Newsticker
Schlagzeilen, Meldungen und alles Wichtige
Die Nachrichten heute: Newsticker, Schlagzeilen und alles, was heute wichtig ist, im Überblick.
Zum Newsticker
  1. Home
  2. Politik
  3. Deutschland
  4. Gestoppte Datenabfragen: Verbrechen, die nicht aufgeklärt werden können

Deutschland Gestoppte Datenabfragen

Verbrechen, die nicht aufgeklärt werden können

Reporter Investigative Recherche
Datenspeicherung Datenspeicherung
Das Vorratsdaten-Urteil: Die Karlsruher Richter hatten damit die "anlasslose" Speicherung der Daten sämtlicher Nutzer elektronischer Telekommunikationsdienste verboten
Quelle: dpa
Die Vorratsdatenspeicherung wurde gerichtlich gestoppt. WELT ONLINE stellt Fälle vor, die laut BKA deshalb ungelöst bleiben.

Das Bundeskriminalamt (BKA) beklagt in einem Geheimpapier zur gestoppten Vorratsdatenspeicherung, dass es zahlreiche Verbrechen nicht aufklären kann. Darunter sind Morde an einem Polizisten und einem Mitglied der Mafia, angedrohte Sprengstoffanschläge, die Mitgliedschaft in Terrorgruppen und Kinderpornografie im Internet. Der Grund ist laut BKA immer der gleiche: Telefon- und Internetverbindungsdaten der Täter dürfen nicht abgefragt werden.

Union und SPD hatten das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung, das eine EU-Richtlinie umsetzen sollte, in der großen Koalition beschlossen. Durch das Gesetz wurden Telekommunikationsfirmen verpflichtet, ab 2008 die Daten von Telefonverbindungen aller Bundesbürger und ab 2009 auch die Daten von Internetverbindungen ohne Anlass jeweils sechs Monate lang zu speichern. Ziel war zu protokollieren, wer mit wem per Telefon, Handy oder E-Mail in Verbindung gestanden hat.

Für die aktuelle Misere ist vordergründig das am 2. März ergangene Vorratsdaten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts verantwortlich. Die Karlsruher Richter hatten die „anlasslose“ Speicherung der Daten sämtlicher Nutzer elektronischer Telekommunikationsdienste verboten. Die Branche war daraufhin verpflichtet worden, die bislang gesammelten Daten sofort zu löschen.

Streit zwischen Ministerien blockiert Neuregelung

Das Gericht untersagte die sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung aber nicht grundsätzlich; also hätte die Bundesregierung längst eine verfassungskonforme Lösung finden können. Doch seit einem Dreivierteljahr passiert nichts, weil eine Neuregelung durch einen Streit zwischen dem Justiz- und Innenministerium blockiert wird.

Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger steht einer Speicherpflicht skeptisch gegenüber. Die Rechtsanwältin hatte 2007 – damals noch als FDP-Oppositionspolitikerin – selbst Verfassungsklage gegen das entsprechende Gesetz eingereicht. Nun will sie die laufende Überprüfung der Richtlinie durch die EU abwarten.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) macht das Thema dagegen zur eiligen Chefsache. Gemeinsam mit BKA-Experten will er anhand von spektakulären Fällen belegen, dass sich durch den Stopp der Vorratsdatenspeicherung gefährliche Sicherheitslücken entstanden sind.

Innen-Staatssekretär Ole Schröder sagte WELT ONLINE: „Die derzeitige Schutzlücke muss dringend geschlossen und eine neue Regelung gefunden werden. Es geht hier schließlich um die Verfolgung von Straftaten und den Schutz der Bürger. Darüber muss sich auch die FDP im Klaren sein.“ Der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl wirft Leutheusser-Schnarrenberger Verzögerungstaktik und „schuldhaftes Unterlassen“ vor. Der Bundestagsabgeordnete fordert: „Sie muss unverzüglich ihrer europarechtlichen Verpflichtung zu einer Neuregelung nachkommen.“ Sonst sei die Ministerin persönlich für die „eklatanten Sicherheitslücken“ beim Schutz vor schwerster Kriminalität verantwortlich.

