Hintergrund

Vorratsdatenspeicherung (euphemistisch auch Mindestdatenspeicherung) bezeichnet die Verpflichtung der Anbieter von Telekommunikationsdiensten zur Registrierung von elektronischen Kommunikationsvorgängen, ohne dass ein Anfangsverdacht oder eine konkrete Gefahr besteht (Speicherung bestimmter Daten auf Vorrat). Erklärter Zweck der Vorratsdatenspeicherung ist die verbesserte Möglichkeit der Verhütung und Verfolgung von schweren Straftaten.

Die Vorratsdatenspeicherung ist eine Vorstufe der Telekommunikationsüberwachung. Die auf Vorrat zu speichernden Daten erlauben weitgehende Analysen persönlicher sozialer Netzwerke . Mit Hilfe der auf Vorrat zu speichernden Daten lässt sich  ohne dass auf Kommunikationsinhalte zugegriffen wird  das Kommunikationsverhalten jedes Teilnehmers analysieren. In dem Maße, in dem die Kommunikation über elektronische Medien zunimmt, wird die Bedeutung solcher Analysen für die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen wachsen.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht erklärte die deutschen Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung mit Urteil vom 2. März 2010 für verfassungswidrig und nichtig. Das Urteil verpflichtete deutsche Telekommunikationsanbieter zur sofortigen Löschung der bis dahin gesammelten Daten. Zur Begründung gab das Gericht an, dass das Gesetz zur anlasslosen Speicherung umfangreicher Daten sämtlicher Nutzer elektronischer Kommunikationsdienste keine konkreten Maßnahmen zur Datensicherheit vorsehe und zudem die Hürden für staatliche Zugriffe auf die Daten zu niedrig seien. Eine Vorratsdatenspeicherung verstoße allerdings nicht generell gegen das Grundgesetz.

Erforderlichkeitsgrundsatz

Eine anlasslose Speicherung von personenbezogenen Daten auf Vorrat verstößt nach geltendem Recht gegen den sogenannten Erforderlichkeitsgrundsatz . Dieser besagt, dass personenbezogene Daten grundsätzlich nur dann gespeichert werden dürfen, wenn dies zu einem bestimmten, gesetzlich zugelassenen Zweck erforderlich ist. Daten, deren Speicherung nicht, noch nicht oder nicht mehr erforderlich ist, müssen gelöscht werden.

Vorratsdatenspeicherung in der Telekommunikation

In der politischen Diskussion wird der Begriff Vorratsdatenspeicherung mittlerweile synonym zur Speicherung von Telekommunikationsdaten für Strafverfolgungszwecke verwendet: Telekommunikationsanbieter sollen verpflichtet werden, die für Abrechnungszwecke erhobenen Verkehrsdaten ihrer Kunden, Standortdaten und eindeutige Geräteidentifikationen für einen bestimmten Zeitraum zu speichern (Mindestspeicherfrist, 6 Monate), damit Polizei und Nachrichtendienste darauf zugreifen können.

Als Eingriff in verfassungsrechtlich geschützte Grundrechte wie das Fernmeldegeheimnis und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist die Vorratsdatenspeicherung äußerst umstritten. Außerdem wird von Kritikern angeführt, dass der Informantenschutz für Journalisten eingeschränkt wird und somit kritische Berichterstattung erschwert wird. Dies käme faktisch einer Einschränkung der Pressefreiheit gleich. Auch die Verschwiegenheitspflicht von Rechtsanwälten und Ärzten und das Seelsorge- bzw. Beichtgeheimnis von ordinierten Geistlichen sind davon betroffen.

Nach bisherigem Recht müssen die Anbieter die Verkehrsdaten nach Beendigung der Verbindung unverzüglich löschen, es sei denn, sie benötigen die Daten zu Abrechnungszwecken. Zu Abrechnungszwecken nicht erforderlich sind beispielsweise Standortdaten, IP-Adressen im Falle von Flatrates und E-Mail-Verbindungsdaten. Abrechnungsdaten waren bis 2007 auf Wunsch des Kunden mit Rechnungsversand zu löschen. Durch die Benutzung von Pauschaltarifen kann eine Speicherung zudem bisher gänzlich vermieden werden. In einem Urteil vom 7. Dezember 2005 hat das Landgericht Darmstadt T-Online eine über die Dauer der Verbindung hinausgehende Speicherung der Verkehrsdaten verboten. Seither speicherten die meisten Provider IP-Adressen nur noch wenige Tage lang, wie eine Umfrage des Online-Magazins Telepolis zeigt.

Der 15. Deutsche Bundestag lehnte in einem am 17. Februar 2005 gefassten Beschluss eine Mindestspeicherfrist und damit die anlasslose Speicherung von Verkehrsdaten auf Vorrat ausdrücklich ab. Er forderte die Bundesregierung auf, sich auch auf EU-Ebene in diesem Sinne zu verhalten.

Allerdings forderte der 16. Deutsche Bundestag am 15. Februar 2006 die Bundesregierung auf, den sogenannten Kompromissvorschlag für eine EG-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung im Rat der Europäischen Union zu unterstützen. Der Beschluss wurde mit den Stimmen der Großen Koalition gegen die Stimmen von FDP , Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gefasst.

Europäische Richtlinie

Lange wurde darüber diskutiert, ob und inwieweit der Rat der Europäischen Union die Mitgliedstaaten durch einen Rahmenbeschluss zur Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten verpflichten kann (wofür es nicht die erforderliche Einstimmigkeit in der EU gab) oder ob ein derartiger Beschluss der Zustimmung des Europäischen Parlaments bedarf, beispielsweise über eine EG-Richtlinie.

Am 14. Dezember 2005 stimmte das Europäische Parlament schließlich mit den Stimmen der Christdemokraten und der Sozialdemokraten mit 378 Stimmen (197 Gegenstimmen, 30 Enthaltungen) für die umstrittene Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. Zwischen Vorstellung des Richtlinienentwurfs und der entscheidenden Lesung lagen nur drei Monate. Damit ist es das bisher schnellste Gesetzgebungsverfahren in der EU-Geschichte. Kritiker bemängeln eine dadurch fehlende Debattiermöglichkeit.

Am 21. Februar 2006 stimmte der Rat ohne weitere Aussprache durch die Innen- und Justizminister mehrheitlich für die Richtlinie; die Vertreter Irlands und der Slowakei stimmten gegen die Richtlinie. Gegner dieser Entscheidung wie der irische Justizminister bezweifelten die Rechtsgrundlage; Irland reichte am 6. Juli 2006 gegen die Richtlinie Klage (Az. C-301/06) vor dem Europäischen Gerichtshof ein. Zur Begründung gab Irland an, die Vorratsdatenspeicherung diene einer verbesserten Strafverfolgung und dürfe deswegen nicht im Wege einer EG-Richtlinie beschlossen werden. Am 10. Februar 2009 wies der Europäische Gerichtshof die Klage ab. Es sei die richtige Rechtsgrundlage gewählt worden, weil die Richtlinie schwerpunktmäßig dazu diene, die Anbieter vor unterschiedlichen Speicherpflichten innerhalb der EU zu schützen. In seinem Urteil stellt der Gerichtshof jedoch klar, dass sich die von Irland erhobene Klage allein auf die Wahl der Rechtsgrundlage bezieht und nicht auf eine eventuelle Verletzung der Grundrechte als Folge von mit der Richtlinie 2006/24 verbundenen Eingriffen in das Recht auf Privatsphäre.

2010 hat der irische High Court angekündigt, dem EuGH die Frage vorzulegen, ob die Vorratsdatenspeicherung mit den EU-Grundrechten vereinbar sei.

Umsetzung in Deutschland

Das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG regelte vom 1. Januar 2008 bis zum 2. März 2010 die Vorratsdatenspeicherung.

Verabschiedung des Gesetzes 2007

Am 9. November 2007 haben die Abgeordneten des deutschen Bundestages in namentlicher Abstimmung mit 366 Ja-Stimmen, diese stammten ausschließlich von Mitgliedern der Parteien CDU/CSU und SPD, das Gesetz beschlossen. Am 30. November 2007 stimmte der Bundesrat der Vorratsdatenspeicherung zu. Am 26. Dezember 2007 unterzeichnete Bundespräsident Horst Köhler das umstrittene Gesetz zur Telefonüberwachung. Am 31. Dezember 2007 erfolgte die Verkündung im Bundesgesetzblatt.

Die SPD-Bundestagsabgeordneten Christoph Strässer , Niels Annen, Axel Berg , Lothar Binding, Marco Bülow , Siegmund Ehrmann, Gabriele Frechen , Martin Gerster, Renate Gradistanac , Angelika Graf, Gabriele Groneberg , Gabriele Hiller-Ohm, Christel Humme , Josip Juratovic, Anette Kramme , Ernst Kranz, Jürgen Kucharczyk , Katja Mast, Matthias Miersch , Rolf Mützenich, Andrea Nahles , Ernst Dieter Rossmann, Bernd Scheelen , Ewald Schurer, Wolfgang Spanier und Ditmar Staffelt haben am 9. November 2007 nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages eine Erklärung abgegeben, wieso sie für den Gesetzesentwurf gestimmt haben:

„Trotz schwerwiegender politischer und verfassungsrechtlicher Bedenken werden wir im Ergebnis dem Gesetzentwurf aus folgenden Erwägungen zustimmen. Erstens. Grundsätzlich stimmen wir mit dem Ansatz der Bundesregierung und der Mehrheit unserer Fraktion dahingehend überein, dass die insbesondere durch den internationalen Terrorismus und dessen Folgeerscheinungen entstandene labile Sicherheitslage auch in Deutschland neue Antworten benötigt. […] Eine Zustimmung ist auch deshalb vertretbar, weil davon auszugehen ist, dass in absehbarer Zeit eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts möglicherweise verfassungswidrige Bestandteile für unwirksam erklären wird.“

Deutscher Bundestag

Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion stimmt dieser Rechtfertigung jedoch nicht zu:

Vorratsdatenspeicherung hat mit Terrorismusbekämpfung relativ wenig zu tun. Ich wäre für die Vorratsdatenspeicherung auch dann, wenn es überhaupt keinen Terrorismus gäbe.

