Bei dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ist letzte Woche ein
Antrag auf einstweilige Aussetzung des Gesetzes zur Vorratsspeicherung
aller Verbindungs-, Standort- und Internetzugangsdaten in Deutschland
eingereicht worden. Der Berliner Rechtsanwalt Meinhard Starostik stellt
den Antrag im Namen von über 34.000 Bürgerinnen und Bürgern, die gegen
das Gesetz Verfassungsbeschwerde erhoben haben.[1]
Nachdem ein ähnlicher Antrag im März lediglich dazu führte, dass das
Bundesverfassungsgericht die Herausgabe auf Vorrat gespeicherter
Verbindungsdaten auf schwere Straftaten beschränkte[2],
rechnen sich die Beschwerdeführer diesmal gute Chancen auf eine
Aussetzung der Datenspeicherung selbst aus. Als erstes Argument bezieht
sich der Antrag auf eine zwischenzeitlich durchgeführte Forsa-Umfrage[3],
derzufolge die Vorratsdatenspeicherung jeden zweiten Bürger davon
abhält, in sensiblen Angelegenheiten telefonische Beratung in Anspruch
zu nehmen. Zweitens habe auch der Missbrauch von Verbindungsdaten durch
die Deutsche Telekom AG[4]
gezeigt, dass die schädlichen Auswirkungen der Vorratsdatenspeicherung
durch bloße Nutzungsbeschränkungen nicht in den Griff zu bekommen
seien. "Nur nicht gespeicherte Daten sind sichere Daten", so der Antrag wörtlich. Besonders dringlich sei die Aussetzung der ab 2009 für das
Internet vorgesehenen Vorratsspeicherung, weil die Vielzahl der
Anbieter von Internetdiensten besondere Risiken für die Sicherheit der
Daten schaffe. Zumindest müsse die präventive Datennutzung durch
Polizei und Geheimdienste, die Bayern im Juli 2008 erstmals eingeführt
habe, gestoppt werden. Auch sei widersprüchlich, dass Internetnutzer
nach der Einstweiligen Anordnung vom März 2008 schon bei dem Verdacht
von Bagatellvergehen wie Tauschbörsennutzung oder eBay-Betrug mithilfe
von Vorratsdaten identifiziert werden dürften, eine Herausgabe der
Vorratsdaten etwa im Telefonbereich aber nur zur Verfolgung schwerer
Straftaten zugelassen sei.
"Internetanbietern ist dringend davon abzuraten, in die ab 2009
vorgesehene Vorratsdatenspeicherung zu investieren, solange das
Bundesverfassungsgericht nicht über unseren aktuellen Aussetzungsantrag
entschieden hat", erklärt der Jurist Patrick Breyer, einer der
Erstbeschwerdeführer gegen die 2007 von CDU, CSU und SPD beschlossenen
Vorratsdatenspeicherung. "Wer ohne zwingenden Grund die Kommunikation
seiner Kunden mitprotokolliert, muss mit empfindlichen
Kundenabwanderungen rechnen." Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung
sammelt Informationen über die Speicherpraxis der einzelnen Anbieter im
Internet.[5]
Da die Einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom
11. März 2008 nach sechs Monaten ausläuft, ist bis 11. September mit
einer Entscheidung über den neuen Antrag zu rechnen. Der Schriftsatz an das Bundesverfassungsgericht ist im Internet abrufbar.
Es folgt die Zusammenfassung der Begründung des Aussetzungsantrags im Wortlaut:
- Aufgrund zwischenzeitlich gewonnener Erkenntnisse hat sich die
Annahme der letzten Anordnung als unzutreffend heraus gestellt, die
anlasslose Erfassung des Kommunikations-, Bewegungs- und
Informationsverhaltens ziehe noch keine irreparablen Beeinträchtigungen
nach sich. Vielmehr hat sich gerade in Vertrauensverhältnissen eine
starke abschreckende Wirkung der Vorratsdatenspeicherung herausgestellt
mit irreparablen Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft
insgesamt.
- Durch die missbräuchliche Auswertung großer Mengen an
Verbindungs- und Standortdaten bei der Deutschen Telekom AG hat sich
auch die Annahme der letzten Anordnung als unzutreffend heraus
gestellt, eine Beschränkung der staatlichen Zugriffsrechte könne
einstweilen vor irreparablen Nachteilen infolge der
Vorratsdatenspeicherung schützen. Eine bloße Beschränkung der
staatlichen Zugriffsrechte lässt die Bürger vielmehr ungeschützt vor
Missbrauch und Pannen bei Unternehmen und ihren Mitarbeitern, bei
staatlichen Stellen und ihren Mitarbeitern sowie bei Dritten.
- Die neuerliche Statistik der Bundesregierung[6]
lässt nicht auf einen Bedarf nach Vorratsdaten schließen, weil
Strafverfolgungsbehörden Vorratsdaten nicht erst anfordern, nachdem der
Zugriff auf ohnehin gespeicherte Abrechnungsdaten erfolglos geblieben
ist, und weil das Ergebnis der Anforderung von Vorratsdaten nicht
statistisch erfasst wird. Aussagekräftig ist einzig die Untersuchung
des Max-Planck-Instituts, der zufolge 99,99% der registrierten
Straftaten auch ohne Vorratsdatenspeicherung aufgeklärt werden können.
- Besonders dringlich ist die Aussetzung der
Vorratsdatenspeicherung im Internetbereich (Internetzugang, E-Mail,
Internet-Telefonie, Anonymisierungsdienste), wo sie am 01.01.2009
zwingend und bußgeldbewehrt in Kraft treten soll. Im Gegensatz zur
bisher betroffenen Festnetz- und Mobilfunktelefonie kommt dem Internet
eine Korrespondenz- und Informationsfunktion zu, die bisher frei von
Protokollierung in Anspruch genommen werden konnte. Die wenigen großen
Festnetz- und Mobilfunkunternehmen haben schon früher Abrechnungsdaten
gespeichert, während im Internetbereich nun tausende auch kleiner und
nichtkommerzieller Anbieter erstmals große Datenmengen erfassen sollen.
Dies würde einerseits einen Großteil der kleinen Anbieter zur Aufgabe
ihrer Tätigkeit zwingen, andererseits aber auch besondere Risiken für
die Vertraulichkeit der Daten schaffen. Im Internetbereich bestehen
zudem keine zwingenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, die einer
einstweiligen Aussetzung für die Dauer von sechs Monaten entgegen
stünden.
- Falls trotz allem von einer Aussetzung der
Vorratsdatenspeicherung abgesehen wird, ist eine Einschränkung der
staatlichen Zugriffsrechte zur Gefahrenabwehr, zur
nachrichtendienstlichen Beobachtung und zur Identifizierung von
Internetnutzern erforderlich. Im letztgenannten, praktisch
bedeutsamsten Bereich der Nutzung von Vorratsdaten hat die letzte
Anordnung ihr Ziel nicht erreicht, die Verwendung von Vorratsdaten
einstweilen auf die Verfolgung von Straftaten nach § 100a StPO zu
beschränken.
Fußnoten:
- http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/202/79/
- Beschluss vom 11. März 2008, http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20080311_1bvr025608.html
- http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/forsa_2008-06-03.pdf
- http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/artikel/981/176448/
- http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/Provider
- Anmerkung: Diese Statistik wird zum 1. September vorgelegt und ist gegenwärtig noch nicht verfügbar.
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