Hier das Manuskript des Plädoyers, das Rechtsanwalt Meinhard Starostik vor dem Bundesverfassungsgericht gehalten hat. Herr Starostik ist der Bevollmächtigte der über 34.000 Beschwerdeführer gegen die Vorratsdatenspeicherung (Az. 1 BvR 256/08 und 1 BvR 508/08). Es gilt das gesprochene Wort.
Herr Präsident!
Hoher Senat!
Meine Damen und Herren!
Ich vertrete in dieser Sache 34938 Beschwerdeführer/innen, unter
ihnen 20 Abgeordnete des Bundestages und der Landtage, 871 Journalisten,
361 Ärzte, viele weitere Angehörige von Vertrauensberufen, Anhänger
aller demokratischen Parteien. Warum haben im Fall der
Vorratsdatenspeicherung so viele Menschen wie noch nie zuvor das Hohe
Gericht angerufen? Weil bei der Entscheidung über diese Maßnahme drei
Grundwerte auf dem Spiel stehen: Erstens unser Recht auf freie und
unbefangene Kommunikation, Fortbewegung und Mediennutzung, zweitens die
Zukunft unseres Grundrechts auf Privatsphäre allgemein und drittens die
Durchsetzung unserer Menschenrechte in einem vereinten Europa.
Zuvörderst ist eine politische Errungenschaft der modernen Demokratie,
dass Menschen mündlich, schriftlich und ursprünglich auch telefonisch
kommunizieren konnten, ohne Angst vor Nachverfolgung und Nachteilen
wegen ihrer Kontakte haben zu müssen. Ob im März der deutschen
Demokratie 1848, im Widerstand gegen die Nationalsozialisten, bei der
friedlichen Revolution in der DDR, im Kampf gegen Diktaturen weltweit,
aber auch in der heutigen Bundesrepublik bei der Organisation von
Umwelt- und Globalisierungsprotesten, bei dem Informieren der Presse
über rechtswidrige und demokratiegefährdende Machenschaften in Staat und
Wirtschaft – unbeobachtete und unbeobachtbare menschliche Kommunikation
bildet seit jeher die Grundlage des Eintretens für Demokratie,
Rechtsstaat und Menschenrechte.
Auch einzelne Menschen sind mitunter existenziell darauf angewiesen,
vor Nachteilen infolge eines Bekanntwerdens ihrer Kontakte sicher
geschützt zu sein, etwa wo sie wegen Krankheiten, Drogen oder Straftaten
absolut anonyme Hilfe oder Rat brauchen. Beispielsweise konnte ein
junger Mann ohne Furcht vor Nachteilen die damals nicht rückverfolgbare
Telefonseelsorge in Bayern anrufen. Das Gespräch überzeugte ihn, einen
geplanten Amoklauf in seiner Schule aufzugeben.
Außerhalb existenzieller Gefahren gehört die freie Kommunikation zum
Alltagsleben der Menschen in diesem Lande, sie ist einer der wichtigsten
Gründe, die das Leben in unserem Lande so lebenswert machen.
Die freiheitsstiftende Bedeutung der ubiquitären Verfügbarkeit der
modernen Massenkommunikation, die explosionsartige Zunahme der
Kommunikationsmittel und –techniken stehen allesamt auf dem Spiel, wenn
dieselbe Technik zum Werkzeug einer vollständigen verdachtslosen
Überwachung gemacht wird, weil der Staat die Überprüfbarkeit jeglicher
vermittelst elektronischer Kommunikation begangener Kontakte fordert,
vermeintlich um der Sicherheit seiner Bürger willen.
Ist dieser Weg einmal freigegeben, ist die weitere schrittweise
Erfassung des gesamten Alltages eine Folge, die wir schon heute sicher
vorhersagen können. Internetnutzung, Flugbewegungen, Resiewege, ÖPNV-Nutzung, Kaufverhalten,
Fernsehnutzung, Bücherausleihe, alle irgendwie elektronisch erfassbaren
Lebensäußerungen finden eine Rechtfertigung der Speicherung. Statt dem
autonomen Individuum als höchstem Wert der Rechtsordnung, ist die
Kenntnis der Lebensäußerungen der Individuen deren Eigenwert
übergeordnet, wir finden uns in einem potentiell allwissenden Staat
wieder.
Die Erlaubnis des Staates anlasslos und pauschal Wissen über alle Bürger
anzuhäufen und anhäufen zu lassen, greift in den Kernbereich des
Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung ein. Der
Zweckbindungsgrundsatz und das Verhältnismäßigkeitsgebot wären an dieser
Stelle aufgehoben.
Die Rechtsprechung des Hohen Gerichts ist erfreulich klar. Am
12.03.2003 entschied das BVerfG: „Insofern genügt es
verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, dass die Erfassung der
Verbindungsdaten allgemein der Strafverfolgung dient. Vorausgesetzt sind
vielmehr eine Straftat von erheblicher Bedeutung, ein konkreter
Tatverdacht und eine hinreichend sichere Tatsachenbasis…“ Am 04.04.2006
betonte das Gericht das „außerhalb statistischer Zwecke bestehende
strikte Verbot der Sammlung personenbezogener Daten auf Vorrat“.
Intensive Grundrechtseingriffe dürfen erst von bestimmten Verdachts-
oder Gefahrenstufen an vorgesehen werden. Selbst bei höchstem Gewicht
der drohenden Rechtsgutbeeinträchtigung kann auf das Erfordernis einer
hinreichenden Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutsverletzung nicht
verzichtet werden. Der Gesetzgeber darf die Gewichte auch zur Bekämpfung
von Terrorismus „nicht grundlegend verschieben“. Am 11.03.2008
bekräftigte das Gericht, dass eine automatisierte Datenerhebung nicht
anlasslos erfolgen oder flächendeckend durchgeführt werden darf.
In diesem Prozess wird sich entscheiden, ob auch bei Beschlüssen aus
Brüssel „ein diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbarer
Grundrechtsschutz gewährleistet“ werden kann, wie es unser Grundgesetz
in Art. 23 fordert. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat im
letzten Jahr mit der Verwerfung der britischen DNA- und
Fingerabdruckdatenspeicherung einen ersten Meilenstein gesetzt. Mit der
Vorratsdatenspeicherung steht nun erstmals grundrechtswidriges
Europarecht auf dem Prüfstand.
Die fundamentalen Auswirkungen dieses Verfahrens also sind der Grund,
weshalb so viele Menschen als Beschwerdeführer ihr Vertrauen darauf
setzen, dass das Hohe Gericht durch Aufhebung der
Vorratsdatenspeicherung die Grundvoraussetzungen einer freien
Kommunikation in unserer Gesellschaft wieder herstellen wird. Ich
beantrage dementsprechend im Namen aller von mir vertretener
Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer, dem Europäischen Gerichtshof
die Frage vorzulegen, ob die Richtlinie 2006/24/EG gültig ist, und nach
Verneinung dieser Frage durch den EUGH die §§ 113a, 113b des
Telekommunikationsgesetzes für unvereinbar mit den Artikeln 10, 2 Absatz
1 in Verbindung mit 1 Absatz 1, 5, 12, 14 und 3 Abs. 1 des
Grundgesetzes und nichtig zu erklären.
Das Rumänische Verfassungsgericht hat das Gesetz Nr. 298/2008, das die
Vorratsdatenspeicherung in Rumänien einführte, bereits für
verfassungswidrig erklärt. Es führt aus: „Auf diese Weise führt [die
Vorratsdatenspeicherung], welche die fortwährende Einschränkung des
Rechts auf Privatsphäre und auf das Fernmeldegeheimnis vorsieht, zur
Beseitigung des Kerngehaltes dieses Rechts, indem die Schutzvorkehrungen
zur Gewährleistung seiner Ausübung beseitigt werden.“ Genau dies ist,
was die Beschwerdeführer/innen vortragen.