Der Vorsitzende der Jungen Liberalen, Lasse Becker, bezeichnete die Vorratsdaten-Initiative von de Maizière als „offene Frechheit“. Er habe gedacht, die Koalition sei inzwischen über den Punkt hinausgekommen, mit öffentlichen Streitereien und Kampagnen gegen den Bündnispartner, Politik zu machen.

Im Haus von de Maizière heißt Leutheusser-Schnarrenberger in Anspielung an einen Bondfilm nur noch „Frau Dr. No“. Die Ministerin hat zwar keinen Doktortitel, sagt aber seit Monaten zu den Gesetzesvorhaben ihres Kabinettskollegen meistens: Nein. Teils müsste sie diese juristisch ausfertigen, teils lediglich mitzeichnen. Erst jüngst lehnte sie schärfere Sicherheitsgesetze zur Terrorabwehr ab, die de Maizière „fachlich“ für geboten hielt.

Die folgenden Fälle konnten laut BKA nicht aufgeklärt werden:

Fall 1: Komplott der Terrororganisation Hamas

Anzeige

Im Zusammenhang mit der Ermordung eines Funktionärs der paramiliärischen Terrororganisation Hamas in Dubai im Januar 2010 lief ein Ermittlungsverfahren gegen einen Beschuldigten in Deutschland wegen des Verdachts geheimdienstlicher Agententätigkeit. Über einen Mobilfunkanschluss wurden Gespräche des Komplotts rückwirkend noch mehrere Monate abgerechnet. Dadurch hätte das BKA Kontaktpersonen identifizieren und Ansätze für weitere Ermittlungen gewinnen können. Da die sechsmonatige Speicherpflicht vom Verfassungsgericht aufgehoben wurde und aktuell keine Telefonate mehr stattfanden, konnten die Ermittler nichts machen.

Fazit des BKA: Aufklärung unmöglich.

Fall 2: Wer verlinkte das Terror-Video?

In einem Internetforum wurde am 12. April 2010 eine Videoverlautbarung einer terroristischen Vereinigung über verschiedene Links zur Verfügung gestellt. Einer davon stammte von einer unbekannten Person, deren E-Mail-Adresse einen Tag zuvor registriert worden war. Das BKA fragte am 20. April bei der Deutschen Telekom Kundendaten zu der IP-Adresse (Computeradresse im Internet) für den Registrierungstag (11. April) ab. Der Konzern teilte daraufhin mit, dass die Speicherfrist von sieben Tagen bereits abgelaufen sei und verwies auf das Verfassungsgerichtsurteil.

Fazit des BKA: Ein möglicher Unterstützer der terroristischen Vereinigung kann somit nicht identifiziert werden.

Fall 3: Terrordrohung gegen Schulen

Ein Unbekannter versendete seit Dezember 2009 über ein Briefzentrum mehr als 100 Briefe, in denen er Sprengstoffanschläge androhte. Adressaten waren Schulen, Universitäten und Bürger. Falls sie eine gewisse Geldsumme nicht zahlten, sollten sie getroffen werden. Der Täter kontaktierte per E-Mail am 22. April eine Geschädigte über deren Profil bei „studiVZ“. Zwar bekam das BKA von dem Netzwerk die IP-Adresse des Absenders und fand den dahinter stehenden Anbieter Vodafone. Doch der teilte mit, dass er wegen des Verfassungsgerichtsurteils solche Daten nicht mehr speichere.

Fazit des BKA: Der Täter konnte daher nicht ermittelt werden.

