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[Blog] Großbritanniens Regierung will Briefe und Downloads auf Vorrat speichern (17.06.2012) Drucken E-Mail

Von Patrick Breyer

Eine 120 Personen starke Arbeitsgruppe im britischen Innenministerium hat einen Gesetzentwurf zur Stellungnahme veröffentlicht, der im Herbst dem Parlament vorgelegt werden soll. Dieser Gesetzentwurf sieht Unglaubliches vor:

1. Vorratsdatenspeicherung 2.0

Die britische Innenministerin Theresa May soll das Recht erhalten, Telekommunikationsanbieter und Postdienste per Anordnung zur Aufzeichnung und bis zu 12-monatigen Vorratsspeicherung von Informationen über ihre Kunden und deren Kommunikation zu verpflichten. Erstmals soll also auch die Post verpflichtet werden können, mitzuprotokollieren, wer wann wem einen Brief oder ein Paket geschickt hat! Gespeichert werden kann die „gesamte Außenseite“ von Briefumschlägen und Paketen.

Die Unternehmen können nicht nur zur Aufbewahrung ohnehin anfallender Daten verpflichtet werden, sondern auch zur Erhebung und Generierung weiterer Daten. Beispielsweise kann E-Mail-Anbietern die Identifizierung ihrer Kunden auferlegt werden, was das Ende anonymer E-Mail-Konten bedeuten würde.

Welche Kunden-, Kommunikations- oder Bewegungsdaten der britische Innenminister auf Vorrat speichern lassen kann, regelt der Gesetzentwurf nicht näher. Über die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung hinaus werden beispielhaft genannt Nachrichten über Online-Spiele und Instant Messaging sowie Internet-Nutzungsprotokolle („file transfer logs“) und E-Mail-Kopfzeilen (außer Betreff). In Frage kommen auch Facebook-Nachrichten und Chatroom-Kommunikation.

Vor allem aber soll es künftig möglich werden, britische Durchleitungsanbieter („transit systems“) zu verpflichten, die Nutzung ausländischer Dienste (z.B. Googlemail oder Facebook) zu protokollieren. Damit könnten Internet-Zugangsanbieter zum Einsatz von Deep Packet Filtering gezwungen werden. Erich Moechel berichtet, dass dazu auch die SSL-Verschlüsselung und die Blackberry-Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ausgehebelt werden soll.

Angeordnet werden kann eine bis zu 12-monatige Vorratsspeicherung solcher Daten. Jede Behörde kann die Frist – ohne richterliche Anordnung – unbefristet verlängern, wenn sie der Ansicht ist, dass die gespeicherten Daten für Gerichtsverfahren benötigt werden „könnten“ (!). Eine solche Verlängerungsanordnung kann sich auf sämtliche Daten eines Anbieters beziehen, nicht nur auf bestimmte Nutzer.

Welche Unternehmen die britische Innenministerin welche Daten speichern lässt, soll nicht veröffentlicht werden. Niemand soll erfahren, was über ihn gespeichert wird. Selbst eine Benachrichtigung über Datenabfragen ist nicht vorgesehen.

Die Anbieter sollen eine „angemessene Entschädigung“ für ihre Kosten erhalten. Das Ministerium rechnet allein in den ersten zehn Jahren mit Kosten in Höhe von 2,2 Mrd. Euro.

2. Datennutzung

Der staatliche Abruf von Vorratsdaten soll keineswegs nur zur Aufklärung schwerer Verbrechen gestattet werden, sondern

  • „zur Verhütung oder Feststellung von Straftaten“ jeder Art („for the purpose of preventing or detecting crime“),
  • zur Verhütung von Gesundheitsschäden in Notfällen,
  • zur Identifizierung Toter oder Kranker,
  • zur Bemessung oder Vollstreckung eines Zahlungsanspruchs der Regierung (z.B. Steuerschulden),
  • „im Interesse der nationalen Sicherheit“ und der „öffentlichen Sicherheit“,
  • im Interesse des öffentlichen „Gesundheitsschutzes“,
  • im Interesse des „wirtschaftlichen Wohls des Vereinigten Königreichs“,
  • zum Testen und Weiterentwickeln von Telekommunikationsüberwachungssystemen.

