Zwei Wochen vor der großen Demonstration „Freiheit statt Angst – Stoppt
den Überwachungswahn!“ in Berlin legt der Arbeitskreis
Vorratsdatenspeicherung Zahlen vor, denen zufolge der Deutsche
Bundestag in den letzten 10 Jahren mindestens 21 mal die Kontrolle und
Beobachtung der Menschen verschärft hat. Dagegen hat das
Bundesverfassungsgericht mindestens 12 mal Überwachungsgesetze oder
-maßnahmen als verfassungswidrig aufgehoben. Das aber hindert die
Bundesregierung nicht daran, ihren Kurs unbeirrt fortzusetzen: Momentan
stehen mindestens 18 weitere Verschärfungen der staatlichen
Bürgerüberwachung auf der Agenda.
Vor dem Hintergrund dieser Überwachungslawine ruft der Arbeitskreis
Vorratsdatenspeicherung alle Menschen auf, am Samstag, den 11. Oktober
in Berlin gemeinsam für „Freiheit statt Angst“ auf die Straße zu gehen
und eine 180-Grad-Wende der gegenwärtigen Überwachungspolitik zu
verlangen (www.freiheitstattangst.de). Statt Überwachungswahn und zweifelhafte
Sicherheitsversprechen setzen wir uns für mehr Freiheit von staatlicher
Kontrolle und Bespitzelung ein. Die
Demonstration in Berlin ist der deutsche Beitrag zum weltweiten
Aktionstag „Freedom not Fear“ am 11. Oktober 2008, an dem erstmals in über 20
Staaten weltweit Proteste gegen die exzessive Überwachung und
Informationsansammlung stattfinden werden.[1]
Der deutsche Aufruf zur Demonstration wird inzwischen von über 90
Organisationen aus den verschiedensten Teilen der Gesellschaft
unterstützt,
darunter auch Berufsverbänden wie dem Deutschen Anwaltsverein und
Gewerkschaften wie dem DGB.[2] Busse zur Demonstration können
aus 100 deutschen Städten gebucht werden (www.demo-bus.de). In einem heute veröffentlichten musikalischen Aufruf zur Demonstration[3]
wird die Vielzahl bereits angewandter Überwachungs- und
Kontrollmaßnahmen aufgezählt, darunter Vorratsdatenspeicherung,
Postkontrolle und Geruchsprobenentnahme. Die Bundeskanzlerin hört man
erklären, weshalb es keine vor staatlichem Zugriff geschützten Räume
geben dürfe, während der Bundesinnenminister beteuert: „Wir tun aber
die Leute nicht überwachen und ausspionieren.“ Dem entgegen gehalten
werden Forderungen nach einer kritischen Prüfung aller
Sicherheitsgesetze und einer „neuen Bürgerrechtsbewegung“ als dem
„besten Verfassungsschutz“. Fußnoten:
- http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/242/144/lang,en/
- http://www.freiheitstattangst.de
- http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/258/79/#song
Anlagen: 1. Überwachungsgesetze der letzten 10 Jahre 2. Gesetzesvorhaben zur weiteren Kontrollverschärfung 3. Vom Verfassungsgericht verworfene Überwachungsgesetze und -maßnahmen 4. Unsere Forderungen
Anlage 1: Überwachungsgesetze der letzten 10 Jahre
Im Einzelnen hat der Deutsche Bundestag in den letzten 10 Jahren mindestens die folgenden Überwachungsgesetze beschlossen:
- Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom 23. November
2001 über Computerkriminalität (Cybercrime-Convention) vom 20.06.2008:
Übermittlung von Verbindungs- und Standortdaten an 52 ausländische
Staaten einschließlich Azerbaijan, Russland und die USA
- Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des
geistigen Eigentums vom 11.04.2008: Auskunftanspruch Privater zur
Ermittlung von Rechtsverletzern (z.B. Ermittlung von
Tauschbörsennutzern über deren Internetprovider)
- Gesetz zur Änderung seeverkehrsrechtlicher,
verkehrsrechtlicher und anderer Vorschriften mit Bezug zum Seerecht vom
24.01.2008: Staatliche Erfassung der an Bord von Schiffen und Fähren
befindlichen Personen (Fahrgäste, mitreisende Familienmitglieder,
Besatzungsmitglieder)
- Drittes Gesetz zur Änderung des Bundespolizeigesetzes vom
15.11.2007: Übermittlung von Passagierdaten bei Flügen aus Drittstaaten
an Bundespolizei, Verlängerung der Speicherdauer von
Videoaufzeichnungen auf Flughäfen und Bahnhöfen von 48 Stunden auf 30
Tage
- Gesetz zu dem Abkommen vom 26. Juli 2007 zwischen der
Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über die
Verarbeitung von Fluggastdatensätzen (Passenger Name Records – PNR) und
deren Übermittlung durch die Fluggesellschaften an das United States
Department of Homeland Security (DHS) (PNR-Abkommen 2007) vom
15.11.2007: Fluggastdatenübermittlung in die USA und dortige
Vorratsspeicherung und Datenweitergabe
- Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und
anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der
Richtlinie 2006/24/EG (Vorratsdatenspeicherung) vom 09.11.2007:
Erweiterte verdeckte Ermittlungsmaßnahmen gegen mutmaßliche Straftäter,
sechsmonatige Speicherung aller Verbindungsdaten
- Jahressteuergesetz 2008 vom 08.11.2007: Zentrale
Steuerdatei mit Steuer-Identifikationsnummer, Religionszugehörigkeit,
Ehepartner/Ehepartnerinnen/Kinder und Steuerklassen für die gesamte
Bevölkerung
- Gesetz zur Änderung des Passgesetzes und weiterer
Vorschriften vom 24.05.2007: Speicherung biometrischer Daten wie
Lichtbild und Fingerabdrücke in RFID-Funkchips in Pässen, Zulassung
eines Online-Abrufs gespeicherter Lichtbilder durch Polizei- und
Bußgeldbehörden bei Straßenverkehrsordnungswidrigkeiten
- Gesetz zur Vereinheitlichung von Vorschriften über bestimmte
elektronische Informations- und Kommunikationsdienste (Elektronischer-
Geschäftsverkehr- Vereinheitlichungsgesetz – ElGVG) vom 18.01.2007:
Internet-Diensteanbieter dürfen Daten an Sicherheitsbehörden und
private Rechteinhaber weitergeben
- Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz vom 01.12.2006:
Verlängerung des befristeten Gesetzes, erweiterte Auskunftsbefugnisse
für BfV, MAD und BND
- Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von
Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder
(Gemeinsame-Dateien-Gesetz) vom 01.12.2006: Gemeinsame Datei aller
Sicherheitsbehörden (sog. „Anti-Terror-Datei“)
- Gesetz zu dem Vertrag vom 27. Mai 2005 über die Vertiefung
der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung
des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der
illegalen Migration vom 19.05.2006: Prümer Vertrag. Einführung eines
Informationsaustauschs zwischen europäischen Polizeien
- Gesetz zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 3. März 2004 (akustische Wohnraumüberwachung) vom 12.05.2005
- Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheitsaufgaben vom
18.06.2004: Einsatz der Bundeswehr im Landesinnern, Befugnis zum
Abschuss von (Passagier-)Flugzeugen (später vom Verfassungsgericht
gekippt), Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Piloten
- Steueränderungsgesetz 2003 vom 07.11.2003: Zentrale
Steuer-Identifikationsnummer für jede Person ab der Geburt,
elektronische Übermittlung von Lohnsteuerbescheinigungen an die
Finanzverwaltung
- Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit vom 17.10.2003:
Finanzbehörden können im automatisierten Abrufverfahren Konten und
Depots ermitteln
- Viertes Finanzmarktförderungsgesetz vom 21.06.2002: Online-Abfrage auf Konten und Depots zur Terrorismusbekämpfung
- Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche und der
Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus
(Geldwäschebekämpfungsgesetz) vom 13.06.2002: Verpflichtung aller
Finanzinstitute und weiterer Berufsgruppen zur Erstattung von
Verdachtsanzeigen
- Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung vom 06.07.2001: § 100i StPO. IMSI-Catcher
- Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus
(Terrorismusbekämpfungsgesetz) vom 14.12.2001: „Sicherheitspaket II“:
biometrische Merkmale in Pässen und Personalausweisen, erweiterte
Kompetenzen für Sicherheitsbehörden, Erweiterung des Datenaustausches,
Identitätsfeststellung im Visumverfahren, verschärfte Grenzkontrolle,
verstärkte Überprüfung sicherheitsempfindlicher Tätigkeiten,
Beschränkungen für extremistische Ausländervereine, Rasterfahndung,
Schusswaffengebrauch in zivilen Luftfahrzeugen
- Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 13) vom 16.01.1998: Einführung des Großen Lauschangriffs (Abhören von Wohnungen)
Anlage 2: Gesetzesvorhaben zur weiteren Kontrollverschärfung
Mindestens die folgenden Gesetzesvorhaben mit weiteren
Verschärfungen staatlicher Kontrolle und Beobachtung stehen auf der
politischen Agenda:
- EU-Regierungen: Aufzeichnung sämtlicher Flugreisen
einschließlich Wohnadresse, Telefonnummer, E-Mail-Adresse,
Zahlungsdaten mit Kreditkartennummer, Reiseverlauf, Essen
und alle zu einer Mietwagen- oder Hotelbuchung
- EU: Visa Informations-System (VIS) mit Vorratsspeicherung von biometrischen Fotos und Fingerabdrücken von Besuchern
- EU-Regierungen: Ausbau von Europol über Bekämpfung
organisierter Kriminalität hinaus, Sammlung der Daten privater Stellen,
automatischer massenhafter Austausch von Daten zwischen Europol und
nationalen Behörden
- EU-Regierungen: Abkommen zur Übermittlung persönlicher
Informationen (z.B. Bankdaten, Reisedaten, Internet-Nutzungsdaten) von
Europäern an US-amerikanische Sicherheitsbehörden
- EU-Regierungen: Einreise nur bei Abgabe der Fingerabdrücke und Irisscan
- EU-Regierungen: Sicherheitsprogramm 2010-2014 mit „optimalem
Datenfluss“ zwischen den Sicherheitsbehörden, mehr Videoüberwachung,
systematischer Überwachung von Finanztransaktionen, Massendatenanalyse,
Überwachung des Internet, optimalen Überwachungsverfahren,
Datenauslieferung an Interpol und die USA, weiter verstärkter
Finanzierung des Sicherheitskomplexes
- Bund: Exekutive Befugnisse für Bundeskriminalamt einschließlich Computer-Überwachung, Videokameras in Wohnungen (BKA-Gesetz)
- Bund: Online-Zugriff der USA auf deutsche Fingerabdruck- und DNA-Daten
- Bund: Obligatorischer Ausländer-Ausweis, Sammlung der Fingerabdrücke aller Nichtdeutschen
- Bund: Biometrischer und elektronischer Personalausweis
- Bund: Zentrale Steuerdatenbank mit allen Einkommensdaten
- Bund: Geheimdienstliche Videoüberwachung von Wohnungen
- Bund: Einladerdatei und Visa-Warndatei
- Bund: Einführung eines zentralen Melderegisters und
Erweiterung um Geschlecht, Religionszugehörigkeit, Familienstand,
lebenslange Steueridentifikationsnummer, Pass- und Ausweisdaten,
E-Mail-Adresse, Hochzeitstag- und Ort, gesetzliche Vertreter, Todestag,
Ehegatten, Kinder, Steuerklasse, Name und Anschrift des Vermieters,
Wahlberechtigung, Wehrdiensterfassung
- Länder: verschärfte Polizeigesetze (Videoüberwachung,
Telefonüberwachung, Kfz-Massenabgleich, verdeckte Computerdurchsuchung,
geheimes Betreten von Wohnungen)
- Länder: verschärfte Versammlungsgesetze (Kontrolle der Organisatoren von Demonstrationen, Videoüberwachung von Demonstrationen)
- Länder: zentrale Schüler-Datenerfassung mit lebenslanger
Nummer für alle Schüler und Lehrer und Vorratsspeicherung der
Prüfungsergebnisse
Anlage 3: Vom Verfassungsgericht verworfene Überwachungsgesetze und -maßnahmen
Die folgenden staatlichen Überwachungsgesetze und -maßnahmen
sind vom Bundesverfassungsgericht in den letzten 10 Jahren als Verstoß
gegen unsere Grundrechte verworfen worden:
- Akustische Wohnraumüberwachung / Großer Lauschangriff (2004):
Verfassungswidrig, denn im Kernbereich privater Lebensgestaltung darf
nicht abgehört werden.
