Sehr geehrte Abgeordnete des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages,
der Arbeitskreis gegen Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat) lehnt
die im Antrag
der Fraktion der CDU/CSU (Drs. 20/3687) geforderte anlasslose
Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen der Bürgerinnen und Bürger
ebenso entschieden ab wie jede andere Form der anlasslosen
Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen. Der AK Vorrat fordert mit
dem beigefügten Schreiben, den in diesem Punkt eindeutig
formulierten Koalitionsvertrag umzusetzen, die Freiheitsrechte der
Bevölkerung zu schützen und langfristig den Weg einer
massenüberwachungsfreien Politik einzuschlagen.
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat mit dem im
beigefügten Brief erwähnten Urteil vom 20. September 2022 das
deutsche Gesetz zur verdachtslosen Vorratsspeicherung von
Telefonverbindungs- und Standortdaten der Bürgerinnen und Bürger
für unionsrechtswidrig erklärt. Während der Gerichtshof die
verdachtslose Vorratsspeicherung von Internetverbindungsdaten
(IP-Adressen) zur Verfolgung schwerer Straftaten nicht beanstandet
hat, hat das Bundesverwaltungsgericht das deutsche Gesetz zur
Vorratsdatenspeicherung mit zwei am 7. September 2023 bekannt
gegebenen Entscheidungen in vollem Umfang für unionsrechtswidrig
erklärt. Damit verworfen wurde auch die Vorschrift zur
Vorratsspeicherung von Internetverbindungsdaten.
Mit dem beigefügten Brief vom 19. September 2022 fordern über 20
zivilgesellschaftliche Organisationen wie Datenschutz- und
Berufsverbände die (seit über einem Jahr weiterhin nicht erfolgte)
Erfüllung des Koalitionsvertrags.
In Bezug auf die öffentliche Anhörung
am 11. Oktober 2023 heben wir insbesondere hervor:
IP-Vorratsdatenspeicherung ist ungeeignet für den Schutz von
Kindern. Echter Kinderschutz ist ohne jede Form von
Massenüberwachung möglich.
Mit freundlichem Gruß
Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung
Offener Brief vom 19. September 2022:
Privatsphäre ist Grundrecht
Keine anlasslose Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen!
Die aktuellen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung, deren
Anwendung seit Juli 2017 nach einem Beschluss des
Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen ausgesetzt sind,
verpflichten öffentlich zugängliche Internetzugangsdienste zur
pauschalen Speicherung aller IP-Adressen, die den
Endnutzer:innen für eine Internetnutzung zugewiesen wurden,
inklusive einer eindeutigen Kennung des Anschlusses, einer
zugewiesenen Benutzerkennung sowie Datum und Uhrzeit von Beginn
und Ende der Internetnutzung. Im Falle von
Internet-Sprachkommunikationsdiensten müssten auch die
IP-Adressen des anrufenden und des angerufenen Anschlusses und
die zugewiesene Benutzerkennungen gespeichert werden.
Am 20. September wird der Gerichtshof der Europäischen Union
seine Entscheidung über das deutsche Gesetz zur
Vorratsdatenspeicherung verkünden. In den darauf folgenden
Monaten geht es um die Erfüllung des Koalitionsvertrags [1]. Die
Bundesregierung will sich laut Vertrag von der
Überwachungspolitik der Vorgängerregierung konsequent abwenden
und die „Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten,
dass Daten rechtssicher anassbezogen und durch richterlichen
Beschluss gespeichert werden können.“
Koalitionsvertrag einhalten!
Der Koalitionsvertrag schließt jede Form der anlasslosen
Speicherung der Kommunikationsdaten der Bürgerinnen und Bürger
aus. Das betrifft auch die von der Bundesinnenministerin
erhobene Forderung [2] nach der Einführung einer anlasslosen und
pauschalen IP-Vorratsdatenspeicherung. Wir rufen Sie auf, die
Versprechen des Koalitionsvertrags gegenüber den Bürgerinnen und
Bürgern einzuhalten!
Schwerer Eingriff in die Grundrechte: IP-Daten bedingen
Verfolgung und Profilbildung von Menschen
Regierungen, Parlamente und große Teile der Bevölkerung
unterschätzen das Risiko von IP-Adressen für das tägliche Leben.
