Do, 31. Mai, Berlin: Diskussionsveranstaltung zur Vorratsdatenspeicherung (29.05.2007) |
Republikanische Vesper: Wer unschuldig bleiben will, telefoniere nicht! Ort: Haus der Demokratie und Menschenrechte Die Vorratsspeicherung von Verbindungsdaten als Abschied vom Kommunikationsgeheimnis Es klingt harmlos und vernünftig: Nachdem immer mehr Straftaten mit moderner Kommunikationstechnik vorbereitet und begangen werden, will der Staat jetzt nachrüsten. Künftig sollen alle Verbindungsdaten für Telefone, Handys und Internetzugänge für ein halbes Jahr gespeichert werden. Sollte es zu einem Ermittlungsverfahren kommen, könne so die Aufklärung erheblich verbessert werden. Diese Vorratsdatenspeicherung bedeutet aber auch, dass von allen Menschen gespeichert wird, wer mit wem, wann und wie lange und von wo aus kommuniziert hat. In Deutschland dürfen mit diesen Daten vorerst nur schwere Straftaten aufgeklärt werden, die Geheimdienste darin nach "Gefahren" herumschnüffeln. Die Musik- und Filmindustrie hat ihr Interesse an den Daten bereits angemeldet. Gibt es wirklich viele Straftaten, die wegen fehlender Verbindungsdaten nicht aufgeklärt werden konnten? Sind alle, die telefonieren, surfen oder E-Mails schreiben, potentielle Kriminelle? Was sagen die Verbindungsdaten aus? Wer soll Zugriff auf die Daten bekommen und was tun Bürgerrechtler dagegen? Über diese und andere Fragen wurde diskutiert am Donnerstag, den 31. Mai 2007 ab 19.00 Uhr mit
Veranstalter: Humanistische Union Veranstaltungsbericht (Quelle):Die vorsorgliche Speicherung der Verkehrsdaten elektronischer Kommunikation für sechs Monate integriert sich nahtlos in die Gesamtschau der "Sicherheits"-Maßnahmen der letzten Jahre, mit denen sich der Staat zu schützen trachtet. Nun aber wird jede Bürgerin und jeder Bürger unter Generalverdacht gestellt. Der Konformitätsdruck nimmt zu, sich sozial und politisch erwünscht zu verhalten - denn abweichendes Verhalten wird nun dokumentiert und kann leicht zum Nachteil der Betroffenen ausgelegt werden. Ist es in Zukunft gefährlich, an einem Ort eine SMS zu erhalten, an dem auch ein arabisch aussehender Mitbürger ein Mobiltelefon in der Hand hat? Gerät man in die Anti-Terror-Datei, wenn man sich auf eine Mailing-Liste zu den G8-Demonstrationen einträgt? Sollte man sich lieber einen Anwalt oder Arzt nehmen, bei dem garantiert nur unbescholtene Mitbürger Klienten sind? Um über die bekannten grundlegenden Fakten hinaus (s. z.B. http://www.vorratsdatenspeicherung.de) die juristischen und technischen Gegenargumente zu bündeln, waren bei der monatlichen Diskussionsrunde, der rege besuchten "Republikanischen Vesper" am 31. Mai in Berlin, unterschiedliche Pole des kritischen Spektrums vertreten: neben der HU selbst und dem AK Vorratsdatenspeicherung der Chaos Computer Club und ein Vertreter des Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit.