Dieter Wiefelspütz

Inhalt des Gesetzes

Nach dem Gesetz mussten die folgenden Daten sechs und durften maximal sieben Monate lang auf Vorrat gespeichert werden:

  1. Anbieter von Telefondiensten einschließlich Mobilfunk- und Internet-Telefondiensten speichern
    1. die Rufnummer oder andere Kennung des anrufenden und des angerufenen Anschlusses sowie im Falle von Um- oder Weiterschaltungen jedes weiteren beteiligten Anschlusses
    2. den Beginn und das Ende der Verbindung nach Datum und Uhrzeit unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone
    3. in Fällen, in denen im Rahmen des Telefondienstes unterschiedliche Dienste genutzt werden können, Angaben zu dem genutzten Dienst
    4. im Fall mobiler Telefondienste ferner:
      1. die internationale Kennung für mobile Teilnehmer für den anrufenden und den angerufenen Anschluss
      2. die internationale Kennung des anrufenden und des angerufenen Endgerätes
      3. die Bezeichnung der durch den anrufenden und den angerufenen Anschluss bei Beginn der Verbindung genutzten Funkzellen
      4. im Fall im Voraus bezahlter anonymer Dienste auch die erste Aktivierung des Dienstes nach Datum, Uhrzeit und Bezeichnung der Funkzelle
    5. im Fall von Internet-Telefondiensten auch die Internetprotokoll-Adresse des anrufenden und des angerufenen Anschlusses
  2. Das gilt entsprechend bei der Übermittlung einer Kurz-, Multimedia- oder ähnlichen Nachricht; hierbei sind die Zeitpunkte der Versendung und des Empfangs der Nachricht zu speichern.
  3. Anbieter von Diensten der elektronischen Post (E-Mail) speichern
    1. bei Versendung einer Nachricht die Kennung des elektronischen Postfachs und die Internetprotokoll-Adresse des Absenders sowie die Kennung des elektronischen Postfachs jedes Empfängers der Nachricht,
    2. bei Eingang einer Nachricht in einem elektronischen Postfach die Kennung des elektronischen Postfachs des Absenders und des Empfängers der Nachricht sowie die Internetprotokoll-Adresse der absendenden Telekommunikationsanlage,
    3. bei Zugriff auf das elektronische Postfach dessen Kennung und die Internetprotokoll-Adresse des Abrufenden,
    4. die Zeitpunkte der in den Nummern 1 bis 3 genannten Nutzungen des Dienstes nach Datum und Uhrzeit unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone.
  4. Anbieter von Internetzugangsdiensten speichern
    1. die dem Teilnehmer für eine Internetnutzung zugewiesene Internetprotokoll-Adresse
    2. eine eindeutige Kennung des Anschlusses, über den die Internetnutzung erfolgt
    3. den Beginn und das Ende der Internetnutzung unter der zugewiesenen Internetprotokoll-Adresse nach Datum und Uhrzeit unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone
  5. Wer Telekommunikationsdienste erbringt und hierbei die nach Maßgabe dieser Vorschrift zu speichernden Angaben verändert, ist zur Speicherung der ursprünglichen und der neuen Angabe sowie des Zeitpunktes der Umschreibung dieser Angaben nach Datum und Uhrzeit unter Angabe der zugrunde liegenden Zeitzone verpflichtet.
  6. Anbieter von Mobilfunknetzen für die Öffentlichkeit speichern zu den Bezeichnungen der Funkzellen Daten, aus denen sich die geografische Lage der jeweiligen Funkzelle sowie die Hauptstrahlrichtung der Funkantenne ergeben.

Unter anderem die Europäische Kommission ist der Ansicht, dass die Speicherpflicht nur in der Regel gegen Entgelt erbrachte Dienste umfasse (siehe auch § 3 Nr. 24 TKG). Dienste, die nicht von ihren Nutzern oder von Werbekunden finanziert würden, fielen nicht unter die Speicherpflicht. Die schwarz-rote Bundesregierung hat eine andere Ansicht vertreten. Alle Anbieter konnten seit dem 1. Januar 2009 wegen einer Ordnungswidrigkeit belangt werden, wenn sie der Speicherpflicht nicht nachkamen.

Wer Verkehrsdaten auf Vorrat speichert, ohne dazu verpflichtet zu sein, handelt ordnungswidrig und kann von der Bundesnetzagentur mit einer Geldbuße bis 10.000 Euro belegt werden (§ 149 Abs. 1 Nr. 17 TKG).

Genutzt und übermittelt werden durften auf Vorrat gespeicherte Verbindungsdaten nur

  1. zur Verfolgung von Straftaten,
  2. zur Abwehr von erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit
  3. zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, des Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes an die zuständigen Stellen
  4. zur Erteilung von Auskünften über die Identität von Telekommunikations- und Internetnutzern nach § 113 TKG.

Die Datennutzung durfte aufgrund einstweiliger Anordnungen des Bundesverfassungsgerichts jedoch nur unter engeren Voraussetzungen erfolgen als im Gesetz vorgesehen.

Auf dem Gebiet der Strafverfolgung ist der Zugriff auf Verkehrsdaten zur Verfolgung erheblicher oder mittels Telekommunikation begangener Straftaten zulässig (§ 100g StPO). Darunter fallen etwa in Internet-Tauschbörsen begangene Urheberrechtsverletzungen. 2008 gab es in Deutschland 8316 Ermittlungsverfahren in denen Verkehrsdaten nach § 100g StPO erhoben wurden. Angeordnet wurden insgesamt 13904 Erhebungen. Darin nicht enthalten sind Erhebungen der Polizei zu präventiven Zwecken , und die nicht von der Justiz kontrollierten Erhebungen der Nachrichtendienste.

Private Rechteinhaber hatten keinen direkten Zugriff auf die auf Vorrat gespeicherten Daten. Sie konnten aber Strafanzeige erstatten und dann die Ermittlungsakten einsehen.

Bestandsdaten

Mit dem Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung wurde die Identifizierungspflicht für Nutzer von Rufnummern auf Nutzer sämtlicher dauerhafter Anschlusskennungen (§ 111 TKG) ausgeweitet. Darunter fallen etwa Telefonanschlüsse, Handykarten und DSL-Anschlüsse. E-Mail-Anbieter sind von der Identifizierungspflicht ausgenommen; sofern sie allerdings Daten über die Identität ihrer Nutzer erheben, müssen sie diese Angaben für Zwecke der Auskunftserteilung an Behörden auch speichern. Anonyme E-Mail-Dienste bleiben also legal, ebenso anonyme WLAN-Internetzugänge und Telefonzellen.

Die Anbieter der von der Identifizierungspflicht betroffenen Dienste haben vor der Freischaltung des Nutzers eine Reihe von Daten in eine Datenbank einzuspeichern:

  1. vergebene Rufnummer bzw. E-Mail-Adresse
  2. Name und Anschrift des Inhabers
  3. Datum des Vertragsbeginns
  4. Geburtsdatum des Inhabers
  5. bei Festnetzanschlüssen die Anschrift des Anschlusses

Die Anbieter sind berechtigt, aber nicht verpflichtet, die Richtigkeit der Angaben des Kunden zu überprüfen, etwa anhand eines Personalausweises. Gelöscht werden die Daten ein bis zwei Jahre nach Vertragsende (§ 95 Abs. 3 TKG). Zur Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben haben eine Vielzahl von Stellen einen direkten Online-Zugriff auf diese Bestandsdaten (§ 112 TKG): Gerichte, Strafverfolgungsbehörden, Polizeivollzugsbehörden des Bundes und der Länder für Zwecke der Gefahrenabwehr, Zollkriminalamt und Zollfahndungsämter für Zwecke eines Strafverfahrens, Zollkriminalamt zur Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen nach § 39 des Außenwirtschaftsgesetzes, Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, Militärischer Abschirmdienst, Bundesnachrichtendienst, Notrufabfragestellen, Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Zollverwaltung zur Schwarzarbeitsbekämpfung.

Über diese Kundendatenbank hinaus sind Anbieter von Telekommunikationsdiensten verpflichtet, individuelle Auskünfte über Bestandsdaten zu erteilen (§ 113 TKG). Diese Regelung erlaubt es beispielsweise, bei einem Internetzugangsanbieter zu erfragen, welchem Kunden eine dynamisch vergebene IP-Adresse zu einem bestimmten Zeitpunkt zugewiesen war. Abgefragt werden können auch Passwörter, PINs und PUKs. Auskunft ist zu erteilen für die Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder, des Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes.

Verfassungsbeschwerden 2007 bis 2010

Am 31. Dezember 2007 wurde eine vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung begleitete Verfassungsbeschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung (§ 113a , § 113b TKG) beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingereicht (Az. 1 BvR 256/08). In Verbindung mit der über 150-seitigen Beschwerdeschrift wurde auch beantragt, die Datensammlung wegen „offensichtlicher Verfassungswidrigkeit“ durch eine einstweilige Anordnung sofort auszusetzen.

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik haben 34.939 Beschwerdeführer einen Rechtsanwalt mit der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde beauftragt. Da die Erfassung und Auswertung der Vollmachten nicht rechtzeitig abgeschlossen werden konnte, ist die Beschwerde zunächst im Namen von acht Erstbeschwerdeführern eingereicht worden. Am 29. Februar 2008 wurden schließlich der größte Teil der Vollmachten dem Bundesverfassungsgericht übergeben. Seit Mitte März 2008 lagen alle Vollmachten dem Gericht vor (Az. 1 BvR 256/08 und 1 BvR 508/08).

Eine separate Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz haben FDP-Politiker rund um Burkhard Hirsch eingereicht (Az. 1 BvR 263/08). In den Verfahren mit den Aktenzeichen 1 BvR 586/08 und 2 BvE 1/08 hat Prof. Dr. Jens-Peter Schneider im Namen vieler Bundestagsabgeordneter der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Verfassungsbeschwerde und Organklage eingereicht. Eine weitere Verfassungsbeschwerde wurde von der Gewerkschaft ver.di eingereicht (Az. 1 BvR 1571/08).

Am 11. März 2008 schränkte das Bundesverfassungsgericht auf Antrag der acht Erstbeschwerdeführer das Gesetz zur Massenspeicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten per einstweiliger Anordnung stark ein. Zwar wurde die Speicherpflicht für Kommunikationsunternehmen nicht ausgesetzt, die Verwendung der Daten durch Ermittlungsbehörden ist aber nur mit Genehmigung eines Ermittlungsrichters und im Zusammenhang mit schweren Straftaten möglich. Bevor auf die gesammelten Vorratsdaten zugegriffen werden kann, muss ein durch Tatsachen begründeter Verdacht vorliegen, und andere Ermittlungsmöglichkeiten müssen wesentlich erschwert oder aussichtslos sein. Zudem sollte die Bundesregierung bis zum 1. September 2008 dem BVerfG über die praktischen Auswirkungen der Vorratsdatenspeicherung berichten.

Anfang Januar 2009 wurde ein für die Bundesregierung verfasster Schriftsatz veröffentlicht, nach dem es sich bei Vorratsdatenspeicherung, bei dem erreichten Stand der Integration hinsichtlich von Hoheitsakten in der Europäischen Union, um einen Gegenstand handele, der sich einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht am Maßstab der Vorschriften des Grundgesetzes entziehe.

Das Bundesverfassungsgericht übersandte im April 2009 einen Fragenkatalog. Siehe auch: Gutachten/Stellungnahmen

Am 15. Dezember 2009 verhandelte das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungsbeschwerden gegen die Vorratsdatenspeicherung.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Verfassungsbeschwerden wurde am 2. März 2010 verkündet. Das Verfassungsgericht erklärte die konkrete Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung für verfassungswidrig und die entsprechenden Vorschriften für nichtig: Das Gesetz in seiner jetzigen Fassung verstößt gegen Artikel 10 Abs. 1 des Grundgesetzes Zwar sei eine solche Vorratsdatenspeicherung nicht grundsätzlich unzulässig; im Hinblick auf das Telekommunikationsgeheimnis der betroffenen Bürger sei es aber erforderlich, dass die Daten nur dezentral gespeichert und mit besonderen Maßnahmen gesichert würden; die Nutzung der Daten durch Behörden müsse auf genau spezifizierte Fälle schwerster Kriminalität beschränkt bleiben; diesen Anforderungen werde das angegriffene Gesetz nicht gerecht. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts darf in Deutschland nicht mehr auf Vorrat gespeichert werden.

Diskussion im Anschluss an das Urteil des BVerfG

Zur Vorbereitung einer Neuregelung veröffentlichte Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger im Januar 2011 ein Eckpunktepapier , das im wesentlichen zwei Maßnahmen vorsieht: zum einen eine anlaßbezogene Sicherung bereits vorhandener Verkehrsdaten infolge einer „Sicherungsanordnung“ („Quick Freeze ), zum anderen eine auf den Internetbereich beschränkte, eng befristete Speicherung von Verkehrsdaten, um Bestandsdatenauskünfte (insbesondere über die Zuordnung von IP-Adressen zu Personen) zu ermöglichen.

Im Februar 2011 stellte der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages in einem Rechtsgutachten fest, dass derzeit nicht sicher sei, ob die Richtlinie 2006/24/EG ohne Verstoß gegen die EU-Grundrechtecharta umgesetzt werden könne. Zudem sei eine Änderung der Aufklärungsquote durch Protokollieren der Nutzerspuren nur marginal. Auch weitere Kritikpunkte wurden dargestellt.

Nach Medienberichten im April 2011 forderte die EU-Kommission die Bundesrepublik Deutschland auf, schnellstmöglich ein neues Gesetz zur Speicherung von Telekommunikationsdaten zu erlassen. Andernfalls drohe ein Verfahren wegen Verletzung des EU-Vertrags.

Auf der Basis des Eckpunktepapiers vom Januar 2011 stellte Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger im Juni 2011 einen erneuten Gesetzesentwurf vor .

Am 16. Juni 2011 wurde durch die EU-Kommission vom Bundesjustizministerium als erste Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens wegen der noch nicht erfolgten Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung eine Stellungnahme angefordert.

Begründung

Die Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung werden mit der Notwendigkeit zur Kriminalitätsbekämpfung und der Terrorismusbekämpfung begründet.

Kriminalitätsbekämpfung

Zur Begründung der Vorratsdatenspeicherung verweist die Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung auf die beträchtliche Zunahme elektronischer Kommunikation in den letzten Jahren. Sowohl wissenschaftliche Untersuchungen, als auch praktische Erfahrungen in mehreren Mitgliedstaaten zeigten, dass Daten über die Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel ein notwendiges und wirksames Ermittlungswerkzeug für die Strafverfolgung, insbesondere in schweren Fällen, wie organisierter Kriminalität und Terrorismus, darstellten. Deswegen müsse gewährleistet werden, dass diese Daten den Strafverfolgungsbehörden für einen bestimmten Zeitraum zur Verfügung stehen. Wegen neuer Geschäftsmodelle wie Pauschaltarifen, Prepaid- und Gratisdiensten würden Verkehrsdaten von den Betreibern nicht in demselben Umfang gespeichert wie in früheren Jahren. Dies erschwere den Behörden die Erfüllung ihrer Pflichten im Zusammenhang mit der Verhütung und Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Terrorismus. Straftäter könnten miteinander kommunizieren, ohne befürchten zu müssen, dass die Strafverfolgungsbehörden ihnen durch Auswertung der Daten auf die Spur kommen.

Konkret wird argumentiert, bei der Aufklärung der Anschläge auf Madrid im Jahr 2004 etwa hätten Telekommunikationsdaten einen entscheidenden Beitrag geleistet. Zum Schutz des Lebens potenzieller Opfer von Terroranschlägen und anderer Straftaten müssten alle verfügbaren Mittel ausgeschöpft werden. Auch zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch, organisierter Kriminalität, Rechtsradikalismus und Phishing sei eine Vorratsdatenspeicherung erforderlich.

Basierend auf den Zahlen des Bundeskriminalamts würde sich die Aufklärungsquote im besten Fall um 0,006 Prozentpunkte erhöhen, siehe Darstellung unter Eingeschränkter Nutzen.

Binnenmarkt

Die Richtlinie wird weiter damit begründet, dass unterschiedliche Vorschriften in den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Vorratsspeicherung von Verkehrsdaten den Binnenmarkt für elektronische Kommunikationsdienste behinderten, da die Diensteanbieter von Land zu Land mit unterschiedlichen Anforderungen konfrontiert seien.

Beschränkter Anwendungsbereich

Zum Beleg der Verhältnismäßigkeit der Vorratsdatenspeicherung wird ihr eingeschränkter Anwendungsbereich angeführt. Inhalte der Telekommunikation würden nicht erfasst. Bewegungsprofile würden nicht erstellt. Verbindungsdaten würden bereits vor der Verabschiedung zu Abrechnungszwecken gespeichert. Der staatliche Zugriff auf die Daten erfolge nur im Einzelfall und unterliege hohen Voraussetzungen.

EU-Richtlinie

Deutsche Politiker verweisen oft darauf, dass Deutschland in den Verhandlungen über die Richtlinie erhebliche Verbesserungen gegenüber dem ursprünglichen Entwurf ausgehandelt habe. Dies betreffe die Punkte Mindestspeicherfrist, erfolglose Anrufversuche und Standortdaten. Die Zustimmung zu dem letztlich beschlossenen Kompromissvorschlag sei erforderlich gewesen, um weitergehende Speicherpflichten zu verhindern. Zur Umsetzung der Richtlinie sei Deutschland nun verpflichtet. Die Nichtigkeitsklage Irlands beseitige die Umsetzungspflicht nicht. Bei der Umsetzung sei Deutschland über die Mindestanforderungen der Richtlinie nicht hinausgegangen.

Kritik

Datenschützer, Verfassungsrechtler, Parteien und Vertreter verschiedener Berufsgruppen protestierten und stellten den Sinn einer solchen Maßnahme zur Debatte, sie weise den Weg Richtung Überwachungsstaat : Wenn man sich nicht sicher sein könne, frei kommunizieren zu können, leide darunter die Zivilgesellschaft, und Bürger würden vor politischen Äußerungen im Internet zurückschrecken. Anonyme Seelsorge- und Beratungsdienste seien ebenso gefährdet, da weniger Menschen es wagen würden, diese Dienste zu nutzen.

Eine Ausweitung über den „Kampf gegen den Terror“ hinaus auf minderschwere Delikte sei erfolgt, wie etwa das Beispiel der Diskussionen um den genetischen Fingerabdruck zuvor gezeigt habe. Die im Gesetz enthaltene Formulierung der Verwendung der gespeicherten Daten zu Zwecken der Strafverfolgung auf die Ermittlung, Aufdeckung und Verfolgung erheblicher oder mittels Telekommunikation begangener Straftaten bestätige diese Befürchtung. Der Deutsche Journalisten-Verband sieht die Pressefreiheit und den Informantenschutz in Gefahr, wie er in einer Mitteilung vom 22. Februar 2006 in Reaktion auf die Verabschiedung der EU-Richtlinie ausführt.

Viele Kritiker betrachten deshalb das einzelfallbezogene Quick-Freeze -Verfahren als eine rechtsstaatlich unbedenklichere Alternative zur allgemeinen Vorratsdatenspeicherung.

Während das Kabinett des Bundestages am 18. April 2007 den Entwurf zur Vorratsdatenspeicherung von Brigitte Zypries beschloss, kam es zu Protestdemonstrationen vor dem Reichstagsgebäude .

Am 29. Juli 2008 wurde zudem eine Petition gegen die Vorratsdatenspeicherung vom Bundestag abgelehnt. Die Petition war von 12.560 Personen unterzeichnet worden.

Im Einzelnen werden die folgenden Kritikpunkte genannt:

Fehlender Nutzen

Die Speicherung von Verkehrsdaten sei notwendigerweise vergangenheitsbezogen und könne daher im Wesentlichen nur der nachträglichen Aufklärung bereits begangener Straftaten dienen. Eine abschreckende Wirkung durch ein höheres Entdeckungsrisiko sei nicht nachweisbar und in Staaten, in denen eine Vorratsspeicherung erfolge, nicht zu beobachten. Unter Berücksichtigung der vielfältigen Umgehungsmöglichkeiten, die vor allem von professionellen Straftätern genutzt würden (zum Beispiel Nutzung von Telefonzellen , fremder Mobiltelefone, Internetcafés), könne eine Vorratsdatenspeicherung nur in wenigen und regelmäßig wenig bedeutenden Einzelfällen von Nutzen sein. Ein Einfluss auf das Kriminalitätsniveau insgesamt sei in der Praxis nicht zu beobachten. Die Eignung zur Bekämpfung organisierter Kriminalität oder zur Verhütung terroristischer Anschläge sei als äußerst gering bis nicht gegeben einzuschätzen. Durch eine Vorratsdatenspeicherung hätten weder die Anschläge am 11. September 2001 noch die Attentate in Großbritannien im Juli 2005 noch die geplanten Anschläge in deutschen Zügen 2006 verhindert werden können.

Das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht hat in einer Untersuchung aus dem Jahr 2007 für die ohne Vorratsspeicherung verfügbaren Kommunikationsdaten festgestellt: „Doch weist die Aktenanalyse selbst unter den heutigen rechtlichen Bedingungen nur für etwa 2 % der Abfragen nach, dass sie wegen Löschungen ins Leere gehen.“ In einer Studie des Bundeskriminalamts vom November 2005 wurden 381 Straftaten vor allem aus den Bereichen Internetbetrug, Austausch von Kinderpornografie und Diebstahl erfasst, die in den vergangenen Jahren aufgrund fehlender Telekommunikationsdaten nicht aufgeklärt werden konnten. Diesen 381 Fällen stehen jährlich 6,4 Millionen Straftaten gegenüber, von denen laut Kriminalstatistik Jahr für Jahr 2,8 Millionen unaufgeklärt bleiben. Einer Stellungnahme des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung zufolge ließe sich die durchschnittliche Aufklärungsquote demnach von bisher 55 % im besten Fall auf 55,006 % erhöhen. Vor diesem Hintergrund sei nicht einzusehen, warum gerade die Nutzer von Telefon, Handy und Internet überwacht werden sollten, zumal die Aufklärungsquote in diesem Bereich schon ohne Vorratsdatenspeicherung überdurchschnittlich hoch sei. Während die durchschnittliche Aufklärungsquote 2006 bei 55,4 % lag, werden im Bereich mittels Telekommunikation begange ner Straftaten schon ohne Vorratsdatenspeicherung 78,5 % der Fälle von Verbreitung pornographischer Schriften via Internet, 86 % der Fälle von Internetbetrug und 85,5 % der Straftaten gegen Urheberrechtsbestimmungen im Internet aufgeklärt.