Fall 4: Tod eines Italieners in Leverkusen

Ein italienischer Staatsbürger wurde am 15. Januar 2010 in Leverkusen ermordet. Als der 43-jährige noch lebte, hatte er sich unangemeldet in Köln aufgehalten. Das BKA erfuhr von italienischen Behörden, dass das Mordopfer der Mafia nahe gestanden haben soll. Dem BKA gelang es, den möglichen Tatort und vier Verdächtige zu ermitteln. Für ein Ermittlungsverfahren wäre laut des BKA jedoch die Auswertung von Telefondaten erforderlich gewesen. Aber einen solchen Antrag lehnte die Staatsanwaltschaft Köln ab, sie verwies auf das Verfassungsgerichtsurteil zu den Vorratsdaten.

Anzeige

Fazit des BKA: Die Aufklärung des Mordes ist zumindest wesentlich erschwert.

Fall 5: Mord an einem Polizisten

In Brandenburg wurde am 23. November 2009 der Mord an dem 46-jährigen Polizeihauptkommissar Steffen M. bekannt. Der oder die Täter flüchteten mit dem Auto des Opfers. Dieses wurde laut BKA abgestellt und eine andere „Beförderungsmöglichkeit“ per Handy angefordert. Am 18. Februar erging beim Amtsgericht Cottbus ein Beschluss, dass die Daten abgefragt werden dürfen. D2 Vodafone teilte dem BKA daraufhin am 9. März 2010 mit, dass für das betreffende Handy am 7. März keine Verkehrsdaten mehr vorliegen würden.

Fazit des BKA: D2 Vodafone hatte im Tatbereich die höchste Netzabdeckung, aber ohne die Mobilfunkdaten ist der Fall unaufklärbar

Fall 6: Hinweise auf Kindesmissbrauch

Das BKA erhielt am 14. Mai 2010 die Meldung über einen Kindesmissbrauch. In einem Internetforum fand sich ein Hinweis vom 6. Mai darüber, dass ein Stiefvater seinen Sohn missbraucht und ihn deswegen sogar teilweise mit Medikamenten ruhig stellt. Der Nutzername war anonym und ausschließlich die IP-Adresse sichtbar. Das BKA forschte noch am 14. Mai nach, bekam aber keine Auskunft. Aus dem Inhalt des Textes konnten keine Hinweise auf die Identität des Nutzers gezogen werden.

Fazit des BKA: Ansatzpunkte für weitere Ermittlungen fehlen.

Fall 7: Angriff auf digitale Identität

Ein Ermittlungsverfahren in Luxemburg ergab nach der Auswertung eines beschlagnahmten Computerservers als Teil eines illegalen Botnetzes, dass dieser zur „Verschleierung der Täterkommunikation“ und zur „Erlangung der digitalen Identität“ von Nutzern diente. Es wurden 218.703 deutsche IP-Adressen, die auf den Server zugriffen, mit „Zeitstempel November 2009“ an das BKA übermittelt. Die Fahnder wollten über die Länderpolizeien die Computerbesitzer in Deutschland informieren. Doch das Auskunftsersuchen wurde weitgehend abgelehnt. Das betraf allein in Nordrhein-Westfalen und Hessen 169.964 IP-Adressen.

Fazit des BKA: Aufklärung unmöglich.

Fall 8: Kontakte einer radikal-islamischen Untergrundorganisation

Das BKA wollte nach Hinweisen von amerikanischen und libanesischen Sicherheitsbehörden Mitglieder der sunnitischen radikal-islamischen Untergrundorganisation Fatah al-Islam in Deutschland aufspüren und identifizieren. Das gelang bei einem Mann, weil er falsche Ausweispapiere hatte und gegen ihn ein libanesischer Haftbefehl vorlag. Nach der Festnahme befindet sich der Mann in Auslieferungshaft. Das BKA konnte aber keine Kontaktpersonen ermitteln. Der Grund: Die Telekommunikationsfirmen gaben Telefon- und Internetverbindungsdaten nicht oder nur unvollständig heraus.

Fazit des BKA: „Somit konnte keine vollständige Aufhellung der Szene erfolgen“.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema