SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sollen in den
Ampel-Koalitionsverhandlungen ein Ende des Gesetzes zur verdachtslosen
Vorratsspeicherung von Verbindungs-, Standort- und Internetdaten
durchsetzen. Das fordern elf Bürgerrechts- und Berufsverbände in einem
Offenen Brief an die Verhandler zum Thema Justiz und Inneres - darunter
der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, die Deutsche Aidshilfe und der
Deutsche Journalisten-Verband.
Die "verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung" sei den
Organisationen zufolge die "schädlichste Altlast der Großen Koalition"
und "die am tiefsten in die alltägliche Privatsphäre eingreifende und
unpopulärste Massenüberwachungsmaßnahme, die der Staat jemals
hervorgebracht hat." Eine derart weitreichende "Registrierung des
Verhaltens der Menschen in ganz Deutschland" sei "für viele Bereiche der
Gesellschaft höchst schädlich", so für die Arbeit von Ärzten,
Rechtsanwälten, Psychologen, Beratungsstellen und Journalisten. Die
verdachtslose Datensammlung begünstige Datenpannen und -missbrauch und
sei von Gerichten schon wiederholt als grundrechtswidrig verworfen
worden. "Sowohl die FDP als auch Bündnis 90/Die Grünen verstehen
sich als Verteidiger von Freiheit und Bürgerrechten", erklärt Ute
Elisabeth Gabelmann vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung die
Initiative. "Nun ist es ihre Aufgabe, den behäbigen Partner SPD in die
Spur zu setzen. Die aktuell bestehende bloße 'Aussetzung der
Vollziehung' der Vorratsdatenspeicherung ist nicht akzeptabel. Wir
fordern von den Koalitionspartnern ein klares Bekenntnis zu Freiheit und
unseren Grundrechten und damit das verbindliche Ende jeder
verdachtslosen Vorratsdatenspeicherung. Auch den EU-Plänen zur
Wiedereinführung muss Deutschland entschiedenen Widerstand entgegen
setzen. Die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht zu stellen ist
unerträglich!" Hintergrund: SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN wollen sich heute mit den Themen Justiz und Inneres befassen.
Liberale und Grüne fordern in ihren Wahlprogrammen ein Ende der
verdachtslosen Datensammlung. Das 2015 von der "Großen Koalition"
beschlossene Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung wurde im Juni 2017 vom
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen für grundrechtswidrig
befunden und einstweilen ausgesetzt (Az. 13 B 238/17). Die Entscheidung
des Europäischen Gerichtshofs steht aus. Nach dem Gesetz soll
verdachtslos von der gesamten Bevölkerung aufgezeichnet werden, wer mit
wem und wo per Telefon oder Handy in Verbindung gestanden oder das
Internet genutzt hat.
Wortlaut des Gemeinsamen Briefs an SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 27. Oktober 2021
Koalitionsverhandlungen: Ende der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland
Sehr geehrte Verhandler, mit
unzähligen Überwachungsgesetzen hat die „Große Koalition“ die
Grund- und Freiheitsrechte schwer beschädigt. Von einem
"Ampel"-Koalitionsvertrag mit den Parteien SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN erwarten wir eine Beseitigung der schädlichsten Altlast der
„Großen Koalition“, nämlich der Vorratsdatenspeicherung von
Telekommunikationsdaten in Deutschland. Warum? - Die
verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung ist die am
tiefsten in die alltägliche Privatsphäre eingreifende und unpopulärste[1]
Massenüberwachungsmaßnahme, die der Staat jemals hervorgebracht hat.
Das 2015 beschlossene Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verpflichtet
Telekommunikationsgesellschaften, Informationen über die Verbindungen
ihrer sämtlichen Kunden aufzuzeichnen. Wochenlang soll nachvollziehbar
sein, wer mit wem per Telefon, Handy oder E-Mail in Verbindung gestanden
hat. Bei Smartphone-Nutzung ist auch der jeweilige Standort des
Benutzers festzuhalten. Die Vorratsspeicherung von Internetkennungen
(IP-Adressen) soll in Verbindung mit anderen Informationen
nachvollziehbar machen, wer was im Internet gelesen, gesucht oder
geschrieben hat.