In seinem Urteil aus Oktober 2020 (La Quadrature du Net) betont
der EU-Gerichtshof die Sensibilität von IP-Daten: „Da die
IP-Adressen jedoch insbesondere zur umfassenden Nachverfolgung
der von einem Internetnutzer besuchten Internetseiten und
infolgedessen seiner Online-Aktivität genutzt werden können,
ermöglichen sie die Erstellung eines detaillierten Profils
dieses Nutzers. Die für eine solche Nachverfolgung erforderliche
Vorratsspeicherung und Analyse der IP-Adressen stellen daher
schwere Eingriffe in die Grundrechte des Internetnutzers aus den
Art. 7 und 8 der Charta dar und können abschreckende Wirkungen
wie die in Rn. 118 des vorliegenden Urteils dargelegten
entfalten.“
Zuletzt bestätigte eine Studie[3] zu Privatsphäre und
IPv6-Adressen, dass IP-Adressen trotz Vorkehrungen zum
Datenschutz eindeutige und dauerhafte Tracking-Identifikatoren
sein können.
IP-Vorratsdatenspeicherung ist ungeeignet für den Schutz von
Kindern
In Deutschland werden Forderungen nach massenhafter
Speicherung von Kommunikationsdaten hauptsächlich mit dem Schutz
von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt
begründet. Im November 2021 hatte der Arbeitskreis gegen
Vorratsdatenspeicherung gemeinsam mit zehn weiteren
Bürgerrechts- und Berufsverbänden dargelegt, warum
Vorratsdatenspeicherung zum Schutz von Kindern ungeeignet [4]
ist. Im Januar 2022 bestätigte eine Antwort der Bundesregierung
auf eine schriftliche Frage zudem, dass Vorratsdatenspeicherung
nicht notwendig ist. Laut Daten des Bundeskriminalamts [5]
konnten nur 3 % alle Fälle der „Nutzung, des Handels oder der
Verbreitung von Kinderpornographie in den Jahren 2017 bis 2021“
aufgrund nicht vorhandener IP-Adressen nicht weiter verfolgt
werden.
Im April 2022 kritisierte gegen-missbrauch e.V. [6]: „(…) das
Problem ist nicht die [fehlende Vorratsdatenspeicherung],
sondern, das[s] die Ermittlungsbehörden vom Personal und der
Ausstattung noch im 19. Jahrhundert sind, und Täter:innen
tatsächlich im Jahr 2022“.
Vorratsdatenspeicherung hilft nicht für mehr Sicherheit
Der Arbeitskreis gegen Vorratsdatenspeicherung (AKV) betont
in seiner Analyse [7] einer Studie[8] des Max-Planck-Instituts
aus 2011:
„Dass Straftäter heutzutage oftmals elektronisch statt wie
früher mündlich oder postalisch kommunizieren, bedeutet also
nicht, dass die Benutzung der Kommunikationsnetze total
nachvollziehbar sein müsste, wie es auch bei der mündlichen und
postalischen Kommunikation nie der Fall gewesen ist.“ Der AKV
hebt hervor: „Im Jahr 2020 wurde die Verbreitung pornografischer
Schriften laut Kriminalstatistik zu 91,3% aufgeklärt - ohne dass
eine Pflicht zur IP-Vorratsdatenspeicherung in Kraft ist!“
Die Studie kommt daher zu dem Ergebnis: „Insbesondere gibt es
bislang keinen Hinweis dafür, dass durch eine umfängliche
Verfolgung aller Spuren, die auf das Herunterladen von
Kinderpornografie hindeuten, sexueller Missbrauch über den
Zufall hinaus verhindert werden kann.“ (221f)
Umgekehrt gilt, dass anonyme Kommunikation Kinder schützt, indem
sie anonyme Beratung, Selbsthilfe und Strafanzeigen ermöglicht.
Kinderschutz geht ohne Massenüberwachung
Anstelle von Massenüberwachung sind es gezielte und
unmittelbare Maßnahmen, die Kinder und Jugendliche schützen
können. Dazu gehören bessere und schnellere gezielte
Ermittlungen, Schutz- & Präventionskonzepte an Schulen und
kirchlichen Einrichtungen sowie die Stärkung der Kompetenzen von
Kontaktpersonen in Behörden, Beratungsstellen und öffentlichen
Einrichtungen.
Vorratsdatenspeicherung trifft unschuldige Bürger:innen
Während sich Kriminelle technisch vor Massenüberwachung
schützen können, würde eine pauschale Vorratsdatenspeicherung
vor allem rechtstreu lebenden Menschen erfassen und schwer in
ihren Grundrechten verletzen. Überwachung muss in einer
Demokratie die Ausnahme bleiben und darf niemals zum Standard
werden.
