Verhaltensänderungen durch Verbindungsdatenspeicherung? Forscher gesucht (25.01.2010) |
Bürgerrechtler suchen Wissenschaftler, die untersuchen, ob sich eine
Erfassung des Kommunikationsverhaltens auf die
Kommunikationsbereitschaft der Betroffenen auswirkt. Die Frage soll
erforscht werden, nachdem ein Verfassungsrichter in der mündlichen
Verhandlung über die Vorratsdatenspeicherung nach empirischen Belegen
für eine Abschreckungswirkung der Verbindungsdatenspeicherung fragte. Seit 2008 wird in Deutschland auf Vorrat gespeichert, wer wann mit wem per Telefon, Handy oder E-Mail in Verbindung gestanden hat und an welchen Orten wir unser Handy genutzt haben. Die Bürgerinitiative Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung hat eine Verfassungsbeschwerde von über 34.000 Personen gegen diese flächendeckende und anlasslose Verhaltenserfassung initiiert, über die das Bundesverfassungsgericht am 15.12.2009 verhandelt hat. Im Laufe der Verhandlung fragte einer der Verfassungsrichter, ob es empirische Belege dafür gebe, dass die Kommunikationserfassung von der unbefangenen Benutzung von Telefon, Handy und E-Mail abschrecke. Meinungsumfragen legen eine Abschreckungswirkung im Bereich sensibler Kontakte (z.B. von Hilfsbedürftigen, Beratungsbedürftigen, Presseinformanten) zwar nahe.[1] Eine experimentelle Erforschung steht aber noch aus. Ein Forschungsprojekt zur Überprüfung der Auswirkungen der Kommunikationsdatenerfassung auf Kommunikationsbereitschaft und Kommunikationsverhalten wäre hoch relevant. Die Vorratsdatenspeicherung ist nicht nur in Deutschland hoch umstritten und wird nach dem Bundesverfassungsgericht gegebenenfalls auch von dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) oder dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) geprüft werden. Der Rumänische Verfassungsgerichtshof ist 2009 von einer erheblichen Abschreckungswirkung ausgegangen und hat die Verbindungsdatenspeicherung in Rumänien für verfassungswidrig erklärt.[2] In Irland und Ungarn sind weitere Klagen anhängig. In Österreich, Belgien, Griechenland und Schweden wird zurzeit heftig um die Einführung einer Vorratsdatenspeicherung gerungen. Ganz allgemein ist die Frage von großer Bedeutung, ob die zunehmende technische Erfassung unseres Verhaltens dieses verändert. Neben der wissenschaftlichen und politischen Bedeutung wären die Ergebnisse entsprechender Experimente auch ökonomisch relevant (Arbeitnehmerüberwachung). Das "Honesty Box"-Experiment der Universität Newcastle, demzufolge ein bloßes Poster mit Augenabbildung das Verhalten ändert,[3] hat seinerzeit hohe Wellen geschlagen. Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung sucht nun einen Wissenschaftler, der ein Projekt zur experimentellen Erforschung von Verhaltensänderungen durch die Verbindungsdatenspeicherung durchführt. "Eigentlich sollte es Sache des Staates sein, die vorgebliche Unbedenklichkeit seiner Totalerfassungsmaßnahme wissenschaftlich nachzuweisen", kommentiert Patrick Breyer vom Arbeitskreis. "Bislang gibt es aber keinerlei staatliche Mittel für eine entsprechende Untersuchung. Der Staat zeigte bislang kein Interesse an einer Untersuchung der Nachteile seiner Maßnahmen. Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) als Gegnerin der Vorratsdatenspeicherung sollte nun den Mut aufbringen, eine entsprechende Untersuchung in Auftrag geben." "Neben den grundrechtlichen Bedenken sind Erkenntnisse über greifbare soziale und psychische Auswirkungen der verdachtunabhängigen Speicherung von Verhaltensdaten entscheidend für den Kampf gegen Vorratsdatenspeicherung und Überwachung", erklärt Sandra Mamitzsch vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. "Forschungserkenntnisse können gewichtige Argumente für die kommenden Verfahren vor den nationalen und europäischen Gerichten liefern. Die Erforschung der Auswirkungen der Vorratsdatenspeicherung auf das menschliche Verhalten darf nicht wie bisher vernachlässigt werden." Fußnoten:
