studie-der-eu-kommission
[4] EDRi: Data Retention Booklet: https://edri.org/our-work/launch-of-data-retention-revisited-booklet/

Unterzeichnende Organisationen

  • Access Now
  • ARTICLE 19, UK
  • Associação D3 - Defesa dos Direitos Digitais, Portugal
  • Association for Technology and Internet / Asociatia pentru Tehnologie si Internet (ApTI), Romania
  • Chaos Computer Club e.V., Germany
  • Citizen D/ Državljan D, Slovenia
  • Dataskydd.net, Sweden
  • Datenschutzraum e.V., Germany
  • Deutsche Aidshilfe, Germany
  • Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD) e.V., Germany
  • dieDatenschützer Rhein Main, Germany
  • Die Neue Richtervereinigung - Zusammenschluss von Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten e.V., Germany
  • Digitalcourage e.V., Germany
  • Digitale Gesellschaft, Germany
  • Digital Freedom (Digitale Freiheit e.V.), Germany
  • Digital Freedom and Rights Association / DFRI - Föreningen för digitala fri- och rättighjeter, Sweden
  • Digital Rights Ireland; Ireland
  • Dr. Thilo Weichert, Netzwerk Datenschutzexpertise, Germany
  • eco - Verband der Internetwirtschaft e.V. , Germany
  • European Digital Rights (EDRi), EU-wide network
  • Electronic Frontier Finland, Finland
  • Electronic Frontier Foundation, U.S.A.
  • Electronic Frontier Norway, Norway
  • epicenter.works - Plattform Grundrechtspolitik, Austria
  • FREELENS e.V., Germany
  • Freifunk Hamburg, Germany
  • Forum Computer Professionals for Peace and Societal Responsibility, Germany / Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V., FIfF, Germany
  • Hermes Center for Transparency and Digital Human Rights, Italy
  • Homo Digitalis, Greece    
  • Internet Society, Bulgaria
  • Internet Society, German Chapter (ISOC.DE) e.V., Germany
  • IT-Political Association of Denmark (IT-Pol), Denmark
  • Iuridicum Remedium, z. s., Czech Republic
  • Komitee für Grundrechte und Demokratie, Germany
  • Mike O’Neill, Director of Baycloud Systems, UK
  • Netzwerk Datenschutzexpertise, Germany
  • Panda Mery
  • quintessenz – Verein zur Wiederherstellung der Bürgerrechte im Informationszeitalter, Austria
  • Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V., Germany
  • Selbstbestimmt.Digital, Germany
  • Statewatch, UK
  • Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. (VDJ), Germany
  • Vrijschrift, Netherlands
  • Working Group on Data Retention (Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung), Germany
  • Xnet, Spain
  • … weitere Organisationen werden fortlaufend ergänzt …

 

 
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