Recht auf vertrauliche Internetnutzung
Die vertrauliche und anonyme Internetnutzung ist für die
Meinungs- und Informationsfreiheit unerlässlich. Eine generelle
und verdachtslose Vorratsspeicherung unserer Identität und IP im
Internet würde das Ende der Anonymität im Internet bedeuten. Sie
würde es den meisten Bürger:innen unmöglich machen, das Internet
frei vom Risiko staatlicher Beobachtung (z.B. auch wegen eines
falschen Verdachts), missbräuchlicher Offenlegung durch
Mitarbeiter:innen des Anbieters und versehentlichen
Datenverlustes zu nutzen. Dadurch hätte eine
IP-Vorratsdatenspeicherung unzumutbare Folgen, wo Menschen nur
im Schutz der Anonymität überhaupt bereit sind, sich in einer
Notsituation beraten und helfen zu lassen (z.B. Opfer und
Täter:innen von Gewalt- oder Sexualdelikten), ihre Meinung trotz
öffentlichen Drucks zu äußern oder Missstände bekannt zu machen
(Presseinformanten, anonyme Strafanzeigen, ausländische
Dissidenten). Bürger:innen müssen die Möglichkeit haben, sich
anonym mit Journalist:inn:en, Behörden, Anwaltskanzleien,
Beratungsstellen und Ärzt:inn:en auszutauschen, ohne dabei
rückverfolgt werden zu können.
Massenüberwachungsfreie Politik
Wir fordern Sie auf, den Koalitionsvertrag umzusetzen, die
Freiheitsrechte der Bevölkerung zu schützen und langfristig den
Weg einer massenüberwachungsfreien Politik einzuschlagen.
Stoppen Sie die Vorratsdatenspeicherung, schützen Sie Telefon-
und auch Internetnutzer:innen!
Erstunterzeichnende Organisationen und Personen
• Aktion Freiheit statt Angst e.V.
• AlgorithmWatch
• Deutsche Aidshilfe
• Deutsche Vereinigung für Datenschutz e.V. (DVD)
• DFJV Deutscher Fachjournalisten-Verband AG
• DieDatenschützerRhein-Main
• Digitalcourage e.V.
• Digitale Gesellschaft e. V.
• Dr. Rolf Gössner, Jurist/Publizist, Kuratoriumsmitglied
der Internationalen Liga für Menschenrechte
• Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche
Verantwortung e. V.
• freiheitsfoo / freiheitsfoo.de
• Humanistische Union e.V.
• Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V.
• mailbox.org – Heinlein Hosting GmbH
• Monique Hofmann – Bundesgeschäftsführerin Deutsche
Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di
• Netzwerk Recherche
• Neuen Richtervereinigung e.V., Bundesvorstand
• openPetition
• Peter Leppelt – Mitglied des Digitalrat Niedersachsen
• Prof. Dr. Clemens Arzt – FÖPS Berlin - Forschungsinstitut
für öffentliche und private Sicherheit (Gründungsdirektor)
• Prof. Dr. Fredrik Roggan – Hochschule der Polizei des
Landes Brandenburg
• Prof. Dr. Ira Diethelm – Carl von Ossietzky Universität
• Prof. Dr.-Ing. Tibor Jager – Bergische Universität
Wuppertal
• Prof. Thorsten Holz – CISPA Helmholtz Center for
Information Security
• Reporter ohne Grenzen e. V. / Reporters Without Borders
(RSF) Germany
• Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.
(RAV)
Fußnoten:
1 https://www.spd.de/koalitionsvertrag2021/
2 https://www.deutschlandfunk.de/nancy-faeser-spd-innenminister-konferenz-sicherheit-katastrophenschutz-100.html
3 https://dl.acm.org/doi/10.1145/3544912.3544915
4 http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/799/1/lang,de/
5 https://dserver.bundestag.de/btd/20/005/2000534.pdf#page=39
6 https://twitter.com/echo_pbreyer/status/1518620276648558592
7 http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/537/55/lang,de/%20
8 https://grundrechte.ch/2013/MPI_VDS_Studie.pdf
Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat) ist ein
bundesweiter Zusammenschluss, der sich gegen die ausufernde
Überwachung im Allgemeinen und gegen die Vollprotokollierung der
Telekommunikation und anderer Verhaltensdaten im Besonderen
einsetzt. Mitglieder des Arbeitskreises sind Bürgerrechtler,
Datenschützer und Internetnutzer, aber auch Verbände,
Organisationen und Initiativen. Sie engagieren sich gegen die
anlasslose Speicherung persönlicher Daten, für mehr Datenschutz,
für das Recht auf Privatheit, für unbeobachtete Kommunikation und
für den Respekt vor der Menschenwürde, besonders für das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung.