+++ Arbeitskreis liefert Fakten zur Sicherheitsdebatte +++
In Anbetracht der von konservativen Innenpolitikern und
Polizeifunktionären geschürten Ängste, ohne Vorratsdatenspeicherung sei
die Sicherheit in Deutschland gefährdet, veröffentlicht der
Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung eine Reihe von Zahlen und Fakten,
aus denen sich das Gegenteil ergibt: "Wie unsere Nachbarländer
Österreich und Belgien zeigen, ist die Sicherheit auch ohne
Vorratsdatenspeicherung gewährleistet - oder wollen die Befürworter
behaupten, Österreich sei ein Hort des Terrorismus?", fragt Werner
Hülsmann von der Deutschen Vereinigung für Datenschutz. "Die Angstmache
und Drohung mit einer 'Sicherheitslücke' oder einem 'Rückzugsgebiet für
Kriminelle' ist hahnebüchen. Laut Kriminalstatistik konnte in
Deutschland auch ohne Vorratsdatenspeicherung fast 80% der
Internetkriminalität aufgeklärt werden. Dass sich diese
Aufklärungsquote nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung erhöht
hätte, ist nicht ersichtlich. Umgekehrt gefährdet die
Vorratsdatenspeicherung unsere Sicherheit, weil sie die Polizei mit
Ermittlungen wegen Internetbetrügereien und Tauschbörsennutzung
verstopft und dadurch Ressourcen von der gezielten Aufklärung schwerer
Straftaten abzieht."
"Wem es wirklich darum geht, die Sicherheit zu stärken, der würde
gezielte Projekte zur Kriminalprävention an Schulen, in Stadtteilen, in
Gefängnissen fördern, wo Menschen kriminell werden können", erklärt
Patrick Breyer vom Arbeitskreis. "Unsere Innenpolitiker tun das
Gegenteil: Sie investieren Millionen von Euro in die Vorratsspeicherung
der Daten Unschuldiger, in Überwachungstechnik, in biometrische Pässe,
in Videoüberwachung - und kürzen gleichzeitig seit Jahren die Mittel
für gezielte Präventionsarbeit, und es gibt immer weniger Polizisten –
das ist doch keine Sicherheitspolitik!"
Unterdessen kündigte die EU-Innenkommissarin an: "Ich will die
Direktive bis Ende des Jahres evaluieren lassen. Da werden wir uns
nicht nur ansehen, ob sie angemessen und effektiv ist und wie hoch die
Kosten sind. Sondern auch, ob sie mit der Grundrechtecharta des
Lissabon-Vertrags vereinbar ist."[1]
Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung wird auf EU-Ebene für die Abschaffung der exzessiven Pflicht zur Totaldatenspeicherung eintreten.
Florian Altherr vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung
fordert daher auch die Bundesregierung zum Widerstand auf europäischer
Ebene auf: "Die Bundesregierung muss sich jetzt dafür einsetzen, dass
die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung endlich zurückgenommen
wird. Es gibt keinen europäischen Konsens mehr für eine pauschale,
anlasslose Überwachung aller 500 Millionen EU-Bürger. Die
Verfassungsgerichte mehrerer Länder haben nun deutliche Signale an die
Politik gesendet, dass die Grenzen der Freiheitseinschränkungen
überschritten sind. Die Bundesregierung muss sich innerhalb der EU nun
für eine neue, freiheitsfreundliche Sicherheitspolitik stark machen.
Von einer erneuten Einführung einer Vorratsdatenspeicherung muss nach
dem Paukenschlag von Karlsruhe dringend abgesehen werden."
Zahlen und Fakten zur gekippten Vorratsdatenspeicherung:
- Nützlichkeit ist nicht gleich Sicherheit. Mehr Daten mögen in
Einzelfällen nützlich sein. Im Ergebnis ist in Staaten mit
Vorratsdatenspeicherung jedoch keine geringere Kriminalitätsrate zu
verzeichnen als in Staaten ohne Vorratsdatenspeicherung. Insgesamt gesehen gibt es
mit Vorratsdatenspeicherung nicht weniger Kindesmissbrauch,
Vergewaltigungen, Körperverletzungen oder sonstige Straftaten als ohne
Vorratsdatenspeicherung.
- Aufklärung ist nicht gleich Schutz. Es ist nicht nachweisbar,
dass eine erleichterte Aufklärung von Straftaten irgend einen Einfluss
auf die Kriminalitätsrate hat.
- Arbeitserleichterung ist nicht gleich Erforderlichkeit.
Weltweit werden Straftaten auch ohne Vorratsdatenspeicherung
erfolgreich aufgeklärt, gerade im Internet. Außer in Deutschland werden auch in Belgien, Griechenland, Österreich, Schweden und Rumänien Straftaten erfolgreich ohne Vorratsdatenspeicherung verfolgt, ebenso etwa in Kanada und den USA. In Deutschland wurden wurden 2007 ohne
Vorratsdatenspeicherung 84,4% aller in Deutschland registrierten
Internetdelikte einschließlich der Verbreitung von Kinderpornografie
erfolgreich aufgeklärt – von den sonstigen Straftaten nur 55%.[2] Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung am 01.01.2008 hat die Aufklärungsrate nicht erhöht (2007: 55,0%, 2008: 54,8%).[3]
- Einzelfallbetrachtung ist nicht gleich Verhältnismäßigkeit.
Aus einer Studie des Max-Planck-Instituts ergibt sich, dass die
Vorratsdatenspeicherung im besten Fall bei 0,01% aller Straftaten von
Nutzen sein kann[4] – zu 99,99% wird sinnlos aufgezeichnet.
- Massenverfolgung ist nicht gleich Effizienz. Mithilfe von
Telekommunikationsdaten werden hauptsächlich Betrügereien und
Tauschbörsennutzer ermittelt.[5]
Diese massenhafte Verfolgung von Kleinkriminalität kostet die Polizei
Ressourcen, die bei der Ermittlung schwerer Straftäter und der
Hintermänner fehlen. In den letzten Jahren sind bei der Polizei 17.000
Stellen gestrichen worden.[6]
- Betriebsblindheit ist nicht gleich Klugheit. In ihrer Jagd auf
0,01% der Straftäter verlieren die Befürworter der
Vorratsdatenspeicherung aus den Augen, dass eine unprotokollierte
Kommunikation Leben, Gesundheit und Freiheit von weit mehr Unschuldigen
schützt, etwa wo Beratungsstellen gewalttätige Familienväter oder
Pädophile überzeugen können, sich einer Therapie zu unterziehen. Im
Jahr 2007 konnte beispielsweise ein bei der Telefonseelsorge tätiger
Pfarrer einen Jugendlichen überzeugen, einen geplanten Amoklauf zu
unterlassen. Wäre der Anruf rückverfolgbar gewesen, hätte der
Jugendliche wohl nie über sein Vorhaben gesprochen. Einer Forsa-Umfrage
vom Juni 2008 zufolge hielt die Vorratsdatenspeicherung jeden zweiten
Deutschen davon ab, sich telefonisch beraten zu lassen,[7] was unsere
Sicherheit gefährdete.
- Telekommunikation ist nicht gleich Straftat. Telefon, Handy
und Internet werden zu 99,9% vollkommen legal eingesetzt. Gespräche
müssen am Telefon ebenso wenig registriert werden wie sonstige
Gespräche. Briefe müssen im Internet ebenso wenig registriert werden
wie sonstige Briefe. Bewegungen müssen mit einem Handy ebenso wenig
registriert werden wie sonstige Bewegungen.
- Gefährdung ist nicht gleich Kriminalität. Was Straftaten
anbelangt, ist Deutschland eines der sichersten Länder der Welt. Tod,
Krankheit oder Behinderung beruhen bei uns nur zu 0,2% auf Gewalt und
Straftaten.[8]
Dagegen kosten Tabak, Alkohol, Cholesterin, Übergewicht,
Fehlernäherung, Bewegungsmangel, Suizid, Stürze und der Straßenverkehr
ein Vielfaches an Menschenleben – obwohl sie sehr viel leichter zu
reduzieren wären.
- Überwachung ist nicht gleich Sicherheit. Umgekehrt
ermöglichen Datenhalden erst Missbrauch wie bei der Deutschen Telekom
AG und Betrug wie im Fall der Bankdaten. Nur nicht gespeicherte Daten
sind sichere Daten. Die Vorratsdatenspeicherung stellt diese Erkenntnis
auf den Kopf.
- EU-Recht ist nicht gleich Notwendigkeit. Die Nichtumsetzung
der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung wird nur ein weiteres neben den
zurzeit 68 anhängigen Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland[9]
sein. Auch vier Jahre nach dem tragischen Beschluss der Richtlinie zur
Vorratsdatenspeicherung hat keines der Länder, die sich der Umsetzung
verweigern, auch nur einen Euro Strafe zahlen müssen. Der Rumänische
Verfassungsgerichtshof hat festgestellt, dass eine
Vorratsdatenspeicherung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention
verstößt. Die Einhaltung der Menschenrechtskonvention muss Vorrang vor
der Umsetzung Brüsseler Richtlinien haben.
- Verfolgungswahn ist nicht gleich der Wille des Volkes: 70% der Bundesbürger lehnen die Vorratsdatenspeicherung ab[10] - ebenso wie 50 Berufs- und Wirtschaftsverbände.[11]
- Freiheit ist nicht gleich Unsicherheit. Es ist kein Zufall,
dass wir in Deutschland mit vergleichsweise wenig Überwachung und
starkem Grundrechtsschutz sicherer leben als Kontrollstaaten wie
Großbritannien. Sicherheit braucht in erster Linie Vertrauen und
Achtung vor dem Recht – auch vor den Menschenrechten.
|