Eine Auswertung der deutschen Kriminalstatistik 2009 ergab, dass eine Vorratsdatenspeicherung weder von Straftaten abschreckt, noch den Anteil der aufgeklärten Straftaten erhöht. Aktivisten des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung bezeichnen sie daher als überflüssig.

Eine Sachstandsanalyse des wissenschaftlichen Diensts des Bundestags (Az.: WD 7 3000 036/11) kommt zu dem Ergebnis, dass in der EU keine Hinweise darauf existieren, dass eine verdachtsunabhängige Protokollierung von Nutzerspuren den Ermittlungsbehörden nachweisbar in ihrer Arbeit hilft. Sie stellt fest, dass es in den Jahren 2005 bis 2010 in den meisten Ländern zu keiner signifikanten Änderungen der Aufklärungsquote kam, hierbei betrachtet sie die Rate der Täterermittlung als einen wichtigen Indikator des Strafverfolgungssystems.

Missbrauchs- und Irrtumsrisiko

Telekommunikationsdaten hätten einerseits eine sehr hohe Aussagekraft und erlaubten Rückschlüsse über die gesamte Lebenssituation der Betroffenen, seien andererseits aber nicht eindeutig einer Person zuzuordnen. Deshalb entfalteten die Daten einerseits eine große Anziehungskraft auf Personen, die ihren Missbrauch beabsichtigen, könnten andererseits aber auch zu falschen Verdächtigungen führen. Auf Seiten des Staates sei eine Nutzung der Daten zum Vorgehen gegen politische Gegner und staatskritische oder sonst unliebsame Organisationen und Personen zu befürchten. Auch die Nutzung zur Wirtschaftsspionage durch ausländische Staaten sei zu befürchten. Ferner drohe ein Missbrauch durch Private, etwa durch kriminelle Erpresser oder Sensationsjournalisten.

Aktuelles Beispiel der Gegner ist das Bekanntwerden einer Abhöraktion des BKA gegen die ARD und den Norddeutschen Rundfunk im Vorfeld des G8-Gipfels. Mit der Begründung, man ermittele gegen eine terroristische Vereinigung, hatte das BKA Telefone von Reportern der ARD abgehört. Weder die abgehörten Journalisten noch die Verlagshäuser wurden über die Maßnahme informiert. Die beiden betroffenen NDR-Mitarbeiter erfuhren zunächst nur durch Dritte über die Aktion. Verursachung von Hemmungen, Abschreckungswirkung

Das Wissen, dass das eigene Verhalten protokolliert wird und in Zukunft gegen den Kommunizierenden eingesetzt werden könnte, wirkt unter Umständen abschreckend. So würde laut einer Forsa-Umfrage die Mehrheit der Befragten auf den Rat von Eheberatungsstellen, Psychotherapeuten oder Drogenberatungsstellen per Telefon oder E-Mail verzichten, wenn sie ihn benötigen würden. Jeder dreizehnte Befragte gab der Umfrage zufolge an, dass dieser Verzichtsfall in der Realität bereits einmal eingetreten sei. Ferner könnten Whistleblower davon abgehalten werden, Missstände an die Presse, Behörden oder andere gesellschaftsregulierende Einrichtungen zu melden. Menschen könnten davon abgehalten werden, sich staatskritisch zu engagieren. Mittelbar gefährde dies die gesamte offene Gesellschaft, deren Funktionieren die unbefangene zwischenmenschliche Kommunikation und Mündigkeit der Bürger voraussetze.

Kontraproduktive Wirkung

Eine Vorratsdatenspeicherung könne die Entwicklung und Verbreitung technischer Mittel zur Verschleierung elektronischer Spuren begünstigen. Dies könne eine Überwachung selbst in konkreten Verdachtsfällen vereiteln.

Ein Beispiel ist das Onion-Routing-Verfahren, angewandt z. B. durch einen Tor -Client, der zum privaten Internet-Zugang genutzt wird: Damit wird nicht nur der Traffic verschlüsselt, sondern es werden sogar Traffic-Analysen blockiert.

Im Übrigen kann unter Berücksichtigung der Informationsquellen und Kommunikationspartner durch die verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung auf das Verhalten und die Interessengebiete bestimmter Personen geschlossen werden.

Wirtschaftliche Auswirkungen

Gesetzliche Vorgaben zur Vorratsdatenspeicherung verursachten bei den Netzbetreibern jährliche Betriebskosten (Investitions- und Unterhaltskosten) in schätzungsweise dreistelliger Millionenhöhe. Diesen Kosten stünden keine Einnahmen oder Vergünstigungen durch den Staat gegenüber, somit sei der Kostenträger der Vorratsdatenspeicherung allein der Telekommunikationskunde. Der Staat profitierte durch Mehrwertsteuermehreinnahmen für Kosten, die er selbst verursacht habe.

Durch die unverhältnismäßig hohe Belastung der kleinen Anbieter ergäben sich erhebliche Wettbewerbsverzerrungen und direkte Wettbewerbsvorteile für die großen Netzbetreiber.

Des Weiteren hemme und verhindere die Vorratsdatenspeicherung die Entwicklung kostengünstiger Telekommunikationssysteme und somit Preissenkungen für den Verbraucher. Ursprünglich war angedacht, die Daten, die aus Rechnungsgründen zum Nachweis der Verbindungen dienen, auch als Auskunft für Ermittlungen bei schweren Straftaten bereitzuhalten. Nun wurde die Datenspeicherung auf alle möglichen Dienste erweitert und Daten gespeichert, die dem Kunden vom Netzbetreiber nicht mitgeteilt werden. So hat es beim E-Mail-Verkehr noch nie Einzelverbindungsnachweise gegeben. Heute im Zeitalter der Flatrate benötigt man jedoch vom Netzbetreiber keine Verbindungsnachweise mehr. Aus Gründen der Vorratsdatenhaltung muss der Telekommunikationsbetreiber technische Komponenten (Hard- und Software) vorhalten, um die Erfassung der Verbindungsdaten zu ermöglichen. Ein Verzicht auf diese Aufzeichnungen würde die Prozesskosten des reinen Vermittlungsbetriebes und somit den Preis für eine Flatrate erheblich senken.

Juristische Argumente

Juristisch wird argumentiert, die Vorratsdatenspeicherung verstoße gegen die Grundrechte der Kommunizierenden und der Telekommunikationsunternehmen. In Deutschland liege ein Verstoß gegen das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, gegen die Meinungs-, Informations- und Rundfunkfreiheit, gegen die Berufsfreiheit und gegen das Gleichbehandlungsgebot vor. Da die Verkehrsdaten von Gesprächen auch von Privaträumen aus aufgezeichnet werden, würde das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) verletzt. Schließlich könne man darin einen Verstoß gegen die Rundfunk- und Meinungsbildungsfreiheit (Art. 5 GG) sehen, da durch die Speicherung der Verkehrsdaten das Kommunikationsverhalten von Journalisten nachvollziehbar ist. In einem juristischen Kommentar zum Bundesdatenschutzgesetz heißt es wörtlich: Damit kann der Schutz seiner Informanten nicht mehr gewährleistet werden. Dies führt indirekt zur Verminderung der freiheitlichen Berichterstattung in Presse, Rundfunk und Fernsehen. Betroffen davon ist die Freiheit jedes Einzelnen, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Auf europäischer Ebene sei ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gegeben, und zwar gegen Artikel 8 EMRK, das Recht auf Achtung des Privatlebens und der Korrespondenz, gegen die Meinungsfreiheit und gegen das Recht auf Achtung des Eigentums.


Der Nutzen einer Vorratsdatenspeicherung sei gegenüber ihren schädlichen Folgen unverhältnismäßig gering. Eine verdachtsunabhängige Protokollierung des Telekommunikationsverhaltens der gesamten Bevölkerung sei exzessiv. Über 99 % der von einer Vorratsdatenspeicherung Betroffenen seien unverdächtig und hätten keinen Anlass zu einer Protokollierung ihrer Kommunikation gegeben. Untersuchungen zufolge würden weniger als 0,001 % der gespeicherten Daten von den Behörden tatsächlich abgefragt und benötigt.

Oft wurde das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 2003 (Az. 1 BvR 330/96) zitiert, in dem es heißt:

„Die schwerwiegenden Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis sind nur verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn die Gegenbelange entsprechend gewichtig sind. Das Gewicht des Strafverfolgungsinteresses ist insbesondere von der Schwere und der Bedeutung der aufzuklärenden Straftat abhängig (vgl. BVerfGE 100, 313 <375 f., 392>). Insofern genügt es verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, dass die Erfassung der Verbindungsdaten allgemein der Strafverfolgung dient (siehe oben aa). Vorausgesetzt sind vielmehr eine Straftat von erheblicher Bedeutung, ein konkreter Tatverdacht und eine hinreichend sichere Tatsachenbasis für die Annahme, dass der durch die Anordnung Betroffene als Nachrichtenmittler tätig wird. […] Entscheidend für das Gewicht des verfolgten Anliegens ist auch die Intensität des gegen den Beschuldigten bestehenden Verdachts (vgl. BVerfGE 100, 313 <392>). Voraussetzung der Erhebung von Verbindungsdaten ist ein konkreter Tatverdacht. Auf Grund bestimmter Tatsachen muss anzunehmen sein, dass der Beschuldigte mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Straftaten von erheblicher Bedeutung begangen hat (vgl. auch BVerfGE 100, 313 <394>).

Die Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung sei wegen Verstoßes gegen die Gemeinschaftsgrundrechte und wegen fehlender Rechtsgrundlage nichtig. Der Europäische Gerichtshof habe in seinem Urteil vom 30. Mai 2006 zur Übermittlung von Fluggastdaten festgestellt, dass die Europäische Gemeinschaft für den Bereich der öffentlichen Sicherheit und der Strafverfolgung nicht zuständig sei. Eine Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung bestehe nicht, weil die europäischen Organe bei Erlass der Richtlinie ihre von den Mitgliedstaaten eingeräumten Kompetenzen überschritten hätten. Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Maastricht-Urteil entschieden, dass derartige Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich seien und die deutschen Staatsorgane aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert seien, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Dabei komme es nicht darauf an, ob der Europäische Gerichtshof bereits über die Rechtmäßigkeit der Rechtsakte entschieden habe.

In einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vom 3. August 2006 zur Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung nach europäischem und deutschem Recht heißt es: „Es bestehen Bedenken, ob die Richtlinie [über die Vorratsdatenspeicherung] in der beschlossenen Form mit dem Europarecht vereinbar ist. Dies betrifft zum einen die Wahl der Rechtsgrundlage, zum anderen die Vereinbarkeit mit den im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundrechten. Weiter sei zweifelhaft, dass dem Gesetzgeber aufgrund der europarechtlichen Vorgaben eine verfassungsgemäße Umsetzung gelingen wird.

Mit Urteil vom 8. Oktober 2009 hat der Verfassungsgerichtshof Rumäniens (Curtea Constitut,ionala( a României) das rumänische Gesetz zur sechsmonatigen Vorratsspeicherung aller Verbindungs-, Standort- und Internetzugangsdaten als verfassungswidrig verworfen. In dem Urteil heißt es, die Erfassung aller Verbindungsdaten könne nicht als vereinbar mit den Bestimmungen der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention erachtet werden.

Demonstrationen

Gegen die Vorratsdatenspeicherung fanden eine Reihe von Demonstrationen statt, darunter in Bielefeld, Berlin und Frankfurt am Main, die vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung veranstaltet wurden.

Eine der größten Demonstrationen mit etwa 15.000 Teilnehmern fand am 22. September 2007 in Berlin unter dem Motto „Freiheit statt Angst statt.

Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung rief kurzfristig zu bundesweiten dezentralen Kundgebungen am 6. November auf , nachdem sich die Anzeichen verdichtet hatten, dass im Bundestag am 9. November 2007 über den Gesetzentwurf abgestimmt werden würde. Protestkundgebungen fanden neben Berlin, Köln, Leipzig, Frankfurt (Main) und Dresden in über 40 deutschen Städten statt .

Die bisher größte Demonstration fand am 11. Oktober 2008 in Berlin statt. Etwa 50.000 Menschen (nach Veranstalterangaben bis zu 100.000, nach Polizeiangaben offiziell 15.000) nahmen an dem Demonstrationszug teil. Unter dem Motto Freedom Not Fear hatten Bürgerrechtsorganisationen weltweit zur Teilnahme zu dem internationalen Aktionstag gegen Überwachung aufgerufen. Neben Berlin fanden Aktionen vor allem in Lateinamerika und den USA statt.

Historischer Kontext

Ausgedehnte Überwachung wird in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund der historischen Erfahrungen kritisch betrachtet. Kritiker verweisen auf Erfahrungen mit einer totalitären Überwachung im Dritten Reich durch die Gestapo und in der DDR durch die Stasi . Sie befürchten, dass der Ausbau von Überwachungsinstrumenten die Demokratie erneut aushöhlen und letztlich de facto abschaffen könnte.

Dieser Artikel basiert auf dem Artikel Vorratsdatenspeicherung aus der freien Enzyklopddie Wikipedia und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

Argumente der Befürworter einer Vorratsdatenspeicherung kritisch beleuchtet

"Das Ende der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland hat zu einer gefährlichen Sicherheitslücke geführt. Eine Vorratsspeicherung aller Verbindungsdaten ist zur Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität unverzichtbar."

Falsch. Die Zahl der aufgeklärten Straftaten ist ohne Vorratsdatenspeicherung ebenso hoch wie mit Vorratsdatenspeicherung. Eine Vorratsdatenspeicherung erhöht die Aufklärungsquote nicht. Zur Kriminalitätsbekämpfung sind auch ohne eine Totalprotokollierung jeder Benutzung von Telefon, Handy, E-Mail und Internet genügend Verbindungsdaten verfügbar:

  • Zu Abrechnungszwecken werden bestimmte Verbindungsdaten ohnehin gespeichert, in Deutschland bis zu sechs Monate lang.
  • Darüber hinaus können die Sicherheitsbehörden bei Bedarf eine richterliche Anordnung beantragen, derzufolge die Verbindungsdaten bestimmter Verdächtiger aufzuzeichnen sind.
  • Die terroristischen Anschläge in Madrid im Jahr 2004, die Taten der "Sauerland-Attentäter" 2006 und die Vorbereitungen der Düsseldorfer Quaida-Zelle 2011 konnten mit Hilfe von Verbindungsdaten aufgeklärt werden, die ohnehin verfügbar waren. Eine Vorratsdatenspeicherung war nicht erforderlich.
  • Bis zum Beschluss der Vorratsspeicherungs-Richtlinie im Jahr 2006 gab es weltweit nur wenige Länder mit Vorratsspeicherungspflichten. In keinem Land gab es eine so umfassende Protokollierung wie in der EU-Richtlinie vorgesehen. Die weltweiten Sicherheitsbehörden sind stets ohne eine Totalprotokollierung der Telekommunikation ausgekommen.
  • Nach einem Bericht des Max-Planck-Instituts im Auftrag des Bundesjustizministerium waren Abfragen von Verbindungsdaten auch ohne Vorratsdatenspeicherung in 96% aller Fälle erfolgreich.
  • Das Bundeskriminalamt nennt in einer Untersuchung 880 Fälle, in denen den Ermittlungsbehörden Verbindungsdaten fehlten – gemessen an den 6 Mio. pro Jahr begangenen Straftaten eine verschwindend geringe Zahl von 0,01%. Keiner dieser Fälle wies einen Bezug zu Terrorismus auf, obwohl die Bekämpfung des Terrorismus immer wieder als Grund für die Vorratsdatenspeicherung vorgeschoben wird. Laut Bundeskriminalamt fehlen Verbindungsdaten im Wesentlichen nicht bei der Bekämpfung von Terrorismus und organisierte Kriminalität, sondern bei der Verfolgung des Austauschs von Kinderpornografie im Internet. Bei diesen Straftaten wird allerdings bereits ohne Vorratsdatenspeicherung mit die höchste Aufklärungsquote aller Straftaten erreicht.

Auch ohne Vorratsdatenspeicherung werden in Deutschland 80% aller bekannt gewordener Internetdelikte erfolgreich aufgeklärt - von den sonstigen Straftaten nur 55%. Das Inkrafttreten einer Internet-Vorratsdatenspeicherung im Jahr 2009 hat die Zahl der aufgeklärten Internetdelikte nicht erhöht (Aufklärungsrate 2008: 79,8%, 2009: 75,7%). Das Inkrafttreten der Telefon-Vorratsdatenspeicherung im Jahr 2008 hat die Zahl der insgesamt aufgeklärten Straftaten nicht erhöht (Aufklärungsrate 2007: 55,0%, 2008: 54,8%).

Eine Vorratsdatenspeicherung ist gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität wirkungslos:

  • Ernsthafte Kriminelle bleiben unentdeckt, weil sie Umgehungsstrategien einsetzen (z.B. wechselnde Benutzung unregistrierter Prepaid-Handykarten) oder auf andere Kommunikationskanäle ausweichen (z.B. Post, persönliche Treffen).
  • Der Präsident des Europäischen Verbands der Polizei Heinz Kiefer warnt: "Für Kriminelle bliebe es einfach, mit relativ simplen technischen Mitteln eine Entdeckung zu verhindern, z.B. durch den Einsatz und häufigen Wechsel im Ausland gekaufter, vorausbezahlter Mobiltelefonkarten. Das Ergebnis wäre ein enormer Aufwand mit wenig mehr Wirkung auf Kriminelle und Terroristen, als sie etwas zu verärgern."

Wirklich nützlich für die Arbeit der Sicherheitsbehörden wären andere Maßnahmen, etwa verbesserte Zugriffsmöglichkeiten auf ausländische Verbindungsdaten. Sicherheitsbehörden klagen, dass Auskünfte über Verbindungsdaten aus anderen EU-Staaten nur sehr langsam, aus Nicht-EU-Staaten überhaupt nicht zu erlangen sind. Dies beeinträchtige ihre Arbeit viel stärker als das Fehlen von Verbindungsdaten im Inland. Etwa 80% der Ermittlungen im Bereich Terrorismus und organisierte Kriminalität weisen internationale Bezüge auf.

Siehe auch: "Vorratsdatenspeicherung: Nützlichkeit ist nicht gleich Sicherheit "

 

"Wenn auch nur ein schweres Verbrechen verhindert werden kann, rechtfertigt dies schon die gesamte Datensammlung."

Falsch. Eine freie und offene Kommunikation ist für unsere Gesellschaft wichtiger als der Versuch, möglichst jede Straftat zu verhindern.

Zunächst einmal wird es kaum jemals vorkommen, dass mithilfe von Verbindungsdaten eine Straftat verhindert werden kann; höchstens können bereits begangene Straftaten aufgeklärt werden.

Selbst, wenn im Ausnahmefall einmal die Verhinderung einer Straftat gelingen könnte, rechtfertigt dies nicht die Aufzeichnung der Kommunikation der gesamten Bevölkerung. Würde die Verhinderung eines Verbrechens jegliche Maßnahme rechtfertigen, müssten wir die Grundrechte aufgeben, auch das Folterverbot und den Schutz der Menschenwürde. All diese Menschen- und Bürgerrechte können der Verbrechensbekämpfung nämlich im Einzelfall im Weg stehen. Insgesamt dienen die Grundrechte aber der Erhaltung einer freien Gesellschaft und einer lebendigen Demokratie, letztlich also dem Wohl der gesamten Bevölkerung. Diese Werte sind für uns wichtiger als der Versuch, möglichst jede Straftat zu verhindern.

Wer jede Straftat verhindern will, müsste konsequenterweise auch für ein Verbot des Straßenverkehrs, des Rauchens und des Alkoholkonsums eintreten. All diese Maßnahmen könnten die Anzahl von Todesfällen erheblich senken. Wer dagegen eine "Bevormundung" der Bürger ablehnt und deswegen Verkehrsopfer und Krebstote in Kauf nimmt, kann nicht glaubwürdig jedes einzelne "Verbrechen" verhindern wollen.

Falsche Prioritätensetzung

Wer ständig mehr Sicherheit fordert, lenkt von den Versäumnissen und der falschen Prioritätensetzung der Politik ab. Während die Politik versucht, durch eine lückenlose Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung möglichst auch noch den letzten Straftäter zu bestrafen, nimmt sie bewusst in Kauf, dass tausende von Menschen jedes Jahr an den Folgen z.B. von Tabak, Alkohol und Verkehrsunfällen sterben. Zugunsten des Profits einzelner Wirtschaftszweige (Tabakindustrie, Brauereien, Autoindustrie) bleibt die Politik untätig, wo sie Krankheit und Tod unzähliger Menschen leicht verhindern könnte und müsste. Auch bei der Bekämpfung von Armut – eine der wichtigsten Sorgen der Menschen – hat die herrschende Politik in den letzten Jahren beständig versagt, wie die Statistiken zeigen.