Ricardo Cristof Remmert-Fontes (AK Vorrat), Constanze Kurz (CCC), Roland Otte, Rosemarie Will (beide HU) und Thomas Petri (v.l.n.r) Die Geschichte der VDS ist kurios: Bis zum Regierungswechsel hatte sich der deutsche Bundestag mehrfach gegen eine Speicherung dieser personenbezogenen Daten ausgesprochen. Über eine EU-Richtlinie wird sie aber ab Anfang 2008 dennoch umgesetzt. Da vor dem deutschen Regierungswechsel auf europäischer Ebene keine Einstimmigkeit erzielbar war, wurde trotz der Behandlung von Straftatbeständen eine Rechtsgrundlage genutzt, die eigentlich für die Harmonisierung des Binnenmarktes gedacht war. Dieses Vorgehen wird derzeit von Irland mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof angefochten, die deutsche Regierung verweigerte sich jedoch einer solchen Klage. Sollte die Richtlinie fallen, müsste die Bundesregierung Farbe bekennen, ob sie auch im Alleingang die Vorratsdatenspeicherung durchsetzen will. Auch ein Erfolg der beim deutschen Bundesverfassungsgericht angekündigten Verfahren wäre wahrscheinlicher, da so nur die Konformität mit dem Grundgesetz geprüft werden müsste. Diese ist mehr als zweifelhaft, da u.a. nicht nur die Inhalte, sondern auch die Umstände der Telekommunikation vom Fernmeldegeheimnis geschützt sind. Sollte die Umsetzung erfolgen, ist die erste Stufe die Sammlung der Daten. Sie ist praktisch, objektivierbar, durch den Einsatz von Informationstechnologie schnell und billig. Unter dem Aspekt der Datenvermeidung ist sie freilich nicht verhältnismäßig zur ursprünglichen Intention: der Terrorabwehr in der zweite Stufe durch tatsächliche Verwendung der Daten. Die Effektivität dürfte nämlich gering sein - sich vollkommen unauffällig verhaltenden Terroristen ist mit Verbindungsdaten nicht beizukommen. Dafür wird jedoch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung unverhältnismäßig eingeschränkt: Mit einem Mausklick lassen sich Bewegungs- und Persönlichkeitsprofile sowie Soziogramme der Kontakte und deren Intensität erstellen. Da alle Telekommunikationsprovider zu Ermittlern werden, ist zudem eine Nutzung der Daten für Marketingzwecke kaum zu verhindern. Erschwerend ist, dass sich viele Abgeordnete aufgrund technischer Ignoranz "beratungsresistent" zeigen oder wider besseren Wissens aufgrund des Fraktionszwanges mit den Befürwortern der Speicherung stimmen. Die geplante Umsetzung in Deutschland ist hierbei - anders als vom Bundesjustizministerium dargestellt - keineswegs die minimale Variante. So wurde u.a. die Zweckbestimmung der Aufklärung von "schwereren" zu "allen Straftaten, die mittels Telekommunikation" begangenen werden. Dies reicht bis zur Verfolgung von einfachen Copyright-Verstößen - die Musikindustrie wartet schon lange darauf. Tucholsky wusste: "Der eigene Hund macht keinen Lärm - er bellt nur". Ebenso sehen es anscheinend einige politische Akteure: Der Staat könne definitionsgemäß nicht demokratiefeindlich handeln. Ohne die Notwendigkeit zur Aufklärung von Straftaten zu bestreiten: Das Vertrauen in die Integrität der Ermittler als einzige Sicherung gegen Missbrauch ist unzureichend. Denn Mechanismen gegen menschliches oder technisches Versagen bei der Speicherung und Verarbeitung der zweideutigen Datenflut sind im Entwurf nicht vorgesehen. Diese grassierende Technologiegläubigkeit erinnert an Terry Gilliam's Film "Brazil", in dem aufgrund eines Buchstabendrehers ein Unschuldiger zum Opfer der Staatsmacht wird. Eine Teilnehmerin der Vesper fragte provokativ: "Was ist, wenn ich mich verwähle und Osama Bin Laden an der Strippe habe?". Eine Differenzierung nicht möglich, da die Inhalte nicht ausgewertet werden - aber das kann ja noch kommen, zum Schutz Unschuldiger, versteht sich. Audioauszüge aus der Veranstaltung: Roland Otte: Einleitung - Warum Republikanische Vespern? (MP3)
Ricardo Cristof Remmer-Fontes: Was heißt Vorratsdatenspeicherung (MP3)
(Korrektur: auch nach der EU-Richtlinie gilt für die Diensteanbieter, dass sie alle vorrätig zu speichernden Daten zu erheben haben, unabhängig davon, ob sie zu Vertragszwecken anfallen oder nicht)
Rosemarie Will: Verhältnis des bundesdeutschen Verfassungsgerichts zu europarechtlichen Normen (MP3) Rosemarie Will: politische Einschätzung zum deutschen Gesetzgebungsverfahren (MP3)
Constanze Kurz: Aktivitäten des Chaos Computer Clubs gegen die Vorratsdatenspeicherung (MP3) Audio-Mitschnitt aller Beiträge |