Über 20 zivilgesellschaftliche Organisationen wie Datenschutz- und
Berufsverbände warnen heute in einem Brief an die Ampel-Koalition, die
von Bundesinnenministerin Faeser (SPD) geforderte Vorratsspeicherung von
Internetadressen (IP-Adressen) wäre zum Schutz von Kindern ungeeignet
und ein schwerer Eingriff in Grundrechte, weil IP-Adressen zur
umfassenden Nachverfolgung der von einem Internetnutzer besuchten
Internetseiten und infolgedessen seiner Online-Aktivität genutzt werden
können. Es drohten das Ende der Anonymität im Internet und unzumutbare
Folgen etwa für Opfer von Gewalt- oder Sexualdelikten sowie
Presseinformanten.
Morgen wird der EU-Gerichtshof mit einem Grundsatzurteil entscheiden
inwieweit das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung mit EU-Recht
vereinbar ist. Eine generelle IP-Vorratsdatenspeicherung ist
europarechtlich nicht verboten, wird jedoch vom Koalitionsvertrag abgelehnt.
Mit dem Offenen Brief wendet sich der Arbeitskreis gegen
Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat) gemeinsam mit 26
Nichtregierungsorganisationen und Expert:innen an Innenministerin
Faeser, Justizminister Buschmann, Familienministerin Paus sowie an
Bundesvorsitzende von SPD, Grüne und FDP. Zu den Erstunterzeichnenden
gehören unter anderem die Deutsche Aidshilfe, die Deutsche Vereinigung
für Datenschutz, der Deutsche Fachjournalisten-Verband, die
Humanistische Union, das Komitee für Grundrechte und Demokratie, die
Neue Richtervereinigung, Reporter ohne Grenzen und der Republikanischer
Anwältinnen- und Anwälteverein.
Aktuell herrscht beim Thema Vorratsdatenspeicherung Streit in der Ampel.
Innenministerin Faeser will an dem Konzept einer anlasslosen
Massenspeicherung von Kommunikationsdaten festhalten, während FDP und
Grüne die anlasslose Vorratsdatenspeicherung abschaffen wollen. Ein
Entwurf für eine neues deutsches Gesetz wird bereits zeitnah erwartet.
Der Offene Brief im Wortlaut:
19. September 2022
Offener Brief
des Arbeitskreises gegen Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat)
und unterzeichnender Organisationen und Personen
Sehr geehrte Frau Nancy Faeser, Bundesministerin des Innern und für Heimat,
sehr geehrter Herr Marco Buschmann, Bundesminister der Justiz,
sehr geehrte Frau Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend,
sehr geehrter Herr Lars Klingbeil, Bundesvorsitzender der SPD,
sehr geehrter Herr Omid Nouripour, Bundesvorsitzender von BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN,
sehr geehrte Frau Ricarda Lang, Bundesvorsitzende von BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und
sehr geehrter Herr Christian Lindner, Bundesvorsitzender der FDP
Die unterzeichnenden Organisationen und Personen dieses Briefs lehnen
die anlasslose Vorratsdatenspeicherung der IP-Adressen aller
Bürger:innen ab und fordern Sie auf, den Koalitionsvertrag umzusetzen,
die Freiheitsrechte der Bevölkerung zu schützen und langfristig den Weg
einer massenüberwachungsfreien Politik einzuschlagen.
Stoppen Sie die Vorratsdatenspeicherung, schützen Sie Telefon- und auch
Internetnutzer:innen!
Sie finden die Erstunterzeichnenden am Ende dieses Briefs.
Privatsphäre ist Grundrecht
Keine anlasslose Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen!
Die aktuellen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung, deren Anwendung
seit Juli 2017 nach einem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts
Nordrhein-Westfalen ausgesetzt sind, verpflichten öffentlich zugängliche
Internetzugangsdienste zur pauschalen Speicherung aller IP-Adressen, die
den Endnutzer:innen für eine Internetnutzung zugewiesen wurden,
inklusive einer eindeutigen Kennung des Anschlusses, einer zugewiesenen
Benutzerkennung sowie Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der
Internetnutzung. Im Falle von Internet-Sprachkommunikationsdiensten
müssten auch die IP-Adressen des anrufenden und des angerufenen
Anschlusses und die zugewiesene Benutzerkennungen gespeichert werden.
Am 20. September wird der Gerichtshof der Europäischen Union seine
Entscheidung über das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung
verkünden. In den darauf folgenden Monaten geht es um die Erfüllung des
Koalitionsvertrags [1]. Die Bundesregierung will sich laut Vertrag von
der Überwachungspolitik der Vorgängerregierung konsequent abwenden und
die „Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten, dass Daten
rechtssicher anassbezogen und durch richterlichen Beschluss gespeichert
werden können.“
Koalitionsvertrag einhalten!