[1] Siehe http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/228/79/lang,de/ und http://twiturl.de/dfjv (PDF) Ergänzung vom 30.09.2010: Entwurf eines Versuchsdesigns: Experimentelle Untersuchung der Auswirkungen einer Speicherung aller Verbindungsdaten Szenario 1: AIDS-Beratung Der Versuchsperson wird mitgeteilt: Das Experiment soll das Verhalten Beratungsbedürftiger erforschen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten erfahren, dass ein früherer Sexualpartner von Ihnen HIV-infiziert sein soll. Sie sind unentschlossen, ob Sie dem Verdacht nachgehen sollen, ob Sie sich selbst infiziert haben könnten. Sie haben die Möglichkeit, sich von der Berliner Aidshilfe e.V. telefonisch oder persönlich beraten zu lassen. Wenn Sie anrufen möchten, können Sie dieses Handy hier kostenfrei nutzen. Die Nummer der anonymen Beratungshotline der Aidshilfe finden Sie hier. Verbindungsdaten werden nicht festgehalten. Wenn Sie die Beratungsstelle der Aidshilfe persönlich aufsuchen möchten, finden Sie deren Anschrift und die Öffnungszeiten hier. Sie können auch auf eine Beratung verzichten. Heute abend treffen wir uns erneut hier und sprechen darüber, wie Sie mit der Situation umgegangen sind. Variante: Wir haben das Handy auf Ihren Namen und Ihre Anschrift registriert; Sie können die SIM-Karte nach dem Experiment mitnehmen. Der Handyanbieter speichert Verbindungsdaten sechs Monate lang. Variablen: Es wird ermittelt, ob die Versuchspersonen Verbindung zu der Beratungsstelle aufnehmen und, wenn ja, auf welchem Wege (Telefon oder persönlich). Die angegebene Adresse ist nicht ganz nahe gelegen, so dass die Versuchsperson einen größeren Aufwand hat, wenn sie sie aufsuchen will. Es wird untersucht, ob sich die Ergebnisse in der Fallvariante signifikant unterscheiden. Szenario 2: Presseinformant Der Versuchsperson wird mitgeteilt: Das Experiment soll das Verhalten potenzieller Presseinformanten erforschen. Wir haben für Sie einen Termin mit Herrn ... vereinbart, Thema ist die Arbeitsweise des Gorleben-Untersuchungsausschusses. Herr ... ist Mitarbeiter von Frau Kotting-Uhl, die für die Grünen im Gorleben-Untersuchungsausschuss des Bundestages sitzt. Der Ausschuss soll klären, warum Gorleben als Standort für das nationale nukleare Endlager ausgewählt wurde. Herr ... hat Zugang zu allen Akten des Untersuchungsausschusses, darf allerdings über geheime Akten unter Strafandrohung nicht sprechen. Sollten Sie von ihm etwas Neues erfahren, können Sie die Informationen einem sehr interessierten Journalisten der Süddeutschen Zeitung zukommen lassen. Herr ... arbeitet schon seit längerem und erfolgreich als investigativer Journalist in Berlin. Als er 2007 Informationen aus dem BND-Untersuchungsausschuss veröffentlichte, zog das sogar ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe zum Geheimnisverrat nach sich. Er recherchiert derzeit in Sachen Gorleben. Sie können ihn persönlich unter dieser Anschrift aufsuchen, ihm schreiben oder ihn unter dieser Nummer anrufen. Wir stellen Ihnen dazu dieses Handy zur Verfügung. Verbindungsdaten werden nicht festgehalten. Heute abend treffen wir uns erneut hier und sprechen darüber, wie Sie mit der Situation umgegangen sind. Variante: Wir haben das Handy auf Ihren Namen und Ihre Anschrift registriert; Sie können die SIM-Karte nach dem Experiment mitnehmen. Der Handyanbieter speichert Verbindungsdaten sechs Monate lang. Verlauf: Der angebliche Mitarbeiter der Abgeordneten fragt die Versuchsperson zunächst, ob sie auch kein Journalist sei. Er lässt dann im Laufe des Gesprächs fallen, es sei der Verdacht aufgekommen, den Ausschlag für die Wahl von Gorleben als Endlagerstandort könne die Bundeswehr gegeben haben. Diese habe den Salzstock im Fall seiner Erschließung offenbar als geeignet angesehen, als dringend benötigtes Depot für chemische Waffen an der deutsch-deutschen Grenze zu dienen. Das müsse aber „unter uns“ bleiben, weil eine Weitergabe der Informationen aus Bundeswehrakten oder auch die Beihilfe dazu strafbar sei. Deswegen würden solche Erkenntnisse auch nicht im öffentlichen Abschlussbericht auftauchen. Variablen: Es wird ermittelt, ob die Versuchspersonen nach der „Enthüllung“ Verbindung zu dem angeblichen Journalisten aufnehmen und, wenn ja, auf welchem Wege (Telefon, Brief oder persönlich). Die angegebene Adresse ist nicht ganz nahe gelegen, so dass die Versuchsperson einen größeren Aufwand hat, wenn sie sie persönlich aufsuchen will. Es wird untersucht, ob sich die Ergebnisse in der Fallvariante signifikant unterscheiden. |