Das Bundesjustizministerium hat dem Bundesverfassungsgericht eine Statistik[1]
vorgelegt, derzufolge von Mai bis Juli 2008 in 934 Strafverfahren
anlasslos gespeicherte Telekommunikationsverbindungs- und
-positionsdaten abgefragt wurden. Die Statistik lässt allerdings nicht
auf einen Bedarf nach solchen Daten schließen, weil
Strafverfolgungsbehörden Vorratsdaten nicht erst anfordern, nachdem der
Zugriff auf ohnehin gespeicherte Abrechnungsdaten erfolglos geblieben
ist, und weil die Erheblichkeit der Vorratsdaten für den
Verfahrensausgang nicht erfasst worden ist. Aussagekräftig ist einzig
die im Februar 2008 vorgelegte Untersuchung des unabhängigen
Max-Planck-Instituts, der zufolge den Strafverfolgern nur in 0,01%
aller Verfahren Verbindungsdaten fehlen.[2]
Nachdem über 34.000 Bürgerinnen und Bürger im August bei dem
Bundesverfassungsgericht beantragt haben, die zum Jahresbeginn
eingeführte Vorratsdatenspeicherung auszusetzen,[3]
haben staatliche Stellen mehrfach Werbung für die umstrittene
Protokollierung des Telekommunikations-, Bewegungs- und
Internetnutzungsverhaltens der gesamten Bevölkerung verbreitet: Das
bayerische Landeskriminalamt[4], die Fernsehsendung Report München[5] und nun das Bundesjustizministerium.
Zu den Vorwürfen, ohne Vorratsdatenspeicherung sei die
Aufklärung von Straftaten gefährdet, erklärt der Arbeitskreis
Vorratsdatenspeicherung:
- Nützlichkeit ist nicht gleich Sicherheit. Mehr Daten mögen in
Einzelfällen nützlich sein. Im Ergebnis ist in Staaten mit
Vorratsdatenspeicherung (z.B. Irland) jedoch keine geringere
Kriminalitätsrate zu verzeichnen als in Deutschland. Insgesamt gesehen
gibt es mit Vorratsdatenspeicherung nicht weniger Kindesmissbrauch,
Vergewaltigungen, Körperverletzungen oder sonstige Straftaten als ohne
Vorratsdatenspeicherung.
- Aufklärung ist nicht gleich Schutz. Es ist nicht nachweisbar,
dass eine erleichterte Aufklärung von Straftaten irgend einen Einfluss
auf die Kriminalitätsrate hat.
- Arbeitserleichterung ist nicht gleich Erforderlichkeit.
Weltweit werden Straftaten auch ohne Vorratsdatenspeicherung
erfolgreich aufgeklärt, gerade im Internet: Laut Bundeskriminalamt
wurden 2007 ohne Vorratsdatenspeicherung 84,4% aller registrierten
Internetdelikte einschließlich der Verbreitung von Kinderpornografie
erfolgreich aufgeklärt – von den sonstigen Straftaten nur 55%.[6]
- Einzelfallbetrachtung ist nicht gleich Verhältnismäßigkeit.
Aus einer Studie des Max-Planck-Instituts ergibt sich, dass die
Vorratsdatenspeicherung im besten Fall bei 0,01% aller Straftaten von
Nutzen sein kann[7] – zu 99,99% wird sinnlos aufgezeichnet.
- Massenverfolgung ist nicht gleich Effizienz. Mithilfe von
Telekommunikationsdaten werden hauptsächlich Betrügereien und
Tauschbörsennutzer ermittelt.[8]
Diese massenhafte Verfolgung von Kleinkriminalität kostet die Polizei
Ressourcen, die bei der Ermittlung schwerer Straftäter und der
Hintermänner fehlen. In den letzten Jahren sind bei der Polizei 17.000
Stellen gestrichen worden.[9]
- Betriebsblindheit ist nicht gleich Klugheit. In ihrer Jagd auf
0,01% der Straftäter verlieren die Befürworter der
Vorratsdatenspeicherung aus den Augen, dass eine unprotokollierte
Kommunikation Leben, Gesundheit und Freiheit von weit mehr Unschuldigen
schützt, etwa wo Beratungsstellen gewalttätige Familienväter oder
Pädophile überzeugen können, sich einer Therapie zu unterziehen. Im
Jahr 2007 konnte beispielsweise ein bei der Telefonseelsorge tätiger
Pfarrer einen Jugendlichen überzeugen, einen geplanten Amoklauf zu
unterlassen. Wäre der Anruf rückverfolgbar gewesen, hätte der
Jugendliche wohl nie über sein Vorhaben gesprochen. Einer Forsa-Umfrage
vom Juni 2008 zufolge hält die Vorratsdatenspeicherung gegenwärtig
jeden zweiten Deutschen davon ab, sich telefonisch beraten zu lassen.[10]
- Telekommunikation ist nicht gleich Straftat. Telefon, Handy
und Internet werden zu 99,9% vollkommen legal eingesetzt. Gespräche
müssen am Telefon ebenso wenig registriert werden wie sonstige
Gespräche. Briefe müssen im Internet ebenso wenig registriert werden
wie sonstige Briefe. Bewegungen müssen mit einem Handy ebenso wenig
registriert werden wie sonstige Bewegungen.
