55. Nur in Form einer ergänzenden Bemerkung hält der
Verfassungsgerichtshof fest, dass ihm durchaus bekannt ist, dass die
Entwicklung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien Hand
in Hand mit dem Auftreten neuer und ausgeklügelter Mittel zur Begehung
von Straftaten geht. Nichtsdestotrotz hat der Verfassungsgerichtshof
Zweifel daran, ob eine unterschiedslose und vorsorgliche Speicherung
von Verkehrs- und Standortdaten nahezu jeder elektronischer
Kommunikation im Hinblick auf die Intensität des Eingriffs und die
Vielzahl der privaten Nutzer elektronischer Kommunikation erforderlich
und verhältnismäßig ist. Diese Auffassung ist keine Einzelmeinung, denn
die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung war von Anbeginn an einer
gewaltigen Welle von Kritik sowohl seitens Mitgliedsstaaten (z.B. der Regierung von Irland, der Niederlande, Österreich und Schweden
verzögerten die Umsetzung lange Zeit und haben die Richtlinie noch
immer nicht umgesetzt, obwohl die Kommission ihnen öffentlich ein
Gerichtsverfahren angedroht hat), wie auch des Gesetzgebers des Europäischen
Parlaments, des Europäischen Datenschutzbeauftragten (siehe die
Ergebnisse der von der Kommission am 03.12.2010 veranstalteten
Konferenz zur Vorratsdatenspeicherung in Brüssel,
http://www.dataretention2010.net/docs.jsp) und der Artikel
29-Arbeitsgruppe zum Datenschutz (siehe die unter
http://ec.europa.eu/justice/policies/privacy/workinggroup/wpdocs/index_en.htm
verfügbaren Stellungnahmen) sowie von Nichtregierungsorganisationen (wie
Statewatch, European Digital Rights und Arbeitskreis
Vorratsdatenspeicherung - AK Vorrat) ausgesetzt. Alle der Vorbenannten
streben entweder eine vollständige Aufhebung der Richtlinie zur
Vorratsdatenspeicherung und einen Ersatz der unterschiedslosen und
vorsorglichen Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten durch andere,
angemessenere Mittel (z.B. Quick Freeze, welches die Nachverfolgung und
Speicherung nur der Daten bestimmter, im voraus festgelegter
Kommunikationsvorgänge ermöglicht) oder eine Abänderung an, besonders
durch Schaffung ausreichender Schutzvorkehrungen und höherer
Anforderungen an die zur Speicherung Verpflichteten zum Schutz der
Daten vor Bekanntwerden und Missbrauch Dritter. 56. Der
Verfassungsgerichtshof hegt auch Zweifel daran, ob eine
unterschiedslose und vorsorgliche Speicherung von Verkehrs- und
Standortdaten ein wirksames Mittel ist, um ihren ursprünglichen Zweck
(Schutz vor Gefahren und Verhütung besonders schwerer Straftaten) zu
erreichen, besonders wenn sogenannte anonyme SIM-Karten existieren, die
von den angefochtenen Bestimmungen nicht betroffen sind und die nach
Angaben der tschechischen Polizei in 70% der Fälle zum Einsatz kommen,
in denen elektronische Kommunikation zur Begehung von Straftaten
eingesetzt wird (siehe "Tschechische Polizei will anonyme Prepaidkarten
verbieten", iDNES.cz, 18.03.2010). In diesem Zusammenhang kann man auch
auf eine Analyse von Zahlen des deutschen Bundeskriminalamts vom
26.01.2011 verweisen, die auf einem Vergleich der Statistiken über
schwere Straftaten basiert, welche in Deutschland vor und nach der
Annahme von Gesetzgebung zur Vorratsdatenspeicherung begangen wurden,
und die zu dem Ergebnis führte, dass die unterschiedslose und
vorsorgliche Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten wenig
Auswirkungen bei der Verringerung der Zahl der begangenen schweren
Straftaten hatte (eine sehr eingehende Analyse und Statistiken sind
verfügbar auf
http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/426/79/lang,de/).
Ähnliche Schlussfolgerungen ergeben sich schon bei einem kurzen Blick
auf die Kriminalstatistik der tschechischen Polizei, wenn man die
statistischen Daten für die Zeiträume 2008 bis 2010 vergleicht
(verfügbar unter
http://www.policie.cz/clanek/statisticke-prehledy-kriminality-650295.aspx). 57.
Abschließend hält es der Verfassungsgerichtshof für erforderlich,
Zweifel darüber auszudrücken, ob es wünschenswert ist, Privatpersonen
(Anbietern von Internet-, Telefon- und Mobiltelefondiensten,
insbesondere Mobiltelefonbetreibern und Internet-Zugangsanbietern) die
Befugnis zu geben, Informationen über die Kommunikation sowie die daran
Beteiligten (also Daten jenseits derjenigen, zu deren Aufbewahrung das
angefochtene Gesetz verpflichtet) auch zur Störungsbeseitigung, zur
Geschäftsentwicklung und zu Werbezwecken zu nutzen. Dieser Umstand
erscheint dem Gerichtshof deswegen besonders wenig wünschenswert, weil
das Gesetz über elektronische Kommunikation und andere Gesetze den
Verwendungszweck nicht genau festlegen und nicht detailliert Rechte und
Pflichten, den Umfang gespeicherter Daten, Dauer und Mittel der
Aufbewahrung sowie Anforderungen an Sicherheits- und
Kontrollmechanismen definieren. 58. In Anbetracht des
Vorstehenden hat der Verfassungsgerichtshof gemäß § 70 Abs. 1 des
Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof beschlossen, die angefochtenen
Bestimmungen des § 97 Abs. 3 und 4 des Gesetzes Nr. 127/2005 über
elektronische Kommunikation und die Änderung verwandter Gesetze (Gesetz
über elektronische Kommunikation) in der gegenwärtigen Fassung sowie
die angefochtene Verordnung Nr. 485/2005 über den Umfang von Verkehrs-
und Standortdaten, Dauer und Art der Speicherung und über deren
Übermittlung an die zuständige Behörde, für nichtig zu erklären. Dieses
Urteil ist in die Gesetzessammlung aufzunehmen (§ 58 Abs. 1 des
Gesetzes über den Verfassungsgerichtshof). ... |