- Eine derart weitreichende Registrierung
des Verhaltens der Menschen in ganz Deutschland ist für viele Bereiche
der Gesellschaft höchst schädlich. Ohne jeden Verdacht einer Straftat
sollen sensible Informationen über die sozialen Beziehungen
(einschließlich Geschäftsbeziehungen), die Bewegungen und die
individuelle Lebenssituation (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten,
Psychologen, Beratungsstellen) von über 80 Millionen Bürgern gesammelt
werden. Damit höhlt eine Vorratsdatenspeicherung Anwalts-, Arzt-,
Seelsorge-, Beratungs- und andere Berufsgeheimnisse aus und begünstigt
Datenpannen und -missbrauch. Sie untergräbt den Schutz journalistischer
Quellen und beschädigt damit die Pressefreiheit im Kern. Sie
beeinträchtigt insgesamt die Funktionsbedingungen unseres freiheitlichen
demokratischen Gemeinwesens. Die enormen Kosten einer
Vorratsdatenspeicherung sind ohne Erstattungsregelung von den
Telekommunikationsunternehmen zu tragen. Dies zieht Preiserhöhungen nach
sich, führt zur Einstellung von Angeboten und belastet mittelbar auch
die Verbraucher. Auch unter Bezeichnungen wie „Quick Freeze Plus“ ist
eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung inakzeptabel. [2]
- Es
hat sich herausgestellt, dass eine verdachtsunabhängige und wahllose
Vorratsdatenspeicherung zur Aufdeckung, Verfolgung und Bestrafung
schwerer Straftaten überflüssig ist. Untersuchungen belegen, dass
bereits die gegenwärtig verfügbaren Kommunikationsdaten ganz regelmäßig
zur effektiven Aufklärung von Straftaten ausreichen. Es gibt keinen
wissenschaftlichen Beleg dafür, dass eine Vorratsdatenspeicherung besser
vor Kriminalität schützte. Dagegen kostet sie Millionen von Euro,
gefährdet die Privatsphäre Unschuldiger, beeinträchtigt vertrauliche
Kommunikation und ebnet den Weg in eine immer weiter reichende
Massenansammlung von Informationen über die gesamte europäische
Bevölkerung.
- Die verdachtsunabhängige und wahllose
Vorratsdatenspeicherung hat sich als grundrechtswidrig erwiesen und
gerichtlicher Überprüfung wiederholt nicht standgehalten. Im Juni 2017
wurde die gesetzliche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung vom
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen bereits für
europarechtswidrig befunden und ausgesetzt (Az. 13 B 238/17). Die
Bundesnetzagentur setzt das Gesetz nicht mehr durch. Nationale Gesetze
zur Vorratsdatenspeicherung hat der Europäische Gerichtshof schon
mehrfach verworfen. Bis zu einem rechtskräftigen Abschluss der laufenden
Verfahren könnten jedoch noch Jahre der Rechtsunsicherheit vergehen.
Als
Vertreter der Bürger, der Medien, der freien Berufe, der Justiz und der
Wirtschaft lehnen wir eine flächendeckende und verdachtsunabhängige
Vorratsdatenspeicherung geschlossen ab. Wir appellieren an Sie, in den
Koalitionsverhandlungen ein klares Bekenntnis zur Aufhebung der
Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten (§113a ff. TKG) in
Deutschland einzufordern und auch die sogenannte „freiwillige“
Vorratsdatenspeicherung der Unternehmen (§100 TKG) auf besondere Anlässe
und verdächtige Aktivitäten zu beschränken [3]. Die aktuelle
Missachtung der europäischen Grundrechte-Charta muss beendet und die
freie Kommunikation wieder hergestellt werden. Seien Sie sich unserer
Unterstützung dabei versichert.
Mit besten Grüßen Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung
sowie die Mitunterzeichner - Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. - Bürgerrechtsgruppe dieDatenschützer Rhein Main - Deutsche Aidshilfe - Deutscher Fachjournalisten-Verband AG - Deutscher Journalisten-Verband e.V. - Deutsche Vereinigung für Datenschutz e.V. - Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V. - Humanistische Union e.V. - Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. - Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) Nachweise:
[1] Meinungsumfrage zu Überwachungsgesetzen: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/infas-umfrage.pdf [2] Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung zu „Quick Freeze Plus“: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/ak-vorrat-stellungnahme_qf-e.pdf [3] Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung zur „freiwilligen Vorratsdatenspeicherung“: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/ak-vorrat-stellungnahme_it-sicherheitsgesetz_oa.pdf
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