Der Koalitionsvertrag schließt jede Form der anlasslosen Speicherung der
Kommunikationsdaten der Bürgerinnen und Bürger aus. Das betrifft auch
die von der Bundesinnenministerin erhobene Forderung [2] nach der
Einführung einer anlasslosen und pauschalen IP-Vorratsdatenspeicherung.
Wir rufen Sie auf, die Versprechen des Koalitionsvertrags gegenüber den
Bürgerinnen und Bürgern einzuhalten!
Schwerer Eingriff in die Grundrechte: IP-Daten bedingen Verfolgung und
Profilbildung von Menschen
Regierungen, Parlamente und große Teile der Bevölkerung unterschätzen
das Risiko von IP-Adressen für das tägliche Leben. In seinem Urteil aus
Oktober 2020 (La Quadrature du Net) betont der EU-Gerichtshof die
Sensibilität von IP-Daten: „Da die IP-Adressen jedoch insbesondere zur
umfassenden Nachverfolgung der von einem Internetnutzer besuchten
Internetseiten und infolgedessen seiner Online-Aktivität genutzt werden
können, ermöglichen sie die Erstellung eines detaillierten Profils
dieses Nutzers. Die für eine solche Nachverfolgung erforderliche
Vorratsspeicherung und Analyse der IP-Adressen stellen daher schwere
Eingriffe in die Grundrechte des Internetnutzers aus den Art. 7 und 8
der Charta dar und können abschreckende Wirkungen wie die in Rn. 118 des
vorliegenden Urteils dargelegten entfalten.“
Zuletzt bestätigte eine Studie[3] zu Privatsphäre und IPv6-Adressen,
dass IP-Adressen trotz Vorkehrungen zum Datenschutz eindeutige und
dauerhafte Tracking-Identifikatoren sein können.
IP-Vorratsdatenspeicherung ist ungeeignet für den Schutz von Kindern
In Deutschland werden Forderungen nach massenhafter Speicherung von
Kommunikationsdaten hauptsächlich mit dem Schutz von Kindern und
Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt begründet. Im November 2021 hatte
der Arbeitskreis gegen Vorratsdatenspeicherung gemeinsam mit zehn
weiteren Bürgerrechts- und Berufsverbänden dargelegt, warum
Vorratsdatenspeicherung zum Schutz von Kindern ungeeignet [4] ist. Im
Januar 2022 bestätigte eine Antwort der Bundesregierung auf eine
schriftliche Frage zudem, dass Vorratsdatenspeicherung nicht notwendig
ist. Laut Daten des Bundeskriminalamts [5] konnten nur 3 % alle Fälle
der „Nutzung, des Handels oder der Verbreitung von Kinderpornographie in
den Jahren 2017 bis 2021“ aufgrund nicht vorhandener IP-Adressen nicht
weiter verfolgt werden.
Im April 2022 kritisierte gegen-missbrauch e.V. [6]: „(…) das Problem
ist nicht die [fehlende Vorratsdatenspeicherung], sondern, das[s] die
Ermittlungsbehörden vom Personal und der Ausstattung noch im 19.
Jahrhundert sind, und Täter:innen tatsächlich im Jahr 2022“.
Vorratsdatenspeicherung hilft nicht für mehr Sicherheit
Der Arbeitskreis gegen Vorratsdatenspeicherung (AKV) betont in seiner
Analyse [7] einer Studie[8] des Max-Planck-Instituts aus 2011:
„Dass Straftäter heutzutage oftmals elektronisch statt wie früher
mündlich oder postalisch kommunizieren, bedeutet also nicht, dass die
Benutzung der Kommunikationsnetze total nachvollziehbar sein müsste, wie
es auch bei der mündlichen und postalischen Kommunikation nie der Fall
gewesen ist.“ Der AKV hebt hervor: „Im Jahr 2020 wurde die Verbreitung
pornografischer Schriften laut Kriminalstatistik zu 91,3% aufgeklärt -
ohne dass eine Pflicht zur IP-Vorratsdatenspeicherung in Kraft ist!“
Die Studie kommt daher zu dem Ergebnis: „Insbesondere gibt es bislang
keinen Hinweis dafür, dass durch eine umfängliche Verfolgung aller
Spuren, die auf das Herunterladen von Kinderpornografie hindeuten,
sexueller Missbrauch über den Zufall hinaus verhindert werden kann.“ (221f)
Umgekehrt gilt, dass anonyme Kommunikation Kinder schützt, indem sie
anonyme Beratung, Selbsthilfe und Strafanzeigen ermöglicht.
Kinderschutz geht ohne Massenüberwachung
Anstelle von Massenüberwachung sind es gezielte und unmittelbare
Maßnahmen, die Kinder und Jugendliche schützen können. Dazu gehören
bessere und schnellere gezielte Ermittlungen, Schutz- &
Präventionskonzepte an Schulen und kirchlichen Einrichtungen sowie die
Stärkung der Kompetenzen von Kontaktpersonen in Behörden,
Beratungsstellen und öffentlichen Einrichtungen.
Vorratsdatenspeicherung trifft unschuldige Bürger:innen
Während sich Kriminelle technisch vor Massenüberwachung schützen können,
würde eine pauschale Vorratsdatenspeicherung vor allem rechtstreu
lebenden Menschen erfassen und schwer in ihren Grundrechten verletzen.
Überwachung muss in einer Demokratie die Ausnahme bleiben und darf
niemals zum Standard werden.
Recht auf vertrauliche Internetnutzung
Die vertrauliche und anonyme Internetnutzung ist für die Meinungs- und
Informationsfreiheit unerlässlich. Eine generelle und verdachtslose
Vorratsspeicherung unserer Identität und IP im Internet würde das Ende
der Anonymität im Internet bedeuten. Sie würde es den meisten
Bürger:innen unmöglich machen, das Internet frei vom Risiko staatlicher
Beobachtung (z.B. auch wegen eines falschen Verdachts), missbräuchlicher
Offenlegung durch Mitarbeiter:innen des Anbieters und versehentlichen
Datenverlustes zu nutzen. Dadurch hätte eine IP-Vorratsdatenspeicherung
unzumutbare Folgen, wo Menschen nur im Schutz der Anonymität überhaupt
bereit sind, sich in einer Notsituation beraten und helfen zu lassen
(z.B. Opfer und Täter:innen von Gewalt- oder Sexualdelikten), ihre
Meinung trotz öffentlichen Drucks zu äußern oder Missstände bekannt zu
machen (Presseinformanten, anonyme Strafanzeigen, ausländische
Dissidenten). Bürger:innen müssen die Möglichkeit haben, sich anonym mit
Journalist:inn:en, Behörden, Anwaltskanzleien, Beratungsstellen und
Ärzt:inn:en auszutauschen, ohne dabei rückverfolgt werden zu können.
Massenüberwachungsfreie Politik
Wir fordern Sie auf, den Koalitionsvertrag umzusetzen, die
Freiheitsrechte der Bevölkerung zu schützen und langfristig den Weg
einer massenüberwachungsfreien Politik einzuschlagen.
Stoppen Sie die Vorratsdatenspeicherung, schützen Sie Telefon- und auch
Internetnutzer:innen!
Erstunterzeichnende Organisationen und Personen
• Aktion Freiheit statt Angst e.V.
• AlgorithmWatch
• Deutsche Aidshilfe
• Deutsche Vereinigung für Datenschutz e.V. (DVD)
• DFJV Deutscher Fachjournalisten-Verband AG
• DieDatenschützerRhein-Main
• Digitalcourage e.V.
• Digitale Gesellschaft e. V.
• Dr. Rolf Gössner, Jurist/Publizist, Kuratoriumsmitglied der
Internationalen Liga für Menschenrechte
• Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche
Verantwortung e. V.
• freiheitsfoo / freiheitsfoo.de
• Humanistische Union e.V.
• Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
• mailbox.org – Heinlein Hosting GmbH
• Monique Hofmann – Bundesgeschäftsführerin Deutsche
Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di
• Netzwerk Recherche
• Neuen Richtervereinigung e.V., Bundesvorstand
• openPetition
• Peter Leppelt – Mitglied des Digitalrat Niedersachsen
• Prof. Dr. Clemens Arzt – FÖPS Berlin - Forschungsinstitut für
öffentliche und private Sicherheit (Gründungsdirektor)
• Prof. Dr. Fredrik Roggan – Hochschule der Polizei des Landes
Brandenburg
• Prof. Dr. Ira Diethelm – Carl von Ossietzky Universität
• Prof. Dr.-Ing. Tibor Jager – Bergische Universität Wuppertal
• Prof. Thorsten Holz – CISPA Helmholtz Center for Information
Security
• Reporter ohne Grenzen e. V. / Reporters Without Borders (RSF)
Germany
• Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. (RAV)
Fußnoten:
1 https://www.spd.de/koalitionsvertrag2021/
2
https://www.deutschlandfunk.de/nancy-faeser-spd-innenminister-konferenz-sicherheit-katastrophenschutz-100.html
3 https://dl.acm.org/doi/10.1145/3544912.3544915
4 http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/799/1/lang,de/
5 https://dserver.bundestag.de/btd/20/005/2000534.pdf#page=39
6 https://twitter.com/echo_pbreyer/status/1518620276648558592
7 http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/537/55/lang,de/%20
8 https://grundrechte.ch/2013/MPI_VDS_Studie.pdf |