- Außenwirtschaftsgesetz (2004): Verfassungswidrig, weil
unklar ist, in welchen Fällen der Zoll Telefone überwachen und Post
öffnen darf.
- Präventive Telekommunikationsüberwachung in Niedersachsen
(2005): Verfassungswidrig, weil das Gesetz unklar war und
unverhältnismäßig weit ging.
- Rasterfahndung in Nordrhein-Westfalen (2006):
Verfassungswidrig, weil keine konkreten Anhaltspunkte für einen
bevorstehenden Anschlag vorlagen.
- Europäischer Haftbefehl (2006): Verfassungswidrig, weil kein ausreichender Schutz vor Auslieferung.
- Luftsicherheitsgesetz (2006): Verfassungswidrig, weil die
Tötung unschuldiger Passagiere gekaperter Flugzeuge mit der Würde des
Menschen unvereinbar ist
- Städtische Videoüberwachung (2007): Verfassungswidrig, weil ohne gesetzliche Ermächtigung vorgenommen
- Durchsuchung und Beschlagnahme bei CICERO (2007): Verfassungswidrig, weil Pressefreiheit und Informantenschutz verletzt
- Automatisierter Kontenabruf (2007): Verfassungswidrig, weil zugriffsberechtigte Behörden nicht festgelegt
- Telefonüberwachung eines Anwalts (2007): Verfassungswidrig, weil unverhältnismäßig
- Online-Durchsuchung durch den Verfassungsschutz in
Nordrhein-Westfalen (2008): Verfassungswidrig, weil nicht auf besondere
Gefahr in Ausnahmesituationen beschränkt.
- Massenscanning von Kfz-Kennzeichen in Hessen und
Schleswig-Holstein (2008): Verfassungswidrig, weil ohne besonderen
Anlass zugelassen.
Anlage 4: Unsere Forderungen
Mit unserer Demonstration fordern wir:
1. Überwachung abbauen
- Keine pauschale Registrierung aller Flugreisenden (PNR-Daten)
- Kein Informationsaustausch mit den USA und anderen Staaten ohne wirksamen Datenschutz
- Keine geheime Durchsuchung von Privatcomputern, weder online noch offline
- Keine pauschale Überwachung und Filterung von Internet-Kommunikation (geplantes EU-Telekom-Paket)
- Keine Finanzierung der Entwicklung neuer Überwachungstechniken
- Abschaffung der flächendeckenden Protokollierung der Kommunikation und unserer Standorte (Vorratsdatenspeicherung)
- Abschaffung der flächendeckenden Erhebung biometrischer Daten, sowie von RFID-Ausweisdokumenten
- Abschaffung der flächendeckenden Sammlung genetischer Daten
- Abschaffung von Video-Überwachung und automatischer Verhaltenserkennungssysteme
2. Evaluierung der bestehenden Überwachungsbefugnisse
Wir fordern eine unabhängige Überprüfung aller bestehenden
Überwachungsbefugnisse im Hinblick auf ihre Wirksamkeit und schädliche
Nebenwirkungen.
3. Moratorium für neue Überwachungsbefugnisse
Nach der inneren Aufrüstung der letzten Jahre fordern wir einen
sofortigen Stopp neuer Gesetzesvorhaben auf dem Gebiet der inneren
Sicherheit, wenn sie mit weiteren Grundrechtseingriffen verbunden sind.
4. Gewährleistung der Meinungsfreiheit und des freien Meinungs- und Informationsaustauschs über das Internet
- Verbot der Installation von Filtern in die Infrastruktur des Internet.
- Entfernung von Internet-Inhalten nur auf Anordnung unabhängiger und unparteiischer Richter.
- Einführung eines uneingeschränkten Zitierrechts für
Multimedia-Inhalte, das heute unverzichtbar für die öffentliche Debatte
in Demokratien ist.
- Schutz von Plattformen zur freien Meinungsäußerung im
Internet (partizipatorische Websites, Foren, Kommentare in Blogs), die
heute durch unzureichende Gesetze bedroht sind, welche Selbstzensur
begünstigen (abschreckende Wirkung).
Song „Überwachen und Ausspioniern“ von Bundestag United
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