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Vorratsdatenspeicherung: Nützlichkeit ist nicht gleich Sicherheit! (05.03.2010) Drucken E-Mail

+++ Arbeitskreis liefert Fakten zur Sicherheitsdebatte +++

In Anbetracht der von konservativen Innenpolitikern und Polizeifunktionären geschürten Ängste, ohne Vorratsdatenspeicherung sei die Sicherheit in Deutschland gefährdet, veröffentlicht der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung eine Reihe von Zahlen und Fakten, aus denen sich das Gegenteil ergibt: "Wie unsere Nachbarländer Österreich und Belgien zeigen, ist die Sicherheit auch ohne Vorratsdatenspeicherung gewährleistet - oder wollen die Befürworter behaupten, Österreich sei ein Hort des Terrorismus?", fragt Werner Hülsmann von der Deutschen Vereinigung für Datenschutz. "Die Angstmache und Drohung mit einer 'Sicherheitslücke' oder einem 'Rückzugsgebiet für Kriminelle' ist hahnebüchen. Laut Kriminalstatistik konnte in Deutschland auch ohne Vorratsdatenspeicherung fast 80% der Internetkriminalität aufgeklärt werden. Dass sich diese Aufklärungsquote nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung erhöht hätte, ist nicht ersichtlich. Umgekehrt gefährdet die Vorratsdatenspeicherung unsere Sicherheit, weil sie die Polizei mit Ermittlungen wegen Internetbetrügereien und Tauschbörsennutzung verstopft und dadurch Ressourcen von der gezielten Aufklärung schwerer Straftaten abzieht."

"Wem es wirklich darum geht, die Sicherheit zu stärken, der würde gezielte Projekte zur Kriminalprävention an Schulen, in Stadtteilen, in Gefängnissen fördern, wo Menschen kriminell werden können", erklärt Patrick Breyer vom Arbeitskreis. "Unsere Innenpolitiker tun das Gegenteil: Sie investieren Millionen von Euro in die Vorratsspeicherung der Daten Unschuldiger, in Überwachungstechnik, in biometrische Pässe, in Videoüberwachung - und kürzen gleichzeitig seit Jahren die Mittel für gezielte Präventionsarbeit, und es gibt immer weniger Polizisten – das ist doch keine Sicherheitspolitik!"

Unterdessen kündigte die EU-Innenkommissarin an: "Ich will die Direktive bis Ende des Jahres evaluieren lassen. Da werden wir uns nicht nur ansehen, ob sie angemessen und effektiv ist und wie hoch die Kosten sind. Sondern auch, ob sie mit der Grundrechtecharta des Lissabon-Vertrags vereinbar ist."[1] Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung wird auf EU-Ebene für die Abschaffung der exzessiven Pflicht zur Totaldatenspeicherung eintreten.

Florian Altherr vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung fordert daher auch die Bundesregierung zum Widerstand auf europäischer Ebene auf: "Die Bundesregierung muss sich jetzt dafür einsetzen, dass die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung endlich zurückgenommen wird. Es gibt keinen europäischen Konsens mehr für eine pauschale, anlasslose Überwachung aller 500 Millionen EU-Bürger. Die Verfassungsgerichte mehrerer Länder haben nun deutliche Signale an die Politik gesendet, dass die Grenzen der Freiheitseinschränkungen überschritten sind. Die Bundesregierung muss sich innerhalb der EU nun für eine neue, freiheitsfreundliche Sicherheitspolitik stark machen. Von einer erneuten Einführung einer Vorratsdatenspeicherung muss nach dem Paukenschlag von Karlsruhe dringend abgesehen werden."

Zahlen und Fakten zur gekippten Vorratsdatenspeicherung:

  • Nützlichkeit ist nicht gleich Sicherheit. Mehr Daten mögen in Einzelfällen nützlich sein. Im Ergebnis ist in Staaten mit Vorratsdatenspeicherung jedoch keine geringere Kriminalitätsrate zu verzeichnen als in Staaten ohne Vorratsdatenspeicherung. Insgesamt gesehen gibt es mit Vorratsdatenspeicherung nicht weniger Kindesmissbrauch, Vergewaltigungen, Körperverletzungen oder sonstige Straftaten als ohne Vorratsdatenspeicherung.
  • Aufklärung ist nicht gleich Schutz. Es ist nicht nachweisbar, dass eine erleichterte Aufklärung von Straftaten irgend einen Einfluss auf die Kriminalitätsrate hat.
  • Arbeitserleichterung ist nicht gleich Erforderlichkeit. Weltweit werden Straftaten auch ohne Vorratsdatenspeicherung erfolgreich aufgeklärt, gerade im Internet. Außer in Deutschland werden auch in Belgien, Griechenland, Österreich, Schweden und Rumänien Straftaten erfolgreich ohne Vorratsdatenspeicherung verfolgt, ebenso etwa in Kanada und den USA. In Deutschland wurden wurden 2007 ohne Vorratsdatenspeicherung 84,4% aller in Deutschland registrierten Internetdelikte einschließlich der Verbreitung von Kinderpornografie erfolgreich aufgeklärt – von den sonstigen Straftaten nur 55%.[2] Die Einführung der Vorratsdatenspeicherung am 01.01.2008 hat die Aufklärungsrate nicht erhöht (2007: 55,0%, 2008: 54,8%).[3]
  • Einzelfallbetrachtung ist nicht gleich Verhältnismäßigkeit. Aus einer Studie des Max-Planck-Instituts ergibt sich, dass die Vorratsdatenspeicherung im besten Fall bei 0,01% aller Straftaten von Nutzen sein kann[4] – zu 99,99% wird sinnlos aufgezeichnet.
  • Massenverfolgung ist nicht gleich Effizienz. Mithilfe von Telekommunikationsdaten werden hauptsächlich Betrügereien und Tauschbörsennutzer ermittelt.[5] Diese massenhafte Verfolgung von Kleinkriminalität kostet die Polizei Ressourcen, die bei der Ermittlung schwerer Straftäter und der Hintermänner fehlen. In den letzten Jahren sind bei der Polizei 17.000 Stellen gestrichen worden.[6]
  • Betriebsblindheit ist nicht gleich Klugheit. In ihrer Jagd auf 0,01% der Straftäter verlieren die Befürworter der Vorratsdatenspeicherung aus den Augen, dass eine unprotokollierte Kommunikation Leben, Gesundheit und Freiheit von weit mehr Unschuldigen schützt, etwa wo Beratungsstellen gewalttätige Familienväter oder Pädophile überzeugen können, sich einer Therapie zu unterziehen. Im Jahr 2007 konnte beispielsweise ein bei der Telefonseelsorge tätiger Pfarrer einen Jugendlichen überzeugen, einen geplanten Amoklauf zu unterlassen. Wäre der Anruf rückverfolgbar gewesen, hätte der Jugendliche wohl nie über sein Vorhaben gesprochen. Einer Forsa-Umfrage vom Juni 2008 zufolge hielt die Vorratsdatenspeicherung jeden zweiten Deutschen davon ab, sich telefonisch beraten zu lassen,[7] was unsere Sicherheit gefährdete.
  • Telekommunikation ist nicht gleich Straftat. Telefon, Handy und Internet werden zu 99,9% vollkommen legal eingesetzt. Gespräche müssen am Telefon ebenso wenig registriert werden wie sonstige Gespräche. Briefe müssen im Internet ebenso wenig registriert werden wie sonstige Briefe. Bewegungen müssen mit einem Handy ebenso wenig registriert werden wie sonstige Bewegungen.
  • Gefährdung ist nicht gleich Kriminalität. Was Straftaten anbelangt, ist Deutschland eines der sichersten Länder der Welt. Tod, Krankheit oder Behinderung beruhen bei uns nur zu 0,2% auf Gewalt und Straftaten.[8] Dagegen kosten Tabak, Alkohol, Cholesterin, Übergewicht, Fehlernäherung, Bewegungsmangel, Suizid, Stürze und der Straßenverkehr ein Vielfaches an Menschenleben – obwohl sie sehr viel leichter zu reduzieren wären.
  • Überwachung ist nicht gleich Sicherheit. Umgekehrt ermöglichen Datenhalden erst Missbrauch wie bei der Deutschen Telekom AG und Betrug wie im Fall der Bankdaten. Nur nicht gespeicherte Daten sind sichere Daten. Die Vorratsdatenspeicherung stellt diese Erkenntnis auf den Kopf.
  • EU-Recht ist nicht gleich Notwendigkeit. Die Nichtumsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung wird nur ein weiteres neben den zurzeit 68 anhängigen Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland[9] sein. Auch vier Jahre nach dem tragischen Beschluss der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung hat keines der Länder, die sich der Umsetzung verweigern, auch nur einen Euro Strafe zahlen müssen. Der Rumänische Verfassungsgerichtshof hat festgestellt, dass eine Vorratsdatenspeicherung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Die Einhaltung der Menschenrechtskonvention muss Vorrang vor der Umsetzung Brüsseler Richtlinien haben.
  • Verfolgungswahn ist nicht gleich der Wille des Volkes: 70% der Bundesbürger lehnen die Vorratsdatenspeicherung ab[10] - ebenso wie 50 Berufs- und Wirtschaftsverbände.[11]
  • Freiheit ist nicht gleich Unsicherheit. Es ist kein Zufall, dass wir in Deutschland mit vergleichsweise wenig Überwachung und starkem Grundrechtsschutz sicherer leben als Kontrollstaaten wie Großbritannien. Sicherheit braucht in erster Linie Vertrauen und Achtung vor dem Recht – auch vor den Menschenrechten.
 
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