- Gefährdung ist nicht gleich Kriminalität. Was Straftaten
anbelangt, ist Deutschland eines der sichersten Länder der Welt. Tod,
Krankheit oder Behinderung beruhen bei uns nur zu 0,2% auf Gewalt und
Straftaten.[11]
Dagegen kosten Tabak, Alkohol, Cholesterin, Übergewicht,
Fehlernäherung, Bewegungsmangel, Suizid, Stürze und der Straßenverkehr
ein Vielfaches an Menschenleben – obwohl sie sehr viel leichter zu
reduzieren wären.
- Überwachung ist nicht gleich Sicherheit. Umgekehrt
ermöglichen Datenhalden erst Missbrauch wie bei der Deutschen Telekom
AG und Betrug wie im Fall der Bankdaten. Nur nicht gespeicherte Daten
sind sichere Daten. Die Vorratsdatenspeicherung stellt diese Erkenntnis
auf den Kopf.
- Freiheit ist nicht gleich Unsicherheit. Es ist kein Zufall,
dass wir in Deutschland mit vergleichsweise wenig Überwachung und
starkem Grundrechtsschutz sicherer leben als Kontrollstaaten wie
Großbritannien oder die USA. Sicherheit braucht in erster Linie
Vertrauen und Achtung vor dem Recht – auch vor den Grundrechten. Die
verdachtslose Vorratsdatenspeicherung erklärt dagegen erstmals die
gesamte deutsche Bevölkerung zu potenziellen Straftätern und bricht
damit unsere im Grundgesetz verbürgten Rechte.
"Wenn Politiker wie Wolfgang Schäuble oder Dieter Wiefelspütz uns
aus Anlass der jüngsten Datenskandale weismachen wollen, nur im
privaten Bereich bestünde ein Problem, nimmt ihnen das doch niemand
mehr ab", kommentiert Ralf Bendrath vom Arbeitskreis
Vorratsdatenspeicherung. "Die Bevölkerung hat bereits länger die Nase
voll von immer mehr Überwachung durch den Staat, und dass die Daten
dort keineswegs sicher sind, zeigen alleine im letzten Jahr die
China-Trojaner in der Bundesregierung, die Datenlecks bei den
Meldebehörden oder der Verkauf von Daten durch Mitarbeiter des
Bundeskriminalamts.[12]
Analog zum Vorschlag des Datenhandel-Verbotes von Michael Glos fordern
wir daher einen sofortigen Stopp der unkontrollierten Datenweitergabe
zwischen Behörden oder an ausländische Geheimdienste."
"Um Medien und Politik gleichermaßen auf die Gefährdung der
demokratischen Ordnung durch Massenüberwachung hinzuweisen, haben wir
einen weltweiten Aktionstag mit friedlichen und kreativen Protesten in
über 20 Ländern initiiert", ergänzt Ricardo Cristof Remmert-Fontes vom
Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. Der Aktionstag findet am 11.
Oktober 2008 statt, in Berlin ist eine große Demonstration geplant.[13]
"Freiheitsrechte müssen - auch bei uns in Deutschland! - jeden
Tag neu verteidigt werden", bekräftigt padeluun vom Arbeitskreis
Vorratsdatenspeicherung.
Fußnoten:
- http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/Bundesregierung_Schreiben_2008-08-22_1-BvR-256-08.pdf
- http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/schriftsatz_2008-03-17.pdf, S. 2
- http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/246/79/
- http://www.polizei.bayern.de/news/presse/aktuell/index.html/76145
- http://www.br-online.de/daserste/report/archiv/2008/00500/
- http://www.bka.de/pks/pks2007/download/pks-jb_2007_bka.pdf, S. 243
- http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/schriftsatz_2008-03-17.pdf, S. 2
- http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/images/Verfassungsbeschwerde_Vorratsdatenspeicherung.pdf, S. 36
- http://www.gdp.de/gdp/gdpcms.nsf/id/p70606?Open&ccm=500020000&L=DE&markedcolor=%23003399
- http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/228/79/
- http://www.daten-speicherung.de/?p=57
- http://www.sueddeutsche.de/,tt2m4/deutschland/artikel/112/109003/
- http://www.freiheitstattangst.de/
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