Zugriff auf die Daten erhalten Beamte aller

  • Polizeibehörden einschließlich der Militärpolizei,
  • Zollbehörden,
  • Geheimdienste und
  • sonstigen vom Innenminister autorisierten Behörden,

wenn eine richterliche Anordnung vorliegt. Anders als in Deutschland sind englische Richter in erster Instanz allerdings ehrenamtlich und nebenberuflich tätige Laienrichter. Sie verfügen über keine juristische Ausbildung. Hinzu kommt, dass die britischen Richter die gesetzlichen Überwachungsvoraussetzungen nicht vollständig überprüfen sollen, sondern nur, ob es „hinreichende Gründe für die Annahme“ gibt, dass die herausverlangten Daten erforderlich sind und die Anordnung verhältnismäßig ist.

Wahrscheinlich sind die Bestimmungen so zu verstehen, dass die Ausleitung von Kommunikationsdaten in Echtzeit verlangt werden kann. Überwachungsanordnungen müssen nicht die Person des Betroffenen oder die Nummer seines Anschlusses bezeichnen. Die weitere Verwendung der Daten ist nicht geregelt, eine Zweckbindung ist nicht angeordnet.

3. Precrime: Ständige Suchläufe über alle Daten

Erstmals soll von den Telekommunikations- und Postanbietern die Einrichtung eines „Filtersystems“ verlangt werden können. Dieses System soll in der Lage sein, den gesamten Vorratsdatenbestand nach von den Überwachungsbehörden vorgegebenen Suchkriterien und Mustern zu rastern und die Trefferdaten sogleich zu übermitteln.

Schon vor Erlass einer Überwachungsanordnung sollen die Behörden in der Lage sein, „Art und Menge der Daten“ anzeigen zu lassen, die ein bestimmter Filter aussortieren würde. Hat sich die Behörde für bestimmte Filterkriterien entschieden, kann sie den Einsatz des Filters beantragen, wobei wiederum eine richterliche Anordnung erforderlich ist. Ist ein Filter einmal im Einsatz, wird der Behörde oder dem Geheimdienst in Echtzeit jedes Suchergebnis übermittelt.

Offenbar soll das Suchsystem sogar anbieterübergreifend funktionieren: Es soll beispielsweise möglich sein, die einem E-Mail-Anbieter vorliegenden Nutzungsdaten eines unbekannten Nutzers mit den Nutzungsdaten anderer Anbieter abzugleichen, um so den Nutzer zu identifizieren.

Über diesen Filtermechanismus kommt letztlich doch wieder ein Vorhaben zum Tragen, das Großbritannien beerdigt zu haben schien: Der Wunsch nach einer zentralen Datenbank mit allen Vorratsdaten, um das Kommunikations- und Bewegungsverhalten der gesamten Bevölkerung anbieterübergreifend und in Echtzeit nach Belieben durchsuchen, rastern und durchschnüffeln zu können. An die Stelle der gekippten zentralen Datenbank soll nun ein zentrales Suchsystem treten.

Henry Porter warnt, Verbindungen und Zufälle würden Schuld nahelegen. Nichts könne die Polizei und den Inlandsgeheimdienst davon abhalten, die Daten zum Ausspionieren legitimer Aktivisten und politischen Protests zu nutzen. Der Gesetzentwurf sei offensichtlich unverhältnismäßig und verletze das Grundrecht auf Privatleben.

Wer glaubt, in Deutschland wäre derartiges nicht vorstellbar, sei an die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung erinnert. Über Europa haben die Briten schon einmal ein Vorhaben durchgedrückt, für das sich in ihrem eigenen Parlament keine Mehrheit fand. Jetzt erst recht: Stoppt die Vorratsdatenspeicherung!

Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder. Weitere Meldungen von Mitgliedern des AK-Vorrat finden Sie in der Rubrik Informationen / Blog.

 
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