Die Auswirkungen von Kriminalität sind im Vergleich zu diesen Problemen ungleich geringer:

  • Eurostat zufolge sterben weniger als 0,002% der Europäer jährlich als Opfer einer Straftat, terroristische Anschläge eingeschlossen.
  • Der Weltgesundheitsorganisation zufolge beruht der Verlust gesunder Lebenszeit für Westeuropäer zu 92% auf Krankheiten, zu 2% auf Verkehrsunfällen, zu 1% auf Stürzen, zu 1,7% auf Suizid und nur zu 0,2% auf Gewalt und Straftaten. Die großen Gesundheitsrisiken sind andere als Kriminalität: Bluthochdruck, Tabak, Alkohol, Cholesterin, Übergewicht, Fehlernäherung und Bewegungsmangel sind die Hauptrisikofaktoren. Auch dass uns Lebensrisiken wie Armut, Arbeitslosigkeit oder Naturkatastrophen treffen, ist weitaus wahrscheinlicher als das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden.
  • Würde man z.B. den Tabakkonsum nur um 2% reduzieren, dann würde man der Gesundheit der Bevölkerung einen größeren Dienst erweisen als durch die Verhinderung sämtlicher Gewalttaten einschließlich Terrorismus.

Wer ständig neue Maßnahmen zur Kriminalitätsbekämpfung fordert, verfehlt damit die wirklichen Probleme der Menschen, mit denen sie täglich zu kämpfen haben. Die Kriminalitätsrate hat schon immer in der gleichen Größenordnung wie heute gelegen, ohne unsere Gesellschaft dadurch ernsthaft zu gefährden.

Nachteile

Wer die einzelne, schreckliche Straftat in den Mittelpunkt stellt, ignoriert, dass die Nachteile einer Totalprotokollierung deren Nutzen bei weitem überwiegen. Weil die Nachteile einer generellen Kommunikationsprotokollierung für unsere Gesellschaft deren Vorteile bei weitem überwiegen, ist eine Vorratsdatenspeicherung unverhältnismäßig. Selbst der Schutz vor Verbrechen rechtfertigt keine unverhältnismäßigen Maßnahmen.

  • Eine Vorratsspeicherung schreckt Informanten von Journalisten davon ab, wichtige Informationen über Missstände per Telefon, Fax oder Internet weiterzugeben. Informanten müssten ständig damit rechnen, dass ihr Kontakt mithilfe von Verbindungsdaten aufgedeckt werden kann.
  • Wer bei einem Anwalt, einem Arzt oder einer Beratungsstelle (z.B. Eheberatung, Suchtberatung, Telefonseelsorge) Rat sucht, muss bedenken, dass der Kontakt Rückschlüsse auf sein persönliches Problem (z.B. Ermittlungsverfahren, Krankheit, Ehekrise, Suchtproblem) zulassen kann und im Fall des Bekanntwerdens Nachteile drohen. Für Prominente, denen die Sensationspresse auf Schritt und Tritt nachspioniert, ist dies eine besondere Gefahr.
  • Vertrauliche Verhandlungen in der Wirtschaft über Großaufträge oder Fusionen würden behindert, weil die Beteiligten mit Wirtschaftsspionage rechnen müssten. Konkurrenzunternehmen können auf Verbindungsdaten zugreifen, um Aufträge "wegzuschnappen" oder Zusammenschlüsse zu verhindern.
  • Politiker werden erpressbar, weil ihre Kontakte zu umstrittenen Personen (z.B. Lobbyisten, Industrielle) nachvollziehbar werden.
  • Die Arbeit von politischen Aktivisten (z.B. Globalisierungskritiker, Castorgegner) wird behindert, weil sie mit einer - auch nachträglichen - Aufdeckung ihrer Netzwerke durch den Verfassungsschutz rechnen müssten.

Insgesamt geht die Unbefangenheit weiter Teile der zwischenmenschlichen Kommunikation verloren, und zwar spätestens, sobald der erste Missbrauchsfall an das Licht der Öffentlichkeit gelangt. Abhörskandale hat es bereits in Griechenland und Italien gegeben. In den USA können Verbindungsdaten käuflich erworben werden. In Deutschland hat die Deutsche Telekom missbräuchlich 250.000 Telefonverbindungsdaten und Handy-Positionsdaten von Journalisten sowie von Arbeitnehmer-Aufsichtsräten und Managern des Unternehmens ausgewertet , um undichte Stellen im Unternehmen zu ermitteln. Außerdem hat ein Mitarbeiter von T-Mobile die Daten von 17 Mio. Kunden - darunter geheimer Nummern und Privatadressen von bekannten Politikern, Ministern, Ex-Bundespräsidenten, Wirtschaftsführern, Milliardären und Glaubensvertretern - verkauft, die nun in kriminellen Kreisen kursieren. Dass auch vorratsgespeicherte Kommunikationsdaten missbraucht werden, ist nur eine Frage der Zeit - und der Geldsumme, die z.B. einem Telekom-Mitarbeiter für eine Auskunft angeboten wird.

"Nach dem Ende der Vorratsdatenspeicherung ist das Internet ein rechtsfreier Raum."

Falsch. Auch ohne Vorratsdatenspeicherung werden 80% aller bekannt gewordenen Internetdelikte aufgeklärt (2008: 79,8%). Zum Vergleich: Nur 55% der außerhalb des Internets begangenen Straftaten werden aufgeklärt (2009: 55.6%).

Während Internet-Verbindungsdaten in Deutschland auf Vorrat gespeichert wurden, stieg die vorher hohe Aufklärungsquote nicht, sondern sie ging sogar zurück (2009: 75.7%), vermutlich weil verstärkt Gegenmaßnahmen (z.B. ausländische Anonymisierungsdienste) eingesetzt wurden. Die Vorratsdatenspeicherung schadet also der Strafverfolgung, weil sie zum Einsatz von Umgehungsmaßnahmen führt, deren Anonymität selbst im Verdachtsfall nicht mehr aufgehoben werden kann.

Die Sicherheitsbehörden vieler Staaten Europas und weltweit arbeiten bis heute erfolgreich ohne verdachtslose Vorratsdatenspeicherung (z.B. Österreich, Griechenland, Norwegen, Rumänien, Schweden, Australien, Kanada, Japan). Niemand kann ernsthaft behaupten, in diesen Staaten sei das Internet ein "rechtsfreier Raum".

Die Aufklärung von Internet-Straftaten gelingt auch ohne Vorratsdatenspeicherung zu 80%, weil Internetverbindungen in Zeiten von Pauschaltarifen (Flatrates) lange aufrecht erhalten werden und die Behörden entsprechend lange Zeit haben, um einen Internetnutzer noch während der bestehenden Verbindung zu identifizieren. Wo dies nicht gelingt, ist eine Fangschaltung möglich: Der Verdächtige wird dann bei seiner nächsten Verbindung mit dem entsprechenden Dienst identifiziert.

 

"Wegen der Zunahme von Flatrates stehen den Ermittlungsbehörden heute weniger Verbindungsdaten zur Verfügung als vor Einführung der Vorratsdatenspeicherung."

Falsch. Den Ermittlungsbehörden stehen von Jahr zu Jahr mehr Verbindungsdaten zur Verfügung.

Hauptsächlich Internetverbindungen werden verbreitet pauschal tarifiert. 2008, vor Inkrafttreten der Pflicht zur Vorratsspeicherung von Internetverbindungen, nutzten jedoch bereits 86% der Internetnutzer eine Flatrate. Dieser Anteil ist heute nicht wesentlich höher.

Vor Inkrafttreten der Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung im Internetbereich am 01.01.2009 speicherten Internet-Zugangsanbieter die Zuordnung der von ihren Kunden genutzten Internetadressen nicht oder höchstens wenige Tage lang ( bis 7 Tage ). Nicht anders verhält es sich auch gegenwärtig wieder (Übersicht). Übrigens fielen bis zur Einführung digitaler Vermittlungsstellen in den 90er Jahren keinerlei Verbindungsdaten an, ohne dass dies eine Strafverfolgung unmöglich gemacht hätte.

Tatsächlich nimmt die Anzahl der verfügbaren Kommunikationsspuren im Informationszeitalter zu und nicht ab, weil an die Stelle persönlicher Gespräche und Briefe zunehmend elektronische Kommunikation tritt. Selbst wenn in einzelnen Fällen die Verfügbarkeit von Verkehrsdaten abgenommen hat, ist dieser Effekt klein im Vergleich zu der rapide anwachsenden Informationsmenge, auf die der Staat insgesamt Zugriff hat.

Weitere Informationen

 

"Kommunikationsinhalte werden nicht gespeichert."

Das ist für sich genommen zwar richtig, aber irreführend. In vielen Fällen lässt sich der Kommunikationsinhalt nämlich anhand der Verbindungsdaten rekonstruieren.

Schon die Person des Gesprächspartners lässt oft Rückschlüsse auf den Gesprächsinhalt zu. Es liegt auf der Hand, weshalb jemand eine Ehe- oder Drogenberatungsstelle anruft, einen auf Geschlechtskrankheiten spezialisierten Arzt, einen Fachanwalt für Steuerstrafrecht oder eine Telefonsexnummer. Bei Politikern können Kontakte zu Lobbyisten oder zu Prostituierten von Interesse sein.

In einem Versuch des US-amerikanischen Forschungszentrums MIT wurden Telekommunikations-Verbindungsdaten und auf 10m genaue Standortdaten von 100 Versuchspersonen erhoben. Mithilfe dieser Daten gelang es mit einer 90%igen Genauigkeit, die Arbeitskollegen, Bekannten und Freunde einer jeden Person zu identifizieren. Ferner waren umfangreiche Vorhersagen möglich. Anhand der Bewegungsdaten einer Person während eines Monats konnte mit einer 95%igen Genauigkeit vorhergesagt werden, wann sich die Person am Arbeitsplatz, zu Hause oder an einem anderen Ort aufhalten würde. Weiter konnte mit einer 90%igen Genauigkeit vorhergesagt werden, ob sich zwei Personen innerhalb der nächsten Stunde begegnen würden. Anhand der Aktivitäten einer Person während der ersten 12 Stunden eines Tages konnten die Aktivitäten während der verbleibenden 12 Stunden mit etwa 80% Genauigkeit vorhergesagt werden. Auch die Zufriedenheit am Arbeitsplatz konnte anhand der Daten vorhergesagt werden.

Bei der Nutzung des Internet werden die abgerufenen Inhalte, die Klicks und Suchwörter des Nutzers oft von dem Anbieter freiwillig mitprotokolliert ("Server-Logfiles"). Hier genügen schon die Verbindungsdaten des Internet-Zugangsanbieters (IP-Adresse), um die Kommunikationsinhalte minuziös nachvollziehen zu können.

Es besteht die Gefahr, dass die Vorratsdatenspeicherung in Zukunft auf Kommunikationsinhalte ausgedehnt wird. In Italien werden beispielsweise SMS bereits gespeichert. Mit dem Argument, dass die Daten zur Strafverfolgung benötigt werden, lässt sich in Zukunft durchaus auch eine Inhaltsspeicherung rechtfertigen.


"Verbindungsdaten wurden schon immer gespeichert; sie sollen künftig nur länger aufbewahrt werden."

Das ist falsch.

Ohne Vorratsdatenspeicherung dürfen Telekommunikationsanbieter nur die Verbindungsdaten speichern, von denen die Rechnungshöhe abhängt (§ 97 Absatz 3 Telekommunikationsgesetz ). Deswegen dürfen etwa eingehende Verbindungen (z.B. ankommende Anrufe), Handy-Standortdaten (Wer hat wo telefoniert?) und E-Mail-Verbindungsdaten (Wer hat wem eine E-Mail geschickt?) nicht gespeichert werden. Auch die beim Internet-Surfen genutzte Kundenkennung (IP-Adresse) dürfen Anbieter nicht speichern. Bei Pauschaltarifen ("flatrates") dürfen keinerlei Verbindungsdaten gespeichert werden, weil dies nicht zur Abrechnung erforderlich ist (Heise.de-Meldung).

Es werden somit derzeit sehr viel weniger Verbindungsdaten gespeichert als mit einer Vorratsdatenspeicherung. Außerdem lässt sich die Speicherung von Verbindungsdaten zurzeit insgesamt verhindern (Flatrate), was eine Vorratsdatenspeicherung ändern würde. Nach Schätzungen führte eine Vorratsdatenspeicherung zur Speicherung 100-mal so vieler Verkehrsdaten wie bisher. Es kann daher keine Rede davon sein, dass sich nichts Wesentliches ändere.

"Der Zugriff auf die gespeicherten Daten wird nur unter engen Voraussetzungen (z.B. richterliche Anordnung) zugelassen."

Falsch. Verbindungs- und Standortdaten werden schon heute in tausenden von Strafverfahren jährlich abgefragt, die Identität von Telefon-, Handy-, E-Mail- und Internetnutzern (Bestandsdaten) wird sogar mehrere Millionen Mal jährlich abgefragt ( 4,5 Mio. mal im Jahr 2009 oder über 10.000mal am Tag). Die Vorratsdatenspeicherung hat die Zahl der Abfragen noch einmal sprunghaft ansteigen lassen. In Anbetracht dessen kann keine Rede davon sein, dass der Zugriff auf die gespeicherten Daten engen Voraussetzungen unterliege.

  • In Deutschland sind Zugriffe auf Verbindungsdaten bei jedem Verdacht einer "erheblichen" oder einer "mittels Telekommunikation begangenen" Straftat gesetzlich zugelassen (§ 100g StPO). Zugriff erhalten zu diesem Zweck die Staatsanwaltschaft und die Polizei, aber auch ausländische Staaten wie die USA, Albanien, Azerbaijan und Russland im Rahmen von Rechtshilfeübereinkommen (§ 59 IRG). Was mit den Daten im Ausland geschieht, ist nicht kontrollierbar. Bei Abfragen zur Verfolgung von Straftaten ist eine richterliche Anordnung erforderlich (§ 100g StPO), aber auch hier überprüft der Richter nur das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen. Sind diese gegeben, muss er den Zugriff genehmigen. 

  • Nachrichtendienste dürfen ohne richterliche Genehmigung Verbindungsdaten abfragen (§ 8a BVerfSchG, § 10 MAD-G, § 8 Abs. 3a BND-G). Auf Vorrat gespeicherte Verbindungsdaten dürfen aufgrund des jetzt beschlossenen Gesetzes noch nicht an Nachrichtendienste übermittelt werden. Es bedarf dazu eines weiteren Gesetzes.
  • Zugriff auf die Identität von Telefon-, Handy-, E-Mail- und Internetnutzern (Name, Anschrift, Geburtsdatum) haben nach § 113 TKG 1.000 verschiedene Behörden (z.B. Polizei, Staatsanwaltschaft, Geheimdienste, Zoll, Behörden zur Bekämpfung von Schwarzarbeit). Schon die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten (z.B. Falschparken) werden Zugriffe in einem direkten Online-Abrufverfahren zugelassen (§ 112 TKG). In keinem dieser Fälle ist eine richterliche Anordnung erforderlich.
  • Auch die Film- und Musikindustrie und andere "Rechteinhaber" dürfen Auskunft über die Identität von Telefon-, Handy-, E-Mail- und Internetnutzern verlangen, etwa um die Benutzung von Tauschbörsen im Internet verfolgen zu können (§ 101 UrhG). Hier ist zwar eine richterliche Anordnung erforderlich, aber der Richter überprüft nur das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen. Sind diese gegeben, muss er den Zugriff genehmigen.
  • Eine Untersuchung über das Abhören von Telefonen hat im Übrigen gezeigt, dass das Erfordernis eines "richterlichen Beschlusses" keine wirksame Kontrolle gewährleistet: In sehr vielen Fällen wurde eine Blankoerlaubnis erteilt, ohne dass auch nur die eingereichten Schriftstücke näher begutachtet und bei Fehlen der rechtlichen Voraussetzungen Anträge abgelehnt wurden (Heise.de-Meldung). Der "richterliche Beschluss" konnte auch nicht verhindern, dass die Anzahl von Telefonüberwachungen seit Jahren immer weiter ansteigt - aufgrund einer Verwässerung der Voraussetzungen für Überwachungsmaßnahmen, nicht etwa aufgrund eines entsprechend starken Anstiegs der Verbrechensanzahl. Dass nur die Einrichtung der Überwachung, nicht aber deren weitere Durchführung der richterlichen Kontrolle unterliegt, wird dabei ebenfalls immer wieder von Datenschützern bemängelt (Heise.de-Meldung).

    Abgesehen davon zeigt nicht nur die Mautbrückendiskussion (Heise.de-Meldung), wie unsicher rechtlich geschützte Datensammlungen auf Dauer sind. Zugriffsbeschränkungen, die heute noch gesetzlich vorgesehen sind, können morgen schon durch Gesetzesänderungen verwässert oder aufgehoben werden. Dieser Mechanismus ist immer wieder zu beobachten. Beispielsweise war der Zugriff auf Bankkonten-Stammdaten ursprünglich nur zur Bekämpfung des Terrorismus eingeführt worden. Heute haben Finanzämter, Sozialämter und viele mehr Zugriff auf diese Daten.

    All diese Aspekte sind Grund genug, an der dauerhaften Sicherheit der Daten vor Missbrauch sowie dem Zugriff nichtstaatlicher Stellen zu zweifeln. Das Aushebeln gesetzlicher Schutzmechanismen (z.B. Mautzweckbindung), Gummiparagraphen (sehr unscharfe Gesetze), menschliches Versagen (z.B. fehlerhafte richterliche Kontrolle) und die fortschreitende Auslagerung von Staatsaufgaben an die private Wirtschaft (Datenzugriff von "Rechteinhabern") lassen kaum erwarten, dass gerade bei vorratsgespeicherten Daten mit besonderer Gewissenhaftigkeit vorgegangen wird.

    In einer ganzen Reihe von Fällen sind Telekommunikationsdaten in Deutschland (z.B. Telekom-Skandal ), Italien, Griechenland, Lettland, Bulgarien, der Slowakei und Ungarn missbraucht worden oder verloren gegangen. Telekommunikationsunternehmen wie die Deutsche Telekom oder Vodafone ist es immer wieder nicht gelungen, gespeicherte Verbindungsdaten zu schützen. Solche Daten wurden gestohlen, verkauft und missbraucht. Der Bundesdatenschutzbeauftragte stellte 2009 schwere Mängel bei der damaligen Vorratsdatenspeicherung fest: Der Zugriff auf die Daten war nicht nachvollziehbar, es wurden mehr Daten gespeichert als erlaubt (z.B. Standortdaten und E-Mail-Daten) und die Daten wurden nicht nach sechs Monaten gelöscht.


    "Deutschland ist verpflichtet, die europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung umzusetzen und wieder eine Vorratsdatenspeicherung einzuführen."

    Falsch. Deutschland muss und darf die europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung nicht umsetzen.

    Artikel 114 (4) AEUV gibt Deutschland das Recht, trotz der EG-Richtlinie das aktuelle Verbot der Vorratsdatenspeicherung (§ 96 Telekommunikationsgesetz) wegen wichtiger Erfordernisse des Grundrechtsschutzes beizubehalten. Die Bundesjustizministerin braucht der Europäischen Kommission nur die beibehaltenen Bestimmungen des deutschen Rechts zu melden und die Gründe für deren Beibehaltung mitzuteilen.

    Die EG-Richtlinie 2006/24 zur Vorratsdatenspeicherung ist wegen der Verletzung der 2009 in Kraft getretenen EU-Grundrechtecharta rechtswidrig. Der Europäische Gerichtshof wird auf Vorlage eines irischen Gerichts aus dem Jahr 2010 über die Rechtmäßigkeit der Richtlinie zu entscheiden haben.

    Die Europäische Menschenrechtskonvention, zu deren Einhaltung Deutschland verpflichtet ist, verbietet die Umsetzung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. Eine Vorratsdatenspeicherung verstößt gegen mehrere Artikel dieser Konvention. Dies hat der Rumänische Verfassungsgerichtshof bereits entschieden .

    Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ändert an dieser Rechtslage nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat nur über die Vereinbarkeit einer Vorratsdatenspeicherung mit dem deutschen Grundgesetz entschieden, nicht aber mit der EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention.

     

    "Durch die Vorratsdatenspeicherung werden Bürgerrechte nicht beschnitten."

    Diese Behauptung, die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) 2006 vor dem Deutschen Bundestag aufgestellt hat, ist falsch.

    Am schwersten wiegt die Verletzung des Fernmeldegeheimnisses: Ohne jeden Verdacht einer Straftat werden sensible Informationen über die sozialen Beziehungen (einschließlich Geschäftsbeziehungen), die Bewegungen und die individuelle Lebenssituation (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, Psychologen, Beratungsstellen) von über 80 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern gesammelt. Damit höhlt die Vorratsdatenspeicherung Anwalts-, Arzt-, Seelsorge-, Beratungs- und andere Berufsgeheimnisse aus und begünstigt Wirtschaftsspionage. Sie untergräbt den Schutz journalistischer Quellen und beschädigt damit die Pressefreiheit im Kern. Es werden Berge von Spuren und Beweismaterial gegen jeden gesammelt, ohne dass der geringste Verdacht gegen die Betreffenden vorliegt. Das steht in klarem Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention.

    Man vergleiche die Vorratsdatenspeicherung einmal mit dem Versenden von Briefen, bei denen man auf dem Umschlag nicht einmal den Absender angeben muss. Eine "Vorratsdatenspeicherung für Briefe" würde bedeuten, dass der Staat registrieren lässt, wer wem wann einen Brief geschickt hat. Eine "Vorratsdatenspeicherung für Gespräche" würde bedeuten, dass staatliche Spitzel überall mitschreiben, wer wann mit wem geredet hat. An diesen Beispielen wird deutlich, dass eine Vorratsdatenspeicherung der Stasi würdig ist, nicht aber einem demokratischen Rechtsstaat.


    "Laut Bundesverfassungsgericht ist die Vorratsdatenspeicherung mit den Grundrechten vereinbar."

    Falsch. Das Bundesverfassungsgericht hat sich nur zur Vereinbarkeit einer Vorratsdatenspeicherung mit den Grundrechten des Grundgesetzes geäußert, nicht aber mit den Grundrechten der Europäischen Menschenrechtskonvention und der EU-Grundrechtecharta. Mit den zuletzt genannten Grundrechtskatalogen ist eine Vorratsdatenspeicherung unvereinbar.

    Die Vorratsdatenspeicherung verletzt die 2009 in Kraft getretene EU-Grundrechtecharta. Der Europäische Gerichtshof wird darüber auf Vorlage eines irischen Gerichts aus dem Jahr 2010 zu entscheiden haben. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dazu nicht geäußert und ist dafür auch nicht zuständig.

    Die Europäische Menschenrechtskonvention, zu deren Einhaltung Deutschland verpflichtet ist, verbietet ebenfalls die Einführung einer Vorratsdatenspeicherung. Dies hat der Rumänische Verfassungsgerichtshof bereits entschieden. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht geäußert, sondern nur zu dem Grundgesetz.

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied im Jahr 2008, "dass die umfassende und wahllose Befugnis zur Speicherung von Fingerabdrücken, Zellproben und DNA-Profilen von verdächtigten, aber nicht verurteilten Personen [...] keinen gerechten Ausgleich zwischen den widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen trifft und der belangte Staat in dieser Hinsicht jeden akzeptablen Ermessensspielraum überschritten hat. Die umstrittene Speicherung begründet daher einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht der Beschwerdeführer auf Achtung des Privatlebens, der nicht als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft angesehen werden kann." Nichts anderes kann für die Vorratsdatenspeicherung gelten, die sogar die gesamte Bevölkerung treffen soll.

     

    "Vertrauensberufe wie Strafverteidiger, Seelsorger und Bundestagsabgeordnete werden von der Vorratsdatenspeicherung ausgenommen."

    Falsch. Auch Kontakte von und zu diesen Personen sowie deren Handy-Positionsdaten wurden auf Vorrat gespeichert. 

    Nur die Abfrage dieser Daten wurde den Strafverfolgern untersagt. Das Verbot galt aber erstens nur, wenn die Daten unter das Berufsgeheimnis fallen. Es galt zweitens nicht, wenn der Berufsgeheimnisträger selbst im Verdacht stand, an einer Straftat beteiligt zu sein. Drittens weiß die Polizei bei der Abfrage von Verbindungs- oder Bewegungsdaten oftmals nicht, ob der Betroffene oder seine Gesprächspartner Berufsgeheimnisträger sind. Das Erhebungsverbot ist also weitgehend wirkungslos. Viertens gilt die Zugriffsbeschränkung nur für Zugriffe der Strafverfolger, nicht aber für Nachrichtendienste und präventive Zugriffe von Polizeibehörden.

     

    "Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führt zu einem angemessenen Kompromiss."

    Richtig. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist nur noch die gezielte Überwachung Verdächtiger zulässig und nicht mehr eine Speicherung der Verbindungsdaten von Millionen völlig Unbeteiligter. Dieses Verfahren stellt einen angemessenen Kompromiss dar, der sich in vielen Staaten weltweit bewährt hat.

    Mit Urteil vom 2. März 2010 hat das Bundesverfassungsgericht die deutschen Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Vorratsdatenspeicherung verstoße in ihrer bisherigen Ausgestaltung gegen das Grundgesetz. Eine Vorratsdatenspeicherung könne allerdings ohne Verstoß gegen das Grundgesetz wieder eingeführt werden, wenn die Daten sicherer gespeichert würden, wenn sie nur unter höheren Voraussetzungen an den Staat weiter geleitet würden und wenn Vertrauensbeziehungen besonders geschützt würden. Auch eine solche "Vorratsdatenspeicherung 2.0" wäre indes inakzeptabel: Im Zuge einer solchen Vorratsdatenspeicherung würden wieder ohne jeden Verdacht einer Straftat sensible Informationen über die sozialen Beziehungen (einschließlich Geschäftsbeziehungen), die Bewegungen und die individuelle Lebenssituation (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, Betriebsräten, Psychologen, Beratungsstellen) von über 80 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern gesammelt. Damit höhlte die Vorratsdatenspeicherung Anwalts-, Arzt-, Seelsorge-, Beratungs- und andere Berufsgeheimnisse aus und begünstigte Datenpannen und -missbrauch. Sie würde den Schutz journalistischer Quellen untergraben und damit die Pressefreiheit im Kern beschädigen. Sie beeinträchtigte insgesamt die Funktionsbedingungen unseres freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens.

     

    "Quick Freeze läuft ohne Vorratsdatenspeicherung leer. Was nicht gespeichert ist, kann auch nicht eingefroren werden."

    Falsch. Ein Verfahren zur schnellen Sicherung von Verkehrsdaten ("Quick Freeze") setzt keine Vorratsdatenspeicherung voraus.

    Eine Aufbewahrungsanordnung ermöglicht es Ermittlern, vorhandene Verkehrsdaten im Verdachtsfall sichern zu lassen, die andernfalls möglicherweise gelöscht würden. Herausgegeben werden die "eingefrorenen" Daten an die Ermittlungsbehörde erst, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen dafür vorliegen. Beispielsweise kann eine richterliche Genehmigung gefordert werden.

    Eine Aufbewahrungsanordnung ist erstens während der Dauer der jeweiligen Verbindung möglich. Während einer laufenden Verbindung kann eine Rückverfolgung auch ohne Vorratsdatenspeicherung erfolgen. Da pauschal tarifierte Internetverbindungen typischerweise lange aufrecht erhalten werden, kann eine schnelle Identifizierung im Internet sogar leichter möglich sein als bei sonstigen Straftaten. Lange nach Begehung eines Internetdelikts kann der Täter noch festgestellt werden, wo er sonst den Tatort schon lange verlassen hätte.

    Eine Aufbewahrungsanordnung ist zweitens auch nach Verbindungsende möglich, wo Verkehrsdaten aus betrieblichen Gründen, insbesondere zu Abrechnungszwecken, ohnehin gespeichert werden. Dies erfolgt in Deutschland bis zu sechs Monate lang.

    Richtig ist, dass nicht gespeicherte Verbindungsdaten nicht an den Staat herausgegeben oder für diesen "eingefroren" werden können. Dies ist indes kein Nachteil, sondern unabdingbare Voraussetzung für die Gewährleistung der Vertraulichkeit und Unbefangenheit der Kommunikation von zu 99,9% vollkommen unbescholtener Menschen.

     

    "Das Bundesverfassungsgericht hat Quick Freeze als Alternative zur Vorratsdatenspeicherung verworfen."

    Falsch. Das Bundesverfassungsgericht hat Quick Freeze als Alternative zur Vorratsdatenspeicherung keineswegs verworfen.

    Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, der Gesetzgeber dürfe nach dem Grundgesetz eine sechsmonatige Speicherung aller Telekommunikationsverkehrsdaten als erforderlich beurteilen, weil eine gezielte Aufbewahrung nicht in jedem Einzelfall so wirksam sei wie eine globale und pauschale Vorratsdatenspeicherung. Die verfassungsrechtliche Hürde der "Erforderlichkeit" ist allerdings äußerst niedrig: Schon eine einzige Bagatellstraftat, die nur durch Vorratsdatenspeicherung aufzuklären ist, verhilft der radikalen Vorratsdatenspeicherung über die Erforderlichkeitshürde, selbst wenn insgesamt betrachtet ohne Vorratsdatenspeicherung sogar mehr Straftaten aufgeklärt werden können, wie es im Bereich der Internetkriminalität der Fall war.

    Für die politische Debatte über die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit einer globalen und pauschalen Vorratsdatenspeicherung kann das minimale verfassungsrechtliche Erforderlichkeitsgebot nicht maßgeblich sein. Politisch ist vielmehr entscheidend, dass im Internet keine rechtsfreien Räume entstehen und Internetdelikte ebenso wirksam aufgeklärt werden können wie außerhalb des Internet begangene Delikte. Dies ist, wie oben erläutert, auch ohne Vorratsdatenspeicherung gewährleistet.

     

    "Eine ein- oder zweiwöchige Vorratsdatenspeicherung ('Quick Freeze Plus') wäre ein angemessener Kompromiss."

    Falsch. Eine kürzere Speicherdauer würde nichts an den fatalen Wirkungen jeder allgemeinen und unterschiedslosen Totaldatenspeicherung ändern:

    Jede allgemeine Verbindungsdatenaufzeichnung setzt vertrauliche Tätigkeiten und Kontakte etwa zu Journalisten, Beratungsstellen oder Geschäftspartnern dem ständigen Risiko eines Bekanntwerdens durch Datenpannen und -missbrauch aus. Daneben schafft die Aufzeichnung von Verbindungsdaten das permanente Risiko, unschuldig einer Straftat verdächtigt, einer Wohnungsdurchsuchung oder Vernehmung unterzogen oder abgemahnt zu werden, denn Verbindungsdaten lassen nur auf den Inhaber eines Anschlusses rückschließen und nicht auf dessen Benutzer.

    Das ständige Risiko von Nachteilen infolge von Kommunikationsprotokollen entfaltet eine enorme Abschreckungswirkung und vereitelt eine unbefangene Telefon- und Internetnutzung in sensiblen Situationen (z.B. anonyme Information von Journalisten, anonyme Meinungsäußerung im Internet, vertraulicher Austausch von Geschäftsgeheimnissen, vertrauliche Koordinierung politischer Proteste, psychologische, medizinische und juristische Beratung und Selbsthilfegruppen von Menschen in besonderen Situationen wie Notlagen und Krankheiten). Wenn gefährliche oder gefährdete Menschen nicht mehr ohne Furcht vor Nachteilen Hilfe suchen können, verhindert dies eine sinnvolle Prävention und kann sogar Leib und Leben Unschuldiger gefährden.

    Die Zulassung einer Vorratsdatenspeicherung wäre ein Dammbruch auf dem Weg in die Überwachungsgesellschaft. Die globale Speicherung von Daten allein für eine mögliche künftige staatliche Verwendung würde allmählich alle Lebensbereiche erfassen, denn die vorsorgliche Protokollierung personenbezogener Daten ist für den Staat stets und in allen Bereichen nützlich. Wenn dem Staat die permanente Aufzeichnung des Verhaltens sämtlicher seiner Bürger ohne Anlass gestattet würde, würden schrittweise sämtliche Lebensbereiche in einer Weise registriert werden, wie es selbst unter früheren totalitären Regimes wie der DDR undenkbar war.

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